Zum ersten Mal seit einer langen Zeit war Tom sprachlos. Er wollte wütend auf Hermine sein, er wollte ihr sagen, dass sie mit ihren Annahmen über Salazar Slytherin vollkommen daneben lag und kein Recht hatte, schlecht über den Gründer ihres Hauses zu sprechen. Doch ihre Frage am Ende hatte ihn vollkommen aus der Bahn geworfen. Warum hatte Slytherin nicht selbst damals alles daran gesetzt, die Muggel zu unterwerfen und die Zauberer zu den Herrschern der Welt zu machen? Was aber beinahe noch wichtiger war: Meinte sie ihre Frage tatsächlich nur als Frage oder war es ein Vorschlag?
„Der einzige Grund, warum Slytherin sich damals einfach zurückgezogen hat, kann doch nur darin liegen, dass er die Muggel nicht unterwerfen wollte“, fuhr Hermine fort, während Tom noch tief in Gedanken versunken war.
Er umschloss ihre Handgelenke mit seinen Händen und zwang sie, den Körperkontakt zu unterbrechen. Ihre Nähe war ihm merkwürdig unangenehm in diesem Moment. Finster starrte er sie an: „Wie kannst du es wagen, Slytherin als Muggelfreund darzustellen?“
Für einen Augenblick hatte er tatsächlich gedacht, dass sie genauso dachte wie er selbst, dass sie mit ihrer Frage tatsächlich vorschlagen wollte, dass die Muggel unterworfen werden sollten. Doch ihre folgenden Worte hatten ihn auf den Boden der Realität zurückgeholt. Egal, wie intelligent Hermine war, ihr Horizont war am Ende ebenso beschränkt wie der aller anderen Menschen. Die Idee, die Welt zu verändern, kam ihr offensichtlich nicht einmal in den Sinn.
Hermine hatte sein Unwohlsein offensichtlich verstanden, denn sie trat einen Schritt von ihm weg: „Du verstehst nicht, was ich sagen will, Tom! Hör auf, so blind vor Hass zu sein! Du bist nicht der einzige hier, der die ganze Welt im Blick hat.“
Langsam schloss Tom die Augen. Er wusste nicht, ob Hermine ihn absichtlich provozieren wollte oder ob sie wirklich nicht begriff, wie arrogant und eingebildet sie gerade daherkam. Für einige Sekunden konzentrierte er sich einfach auf das Rauschen des Windes in den Bäumen und das leise Geräusch des Seewassers, das gegen das Schilf brandete. Seine Wut kehrte zurück und er wusste, er hatte allen Grund, sie jetzt und hier spüren zu lassen, dass sie anmaßend war. Doch zuerst musste er ihr zeigen, dass sie keine Ahnung von Slytherin hatte.
„Hermine, Liebes“, erwiderte er in seinem sanftesten Tonfall: „Es gibt Dinge, die du nicht weißt. Dinge über mich. Dinge, die mir Einblicke ermöglichen, die dir verborgen bleiben.“
Ein verächtliches Schnauben erklang: „Ist das wieder dein Gerede von deinem wertvollen Blut? Ehrlich, Tom, werd‘ erwachsen. Was denkst du, wer du bist? Slytherins Erbe?“
Genug war genug. Sie hatte eine Grenze überschritten und das würde er sie spüren lassen. Mit einer fließenden Bewegung zog er seinen Zauberstab und richtete ihn auf Hermine: „Pass auf, was du sagst, mein Herz. Du willst mich nicht provozieren, glaub mir.“
Zu seiner Überraschung blieb Hermine jedoch vollkommen ruhig. Als hätte er keinen Stab direkt zwischen ihre Augen gerichtet, verschränkte sie die Arme vor der Brust und legte den Kopf schräg: „Ich habe gar nicht vor, dich zu provozieren. Es ist ganz einfach. Ich weiß, dass Salazar Slytherin Muggel gehasst hat und Muggelgeborenen nicht vertraut hat. Ich weiß aber auch, dass er nie vorhatte, der Welt von der Existenz von Magie zu erzählen. Erklär mir einfach, wieso du der Meinung bist, mehr zu wissen als ich, und alles ist gut.“
Sie bettelte förmlich darum. Er musste an sich halten, nicht laut zu lachen. Sie wusste überhaupt nichts und dachte, sie wüsste alles. Schön. Sie wollte es so, sie konnte es haben. Er holte sein freundlichstes Lächeln hervor: „Du willst es wirklich wissen? Wenn ich dir das erzähle, kann ich dich nie wieder gehen lassen, verstehst du?“
Langsam ließ er seinen Stab sinken, während Hermine wieder nur schnauben konnte: „Tom, wir haben zusammen ein Mädchen vergewaltigt, falls du dich erinnerst? Wir sind sowieso schon auf immer aneinander gekettet, ob ich das will oder nicht. Du wirst mich nie wieder los.“
Schmunzelnd steckte er seinen Zauberstab endgültig weg: „Ich freue mich, dass du das so siehst, mein Herz. Komm, wir gehen gemeinsam in die Bibliothek, dann zeig ich dir was … Interessantes.“
Einem Impuls folgend streckte er ihr die Hand entgegen und ohne zu zögern ergriff Hermine sie. Es war ein merkwürdiges Gefühl, die Hand eines Mädchens zu halten, während er an ihrer Seite am See entlang ging. So wütend er vor einer Minute noch auf Hermine gewesen war, so friedlich fühlte er sich jetzt. Die Tatsache, dass sie endlich zugegeben hatte, auf immer ihm zu gehören, gab ihm ein friedliches Gefühl. Es war anstrengend, allen Menschen immer das Gefühl zu geben, sie wären ihm ebenbürtig und irgendwie wichtig. Dass ausgerechnet Hermine als erste einsah, dass sie nicht mehr als ein Teil seines Eigentums war, war erstaunlich. Und es fühlte sich wirklich, wirklich gut an.
oOoOoOo
Mit einem gezielten Griff holte Tom ein Buch aus der Geschichtsabteilung der Bibliothek. Es war eines der ersten Bücher gewesen, die er je in Hogwarts gelesen hatte, und er war bis zum heutigen Tag froh, dass er es so früh entdeckt hatte. Es war ihm schwer gefallen zu akzeptieren, dass er seine magischen Fähigkeiten von seiner Mutter geerbt hatte, immerhin war sie zu schwach gewesen, sich vor einem jämmerlichen Tod zu schützen. Aber dieses Buch, diese Genealogie der bedeutendsten magischen Familien, hatte ihm alles verraten, was er wissen musste.
Er schlug das Buch auf der Seite auf, die er schon so oft im Geheimen angeschaut hatte, und schob es Hermine über den Tisch hin, an dem sie beide saßen.
„Hier“, er tippte auf den Namen von Marvolo Gaunt: „Das ist mein Großvater. Meine Mutter ist Merope Gaunt, aber das Buch wurde geschrieben, ehe sie geboren war, deswegen stehen nur mein Großvater und mein Onkel, Morfin Gaunt, hier.“
Er lehnte sich zurück, die Arme vor der Brust verschränkt, und wartete darauf, dass Hermine die Linie der Gaunts korrekt zurückverfolgte. Er sah, wie ihr Finger hochwanderte, wie ihr Blick plötzlich hektisch wurde und sie begann, zwischen den Seiten hin und her zu blättern. Er unterdrückte ein Grinsen, als er die Seite mit dem Namen von Salazar Slytherin aufgeschlagen sah, doch augenblicklich schwand das Grinsen. Hermine hatte definitiv den Namen gelesen, doch sie hatte nicht einmal gezuckt. Angespannt beugte er sich wieder vor, um besser verfolgen zu können, warum sie immer noch weiter blätterte. Sie hielt schließlich inne, als sie die Seite mit dem Namen Cadmus Peverell aufschlug. Ihre Augen waren kugelrund, ihr Gesicht leichenblass und ihre Hände zitterten.
„Was ist los, mein Herz?“, fragte Tom augenblicklich: „Du siehst blass aus.“
Es war offensichtlich, dass Hermine mit ihren Worten kämpfen musste, ehe sie schließlich mühsam hervorbrachte: „Deine Ahnen sind … beeindruckend. Wer hätte das gedacht. Das jemand mit … mit deinem Blut in einem Muggel-Waisenhaus aufwachsen musste …“
Misstrauisch kniff Tom die Augen zusammen. Das war alles? Ihre Reaktion auf Peverells Namen verwunderte ihn. Wenn sie auf Slytherin so reagiert hätte, hätte er es verstanden, er hatte das ja sogar erwartet, doch davon schien sie unbeeindruckt. Was also war an Cadmus Peverell so wichtig? Er legte den Kopf schräg und wartete, während Hermine den Artikel im Buch las. Am Ende angekommen atmete sie hörbar aus.
„Du bist also ein Nachfahre von Salazar Slytherin und von Cadmus Peverell?“
Bedächtig legte Tom seine Arme auf dem Tisch ab. Es ergab immer noch keinen Sinn, warum sie so an den Peverells interessiert war, die immerhin keinerlei Bedeutung innerhalb der magischen Gemeinschaft hatten, doch für den Augenblick nickte er nur: „Ja. Ich bin der Erbe Slytherins, sein einziger lebender Nachfahre.“
Ein kurzes Grinsen huschte über Hermines Lippen: „Kein Wunder, dass du so empfindlich reagiert hast, als ich so besserwisserisch über ihn geredet habe.“
„Und Peverell? Warum bist du so interessiert an dem?“
Sie wurde wieder blass. Warum hatte er das Gefühl, als würde sie irgendetwas vor ihm geheim halten? Warum hatte er das Gefühl, sie hätte Angst, darüber zu reden? Die Art, wie sie sich mit ihren Händen über die Oberarme strich und den Blick überall hin wandern ließ nur nicht zu ihm, sprach eine deutliche Sprache. Ungeduldig hakte er erneut nach: „Hermine? Liebste? Was ist mit Peverell?“
Hermine musste ein Zittern unterdrücken. Sie wusste, ihre Reaktion hatte sie verraten und Tom würde nicht eher ruhen, bis sie ihm die Wahrheit erzählte. Doch sie durfte es nicht, das wusste sie. Tom Riddle hatte keine Ahnung, dass Gaunts Ring ein Heiligtum war, er wusste nicht, dass seine Vorfahren, die drei Peverell-Brüder, die Helden eines alten Märchens waren, das sich tatsächlich als wahr herausgestellt hatte. Sie hatte Harry so lange verurteilt für seine Fixierung auf die Peverells und die Heiligtümer des Todes, nur um am Ende festzustellen, dass sie echt waren. Gaunts Ring, das Familienerbtum von Toms Mutter, war der Stein der Auferstehung, das Heiligtum, das Cadmus Peverell vom Tod erhalten hatte. Sie hatte bis zum heutigen Tag nicht gewusst, dass Tom Riddle ein Nachfahre von Cadmus Peverell war, doch jetzt, wo sie es sah, fragte sie sich, wie ihr der Zusammenhang je hatte entgehen können.
Doch was sie wirklich aus der Bahn geworfen hatte, war, dass auch Harry ein Nachfahre der Peverells war, von Ignotus Peverell, jenem Bruder, der den perfekten Tarnumhang erhalten hatte.
Tom Riddle und Harry Potter waren tatsächlich verwandt.
Ihr schauderte. Eigentlich war es gar nicht so überraschend, alle alten Zaubererfamilien waren irgendwo miteinander verwandt. Und doch. Es fiel ihr schwer, diese Wahrheit zu akzeptieren.
„Ich … Peverell ist gar nicht interessant“, sagte sie schließlich langsam: „Also … nicht Peverell selbst. Ich war nur sehr überrascht, dass … ich habe einen Freund, der auch von den Peverells abstammt. Die Welt ist klein.“
Toms Blick blieb misstrauisch: „Das ist alles?“
Hermine verfluchte sich innerlich. Sie hatte es so gut geschafft, sich Tom gegenüber selbstbewusst zu zeigen, hatte ihn sogar dazu gebracht, seine Abstammung von Slytherin zuzugeben – und nun war sie schon wieder an einem Punkt angelangt, wo er ihr misstraute, weil sie es nicht geschafft hatte, ihre Emotionen zu zügeln. Sie zwang sich, das Zittern ihrer Hände abzustellen, und blickte Tom direkt in die Augen: „Die Erinnerung an jenen Freund ist nicht angenehm. Der Name Peverell brachte augenblicklich so viele schlechte Gefühle mit sich. Aber viel wichtiger ist doch, dass du Slytherins Erbe bist! Lass uns lieber darüber reden!“
„Du willst das Thema wechseln“, sagte Tom streng, während er ihre beiden Hände ergriff. Sie schluckte. Ihr war klar, dass sie unter keinen Umständen etwas über die Heiligtümer sagen durfte, schon alleine, weil das den Lauf der Zeit definitiv ändern würde. Wenn Tom bereits jetzt wüsste, dass es drei Gegenstände gibt, die ihm helfen könnten, dem Tod zu entrinnen, würde er alles daran setze, sie in seinen Besitz zu bringen.
„Nicht immer steckt überall mehr dahinter, Tom“, erwiderte sie schließlich mit so viel Ungeduld in ihrer Stimme, wie sie aufbringen konnte: „Jedes Mal, wenn ich irgendwie anders reagiere, als du erwartet hättest, unterstellst du mir, ich hätte Geheimnisse vor dir. Dieses Mal ist da aber wirklich nicht mehr als … die Erinnerung an einen niederträchtigen Mitschüler und seinen noch viel schlimmeren Vater.“
Hermine hoffte, dass ihre Lüge glaubhaft wirkte, wenn sie zumindest an reale Personen dachte, auch wenn diese nichts mit der Situation zu tun hatten. Sollte Tom nachfragen, könnte sie zumindest ohne Probleme endlose Geschichten von Draco und Lucius Malfoy erzählen, ohne sich etwas ausdenken zu müssen, was ihr später zum Verhängnis werden würde. Sie war einfach nicht zum freien Lügen geschaffen.
„Interessierst du dich für ältere Männer, mh?“, kam es spöttisch von Tom, der noch immer ihre Hände festhielt.
Bei dem Gedanken an Lucius Malfoy musste Hermine sich unwillkürlich angeekelt schüttelt: „Ganz sicher nicht. Aber ich habe in meinem Leben noch nie einen Mann gesehen, der seinen Sohn so sehr unter Druck setzt, ein hinterhältiger Idiot zu sein.“
„Slytherin schätzt Menschen, die ihren Verstand einsetzen, um Vorteile zu erringen – egal, in welcher Art“, entgegnete Tom mit erhobener Augenbraue: „Warum stellst du das immer so schlecht dar? Du bist doch selbst in diesem Haus.“
„Ich habe nichts gegen Menschen, die ihren Verstand nutzen“, schoss Hermine heftig zurück, während sie ihm gleichzeitig ihre Hände entriss: „Aber ein winselndes Wiesel zu sein, das immer gleich losheult, nur weil jemand anderes besser ist und Lob bekommt, ist erbärmlich. Ich meine, ganz ehrlich. Ein guter Freund von mir … drüben in Amerika … war ein guter Quidditch-Spieler und ist schon in seinem ersten Jahr in die Mannschaft aufgenommen worden. Das konnte besagter Junge nicht auf sich sitzen lassen und dann hat sein Vater der Mannschaft neue Besen spendiert, woraufhin er auch in die Mannschaft kam. Ich meine, wie tief kann man sinken? Wo ist da der Stolz, aus eigener Kraft und mit einem Können seinen rechtmäßigen Platz zu verdienen?“
Ein Grinsen trat auf Toms Gesicht: „Das scheint dich ja richtig mitgenommen zu haben. Ich hätte nicht erwartet, dass du dich so sehr für Sport interessierst.“
Hermine errötete. Es war wirklich erstaunlich, wie leicht sie sich beim Thema Draco Malfoy in Rage reden konnte. Andererseits war der Vorfall damals im zweiten Jahr auch das erste Mal gewesen, dass er sie Schlammblut genannt hatte. Sie würde den Augenblick niemals in ihrem Leben vergessen. Angestrengt schüttelte sie den Kopf: „Es geht ums Prinzip. Wie dem auch sei, können wir bitte nicht über diesen Menschen reden?“
Zu ihrem Erstaunen nickte Tom: „Für mich klingt es ja eher so, als hätte besagter Gentleman dir das Herz gebrochen, doch da ich selbst ein wohlerzogener, anständiger Mann bin, werde ich dich nicht weiter in Bedrängnis bringen. Nur eines, Hermine …“
Er beendete den Satz nicht sofort, sondern beugte sich stattdessen weit über den Tisch zu ihr rüber, um ihr mit einer Hand durch die Lockenmähne fahren zu können: „Jede deiner Lügen fliegt irgendwann auf. Und glaube mir, sollte ich jemals mitbekommen, dass du auch dieses Mal etwas vor mir verschwiegen hast, wirst du das bereuen.“
Es war beinahe zum Lachen, dass Tom ihr im Scherz unterstellte, sich für Draco oder Lucius Malfoy zu interessieren – was mehr als abstoßend war –, während sie tatsächlich mit dem Großvater, Abraxas, eine echte Freundschaft hatte. Und sie glaubte ihm sofort, dass er ihr weitere Lügen nicht verzeihen würde. Sie lächelte schwach: „Ich kenne dich gut genug, um das zu wissen, ohne dass du es mir sagst.“
Er erwiderte ihr Lächeln: „In der Tat.“
Für einen Moment fürchtete Hermine, dass Toms Laune wie so oft einfach umschwingen würde, dass seine Hand an ihren Haaren reißen und sein warmes Lächeln tödlich werden würde, doch nichts dergleichen geschah. Er saß einfach auf seinem Stuhl, die Hand in ihren Haaren, während sein Daume sanft über ihre Wange streichelte, und schaute sie mit einem beinahe zärtlichen Blick an. Unwillkürlich lehnte sich Hermine in seine Berührung. Was auch immer dieses Verhalten ausgelöst hatte, sie kannte ihn inzwischen gut genug, um einschätzen zu können, dass sein Lächeln nicht aufgesetzt war. Für einen Moment brachte er ihr aufrichtige Zärtlichkeit entgegen.