Aus Demut in den Kampf,
zu Ehre in den Tod,
zum Ruhme des Gottes,
vom Donner und vom Ozean.
Erstes Kapitel
Von Gunthir dem Späher
Die Bucht war beherrscht vom schrillen Geschrei der Möwen und vom salzigen Geruch des Meeres. Klare Bäche rannen ringsum von steilen Hängen herab und nährten einen Urwald aus Fichten, Kiefern und Birken.
Bärtige Männer standen in Lumpen und Fellen gekleidet hoch oben auf den Klippen und starrten angsterfüllt auf den Ozean hinaus.
Erst war dort nicht mehr zu erkennen als eine rote Morgensonne und hohe Wellen, doch dann erschien langsam ein Banner, ein Segel, ein Schiff. Dann hunderte Schiffe und tausende. Mehr und mehr und mehr, bis der Horizont sich schwarz färbte.
Korahan, Korahan …
Gleichmäßig und dumpf wie ein Trommelschlag.
Korahan, Korahan …
Ein Mann aus Stahl und Flammen führte sie an.
"Korahan, Korahan …", riefen seine Männer wie aus einem Munde.
Augen wie aus Silber, Haar wie aus Gold.
Korahan, Korahan …
Eine Welle krachte gegen sein Schiff. Das Wasser fegte über das Deck, das Holz knarrte und ächzte. Fast wäre es gekentert, die Männer aber lachten nur.
Nebel erschien aus dem Nichts – unnatürlich, böse und dicht. Die Sonne verschwamm zu einem blassen Schein und die Schiffe verschwanden in weißer Leere.
Da loderte ein Feuer auf.
Korahan, Korahan …
Seine Hände brannten. Er wischte den Nebel weg wie verstreuten Hafer.
Er sprang über die Planken und landete im seichten Wasser des Strandes. Die Wellen umschlangen seine Beine und verdampften.
Die Brandung toste zornig gegen die felsigen Klippen und dennoch trug der Wind den Klang seiner Männer Stimmen unbeirrt herbei.
"Korahan", riefen sie durchdringend, "Korahan de Goliah!"
Wütend stürzten die Bäche hinab in die Bucht. Ihre Wasser vermehrten sich, sprudelten aus dem Fels, als würden die Hänge überquellen. Alle strebten sie auf Korahan zu und doch erreichte kein Tropfen die Sohlen seiner stahlbewehrten Stiefel. Selbst der Dampf verflüchtigte sich rasch in seiner Nähe.
Er kniete sich an das Ufer und rammte sein rotgoldenes Banner in den Sand.
"Atleux, colonie royal de Golat!", rief er hinaus zu seiner Armada.
"Korahan, Korahan …" gab sie zurück.
Die Erde bebte. Hitze! Mit einem grellen Blitz verwandelten sich die Bäume und Sträucher des uralten Waldes zu Asche und Staub.
Gunthir erwachte.
Der süßliche, stechende Geruch von Harz beherrschte seine Sinne vollkommen. Nur langsam erkämpfte sich das Geräusch mühsamer, stockender Atmung seine Aufmerksamkeit. Er war noch außerstande zu bestimmen, ob es ihm selbst entstammte. So riss er seine Augen auf. Er spürte, dass sie geöffnet waren, doch sah er nichts. Und dieses Geräusch, dieses schmerzhaft klägliche Geräusch … Es drohte ihm den Verstand zu rauben.
Er bemühte sich nun noch mehr, etwas zu erkennen. Alles war in Dunkelheit getaucht. Er musste wohl auf dem Boden liegen, denn über ihm erschienen die Äste einer Birke, deren letztes Herbstlaub im Mondlicht tanzte. Er atmete tief durch und sah, wie sein Atem zu einer Wolke gefror und langsam verblasste. Sein Verstand klärte sich.
Gunthir begann nachzudenken. Er wollte sich ins Bewusstsein rufen, was ihm nur widerfahren war und was ihn schließlich in diese jämmerliche Lage gebracht hatte.
Ein Ort kam ihm in den Sinn - ja, Horns Bucht! Korahan … dieser Name, dieser gottverdammte Name … dieser elende Frevel.
Korahan, Korahan, Korahan … Genug!
Gunthir verdrängte diese Gedanken wieder. Er bemerkte eine Träne, die über seine Wange gelaufen war und nun im Gestrüpp seines geflochtenen Bartes versickerte.
Er wollte sie fortwischen, jedoch konnte er seine Arme nicht rühren. Er hing im Unterholz fest. Nein, vielmehr war er mit massiver Gewalt in den Boden und das Wurzelwerk hineingerammt worden.
Als er sich seiner Lage nun vollends gewahr wurde, trat sein Körper mit einem Mal aus den Schatten seines Unterbewusstseins und entbrannte in fürchterlichem, pulsierendem Schmerz. Muskeln wie Knochen - alles schien gleichermaßen zerschlagen. Auch spürte er unzählige, trockene Fichtennadeln, welche sich in seinen Nacken und seine Hand bohrten.
Da, wieder dieses Geräusch …
Er drehte seinen Kopf ein Stück weit, um sich umzusehen. Es war so finster … Aber dieser Ort war nicht die Bucht Horns, denn er konnte das Rauschen der Brandung nicht hören. Er musste bereits weit in den Aska geritten sein, ehe ihn einholte, was auch immer ihn hier niedergestreckt hatte.
Der Späher begann zu zittern. Dieser Umstand beunruhigte ihn, da er nicht wusste, wie lange er dieser Kälte bereits so offen ausgesetzt war. Überdies verbreitete der Gedanke, dass er nicht in der Lage schien, sich zu befreien, einen Funken von Todesangst.
Doch ebendieser Frost zerstreute seine Ängste wieder, indem er ihm die Erinnerungen zurückbrachte. Die Erinnerungen an die Kälte der letzten Tage, an die eisigen Herbstwinde, an die Erschöpfung und den grabenden Hunger.
Ja, er hatte Hilfe holen wollen. Er war weit und schnell geritten. Er hatte sein Pferd mit Magie und Sporen vorangetrieben, als gäbe es kein Morgen. Und er hatte sich jede Rast versagt. Tagelang war er im Sattel geblieben. Von der Bucht im Südosten her in Panik, vorbei an Heldenruh, der Stadt der Tauschhändler, in Hunger und Durst, über die Ausläufer der Sonnensplitter in Skurs eisigem Odem, durch den Askawald müde und erschöpft bis auf das Letzte.
Er musste fast zu Hause sein.
Er zerrte an seinem rechten Arm, wie an einer Klinge, festgeschlagen in ehernem Rüstzeug. Endlich konnte er ihn befreien. Er krümmte sich vor den Schmerzen, welche seinen Körper nun neuerlich durchfuhren. Schnell aber hatte Gunthir sich wieder gefangen. Er biss die Zähne zusammen, hielt seinen Arm in einen matten Strahl des Mondscheins, der über ihn hinwegstrich, und besah ihn. Die beschlagene Lederarmschiene war zerfetzt und hing nur noch an einem Riemen. Gunthir nahm den anderen in den Mund und riss die Armschiene mit einem Ruck ab.
Wieder dieser pochende Schmerz.
„Horn steh mir bei“, flüsterte er.
Er sah sein warmes Blut aus einem langen und dreckigen Riss austreten, wie es langsam hinab zu seinem Ellenbogen rann und dabei erkaltete. Er legte seinen Arm behutsam auf seinen Bauch und atmete durch.
Einmal noch durchforschte Gunthir sein Gedächtnis. Hatte ihn etwas oder jemand angegriffen? Hatten ihn die Lakaien Korahans nun doch gefasst? Er wusste, er hätte sein Leben teuer verkauft! Aber er war doch geritten?
Dieses Geräusch, dieses Atmen …
„Balros! Balros, alter Freund, komm her zu mir!“, rief er besorgt, doch hörte er keine Reaktion von seinem Rappen. Nur dieses schwere Atmen war noch da. Zwar viel leiser als zuvor, doch noch immer wahrnehmbar.
„Balros, bist Du das, mein Freund?“
Er hatte den Pfad verlassen, um sich einiges an Weg zu ersparen. Zu sehr hatte er das Tier angespornt. Zu schnell, viel zu schnell war er durch den nächtlichen Wald geritten. Er war wie von Sinnen durch die Schandtaten der Festländer und hatte nun seinerseits sein Pferd bis in den Wahnsinn angespornt. Sie mussten gestürzt sein!
Es war sein treuer Rappe, der dort litt in der Dunkelheit. Gunthir wälzte sich mühsam auf den Bauch und befreite sich. An den Überresten eines jungen Nadelbaumes zog er sich auf die Beine. Seine scharfen Späheraugen durchbohrten die Finsternis, auf der Suche nach dem Tier, das ihm ein Freund war. Das Geräusch aber war verklungen.
Mühsam wankte Gunthir durch das Gebüsch. Wenn auch das Mondlicht den Waldboden mit bläulichen Flecken betupfte, so war es doch nicht hell genug, um weiter als ein paar Schritte zu sehen. Schließlich aber fand er das Pferd. Er berührte die Stirn des Tieres sanft mit seiner Hand und erkannte, dass es gestorben war. Er fiel auf die Knie.
„Verflucht sei Korahan und seine Sippe“, flüsterte er Balros zu. Aber auch ein paar Worte des Trostes in einem alten, enelischen Dialekt, den einzig die Waldläufer noch gebrauchten. Allzu sehr konnte er die Festländer nicht verteufeln, denn sein Herz sagte ihm, dass der Tod des Tieres vor allem sein Verschulden war.
Ein Gefühl von Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit schlich sich in Gunthirs trauerndes Herz. Dazu kam die Kälte, die ihm der eisige Nordwind vermittelte. Seine Hand ruhte noch immer auf der Flanke des toten Balros. Die Wärme des Tieres brachte Gunthir dazu seine Hand tiefer in das Fell zu graben, bis er sich besann und dafür schämte.
Er wollte tief Luft holen, stoppte aber abrupt, als die Kälte ihm die Kehle zuschnürte, wie der Strick eines golatesischen Henkers.
Er spürte mehr und mehr, wie sie ihm zusetzte. Seine Glieder waren bereits völlig steif. So zog er ein dickes, weiß-graues Wolfsfell aus der Satteltasche und warf es über.
Mit einem Griff unter seine Felle und einem beherzten Ruck riss er ein Stück seines Unterhemdes heraus und band es sich anschließend um seine Wunde. Dann betrachtete er die Schneise in der Böschung, die er eben auf Balros' Rücken herabgestürzt war.
Nicht lange verharrte er so. Eine Stimme drängte ihn. Eine Stimme so tief und gebieterisch, so von Zorn erfüllt, dass kein Sterblicher je hätte ihr Ursprung sein können.
„Voran!“, befahl sie, „jede Sekunde ist kostbar. Jede Stunde wird ein neues Gemäuer errichtet im Fjord des nassen Gottes. Tag um Tag …“
Daraufhin wandte er sich von Balros ab und marschierte los. Gehorsam. Stundenlang taumelte er durch den enelischen Wald und fand immer neue Kraftreserven, wohl wissend, dass er fast am Ziel war. Er gestand sich kein Versagen zu. Wenn es hätte sein müssen, so wäre auch er, wie sein Pferd, bis zu den Fingerspitzen des Todes gieriger Hand weitergelaufen, nur um dem dann trotzend die Stirn zu bieten.
Skur, der Windgott, war mit ihm in dieser Nacht. Mein selbstgerechter Bruder ließ sich niemals nehmen, seinen Edelmut zu beweisen. Und so drehte der Wind und blies warme Luft aus dem Süden herbei. Aus weiter Ferne war sie gekommen, von den Bergen, die man Sonnensplitter nannte, da sie die Hitze der Mione in sich trugen.
Gunthir warf einen kurzen Blick nach Süden. Obwohl er die Wärme genoss, spürte er, dass etwas nicht in Ordnung war. Noch hatte er jedoch keine Zeit für derlei Gedanken. Er stapfte noch einige hundert Schritte weiter durch Laub und Wurzelwerk, da trat er hinaus auf die weite Hochebene, die seine Heimat war, die Ebene von Lodhan. In einiger Entfernung konnte er bereits die hölzernen Wälle einer enelischen Stadt erspähen. Fuß vor Fuß, Schritt für Schritt quälte er sich weiter und sah die Stadt langsam zu einer Metropole heranwachsen - Merian, die Hofstadt Meglors.
Die Gebäude der Enelier wurden nach Norden hin, dem kalten Polarwind zugewandt, aus Lehmziegeln gemauert und mit teilweise bewachsenen Erdhügeln bedeckt. Zur windabgewandten Seite aber waren sie aus Holz. Fenster, welche man im Winter mit Fellen und Brettern versiegelte, waren in die massiven Holzwände hineingehackt worden. Unter den leicht geschwungenen Dachbalken trat an beiden Enden Rauch hervor. Es war der Rauch von Koch- und Trockenstellen, aber auch von Selchkästen oder sogar Schmieden. Es war Sitte unter den Eneliern, ihre Arbeitsstelle und ihr Heim unter nur einem Dach zu errichten.
Verlassen waren die Gassen von „Meglors Stolz“, wie man die Stadt im Volksmund nannte. Selbst die Hunde hatten die Enelier, ob der Kälte, in ihre warmen Stuben gelassen. Einzig Gunthir taumelte frierend die Hauptstraße zur hölzernen Feste hinauf.
Vereinzelt begannen Schneeflocken vom Himmel zu fallen, als wären sie ihrer Weltenreisen müde und der Kundschafter beschleunigte seinen Schritt ein letztes Mal.
Endlich vor dem zweiflügeligen Holztor der Hallen Meglors angekommen, hielt er kurz inne und sammelte sich. Er nahm die Hände aus den warmen Fellen, rieb sie und pustete hinein, um sie aufzuwärmen. Erst klopfte er dreimal und wartet.
Seine Schmerzen wurden mit jeder Sekunde, die er verharrte stärker. Auch die Müdigkeit, die Kälte und selbst die Trauer drohten ihn zu übermannen. Doch er war angekommen. Er war am Ziel und mit diesen Gedanken warf er die beiden Flügel des Tors kraftvoll auf. Als er eingetreten war, eilten zwei kraftstrotzende Wachen herbei und stemmten sich gegen schweren Holztorflügel. Sie hatten mächtig gegen den Wind zu kämpfen, den Gunthir eingelassen hatte. So schafften sie es erst mit seiner Hilfe, das Tor gänzlich zu schließen. Anschließend verbeugten sich beide und huldigten Gunthir, dem Fürsten unter den Waldläufern. Der Jüngere der beiden, vielleicht zwanzig Winter alt, sorgte sich um Gunthirs Verfassung und wollte ihn stützen, doch Gunthir lehnte seine Hilfe ab.
Durch eine kleinere Innentür trat er nun in den prunkvollen Thronsaal ein. Mit dem Schritt über des Königs Schwelle, veränderte sich seine Haltung, denn er gab sich aufrecht und stolz. Nichts wollte er sich anmerken lassen, von den Anstrengungen der Nacht. Seine Verletzungen verbarg er unter den dicken Fellen. Er zwang sich sogar, flach und lautlos zu atmen.
Türkise Wandteppiche hingen von den hölzernen Dach- und Querbalken herab und ergaben, als geknüpfte Bildnisse, die Chronik des Merian-Klans. Vor den Thronen lag ein riesiges schwarzes Bärenfell, dessen stolzer Jäger schon ein Jahrhundert zuvor seinen Platz am Firmament gefunden hatte. Meglor war alleine und lehnte in Gedanken versunken in seinem Sessel, mit dem Kopf auf die Faust gestützt.
Meglor trug keine Krone. Sein Vater hatte sich seiner Zeit eine aus dem Münzgold der Festländer gießen lassen. Nach seinem Tode aber hatte Meglor sie mit der Axt gespalten und die Bruchstücke gegen zwei prächtige, festländische Schimmel eintauschen lassen. Statt der Krone trug der Häuptling nun einen schmalen, runenverzierten Bronzereifen auf dem Haupt. Die Runen und Symbole des Feuerschamanismus zogen sich darauf um sein schwarz-graues Haar, welches man auf den ersten Blick für Asche halten konnte.
Als Gunthir vor ihn trat, und sich zu seinen Ehren niederkniete, war es trotz aller Anstrengung mehr ein erschöpftes Fallen als eine höfische Geste. Er senkte das Haupt und Meglor erhob sich aus dem Königsthron und reichte ihm die rechte Hand zum Gruß. Es strahlte Freude in seinen Augen, denn Gunthir war ihm stets der treueste Freund gewesen. Schon als Jungen waren sie sich Vertraute gewesen. Das Erbe der Königswürde aber hatte zu seinem Bedauern vieles davon zerstört. Dennoch konnte er sich meist nur schwer überwinden, ihn fortzuschicken. Doch die Waldläufer des enelischen Waldes und die Wasserspäher der Südküste hatten Gunthirs großartige Qualitäten nötiger als des Häuptlings Gemüt. Die höfische Ehrerbietung seines Freundes brachte Meglor merklich in Verlegenheit.
Auch wenn es kaum seiner Natur entsprach, versuchte er, Gunthirs Geste ebenso höfisch zu erwidern: „Ehre und Gottesfürchtigkeit, Gunthir, mein Freund. Welche Kunde bringst Du mir von den Südlanden meines Reichs?“
Gunthir ergriff den Arm und erhob sich, um seinem Häuptling in die Augen zu sehen.
„Ehre auch Dir, mein Gebieter, ich bringe Dir Botschaft der Wasserleute, dass Fremde gekommen sind“, antwortete Gunthir und deutete beiläufig in Richtung Südosten. „Geführt von einem Fürsten Korahan landeten sie in der Bucht des Donners.“ Gunthir kam nicht umhin, einmal tief durchzuatmen, ehe er fortfuhr: „Und in böser Absicht sind sie gekommen, denn sie entweihen den Ort wider besseren Wissens durch magische Feuer, riesige Bauwerke und sogar einen Altar, einer Fremden Gottheit geweiht.“ Keine Sekunde verschwendete der Späher an Belanglosigkeiten, als er seinen Anführer aufklärte. Gunthir musste nicht um die Hilfe jenes Königs bitten, der auch Schamane war, denn er wusste, niemand sah sich selbst mehr als Verteidiger der enelischen Heiligtümer als Meglor der Bär, Meglor von den Merian.
Ein einzelner Tropfen Blut fiel hinab, von Gunthirs Arm, auf den Steinboden und zersprang in ein Dutzend kleine Spritzer.
Schnell erkannte Meglor die üble Verfassung Gunthis ebenso wie den Ernst dieser Botschaft.
Lobend legte Meglor seine Hand auf Gunthirs Schulter und drückte sie fest. Dann deutete er ihm, sich in den leeren Thron Mirias, Meglors Frau, zu setzen. Daneben, auf einem irdenen Sockel, standen ein Krug klaren Wassers und in einer Schüssel mehrere gelbe Äpfel. Der König hätte diese Dinge seinem ausgezehrten Freund von Herzen gegönnt.
Er ließ sich selbst in seinen Thron fallen und versank einen Moment lang in einem Meer von Gedanken.
Eine weile musterte Gunthir seinen König und las seine Züge wie ein offenes Buch.
„Falsch mögen sie wohl handeln“, antwortete Meglor schließlich, „doch nicht wider besseren Wissens. Sie sind Ungläubige, die nicht ahnen, dass dereinst Horn selbst uns dies Land zum Geschenk gemacht hat. Ich will gehen und sie belehren“, und mit mehr Nachdruck, denn trotz seiner Besonnenheit regte sich auch Zorn in ihm, „es ist mein Königreich, mir anvertraut vom Wasserherrn und ich dulde keine Schänder.“
Gunthir war sichtlich erleichtert, das zu hören.
„Ich komme mit Euch mein König, denn ich glaube, ihre Sprache zu verstehen. Sie traten oft an die Küsten Eneliens, um Handel zu treiben und respektierten stets unsere Sitten und unseren Glauben“, erklärte der Späher der trotz Meglors Angebot immer noch stand. Gunthirs ungewöhnlich schmale Hände sprachen stets noch deutlicher als sein Mund und so machte er bei diesem Satz eine nach unten schwingende Geste, die vor Abscheu nur so strotzte: „Diese sind schlechter, mein König, denn sie respektieren nichts und niemanden. Kein Gott ist ihnen heiliger als bare Münze, und wenn es etwas gibt, das ich nicht verehre, dann ist es plattes Tauschgut. Doch nichtsdestotrotz bedienen sie sich derselben Sprache. So könnte ich Euch von Nutzen sein im Gebrauch der Zungen, die ich spreche“, meinte er und verbeugte sich zaghaft.
Gunthir fürchtete, seine Körpersprache hätte vielleicht zu viel von seinem erbärmlichen Zustand verraten. So würde ihm der König niemals gestatten zur Bucht zurückzukehren. Doch das musste er um jeden Preis - er hatte es den Wasserspähern versprochen. Der Häuptling gab ihm hastig ein Zeichen, er möge sich doch wieder aufrichten. Als das dem Späher nicht vollends gelang, packte ihn Meglor und stützte ihn einen Moment. Er blickte Gunthir in die Augen und fand dort nichts als einen ungebrochenen Willen.
Schließlich sagte er:
„Dann geh, mein Freund, und erwarte mich an der Pforte Merians. In zwölf Stunden werden wir aufbrechen, zu den Festländern und zu Horn dem Erzürnten.“
Daraufhin verließ Gunthir seinen Häuptling in aller Eile. Er wollte nach Hause zu Frau und Kindern. Erleichtert war er, als seine Aufgabe getan war und lange hatte er nicht so tief und fest geschlafen. Seine Frau aber würde in dieser Nacht wachen. Sie würde seine Wunden verbinden, ihn sogar waschen und sich schließlich zu ihm legen, um ihn zu wärmen.
Meglor verblieb noch eine Weile im Saal. Er sah auf seinen leeren Thron zurück. Er stellte sich vor, Brodhan sein Sohn säße dort. Dann fiel sein Blick auf das Schwert, das neben dem Thron lehnte und langsam verstaubte. Er war ein Mann des Friedens, aber der Gedanke, das Gewicht des „Donnerboten“ noch einmal am Gurt zu spüren, erfüllte ihn mit Vorfreude. Er fasste sich an die Hüfte und zitierte die Runengravur der bläulichen Klinge:
„Horn ruft,
aus Demut in den Kampf,
zu Ehre in den Tod,
zum Ruhme des Gottes,
vom Donner und vom Ozean!“
Als Meglor noch jung war und Diothan, sein Vater, noch lebte, ließ dieser ihm den Donnerboten schmieden. Als er vollendet war, schenkte Diothan ihn seinem Sohn mit den Worten:
„Bis die Stämme geeint sind, soll dies Schwert Dir eine Waffe sein. Wenn die Stämme geeint sind und in unserer Familie die Herrscher Eneliens sehen, dann soll es Dir als Szepter dienen, als Symbol des ersten Königs.“
Meglor sah sein Erbe immer als Bürde an. Aber auch wenn er selten etwas von dem guthieß, was sein Vater getan hatte, so hätte er doch um nichts in der Welt gegen dessen letzten Willen gehandelt und das Königreich zerfallen lassen. Dem ungeachtet sah er sich selbst viel lieber als Häuptling Merians, denn als König Eneliens.
Ein paar Stunden nach Gunthirs Ankunft saß Meglor zu Tisch mit seinen Söhnen Brodhan und Kerman und mit Miria. Sie tafelten feine Speisen, Fisch und frisches Brot, Obst und sogar grüne Trauben, von den Festländern im Tausch erworben.
An der langen Tafel hätte man scheinbar keine Unterhaltung führen können, doch der Hall im hohen, hölzernen Palast Meglors erhielt die Stimmen und Skur der Windherrscher trug sie leicht und beflügelt von des Einen Mund zu des Anderen Ohr.
In der Tat war es Miria gewesen, welche Kraft ihrer Liebe zu Skur, einen Zauber um das Gewölbe gewoben hatte. Manchmal, da nutzte sie diesen Zauber selbst und sang. So wunderschön sang sie, dass Skur ihre Lieder weit hinaustrug über Enelien, wo sie die Menschen vielmehr spürten als hörten. Und bald füllten sich ihre Gemüter mit Zuversicht und Hoffnung. Und das Volk verehrte sie dafür.
In der Mitte des Tisches hatte Meglor mit schamanischen Künsten eine Flamme entfacht. Sie loderte grünlich und erhellte den hohen Saal bis in die letzten Winkel in der Farbe der Hoffnung. Keinen Schatten gab es in Meglors Heim. Nicht im höchsten Ecke, im fernsten Winkel oder unter den steinernen Sockeln, der ovalen Tafel.
„Wenn ihr geht, dann werdet Ihr Eure Söhne an Eurer Seite wiederfinden, mein Vater“, erklärte Brodhan, der Ältere. Kerman nickte nur zustimmend, so wie er es meist tat, wenn sein Bruder für ihn sprach. Kerman war der wildere und stärkere der Beiden. In Kampf und Jagd konnte man fast glauben, Horn der Gott selbst wäre in ihn gefahren und ließe ihn rasen. Nun aber, im Heim seiner Eltern, saß Kerman der Berserker ruhig und nachdenklich zu Tisch und wies unter den wilden Eneliern vielleicht noch die besten Manieren auf.
“Wir werden euch begleiten Vater“, sagte er, „denn ich traue ihnen nicht. Die Festländer brachten stets Unheil mit sich. Selbst die Münze, das goldne Wort wie sie es nennen, haben die Festländer über uns gebracht und heute verlangt es dem Volk scheinbar nach nichts anderem mehr.“
„Dank sei der Herrin Miria, dass sie mir gebar solch einen Erben, im Namen Sudayas der Göttin der Fruchtbarkeit und der Erdsphäre“, sagte er zu Brodhan, „und Dank sei Horn, dass er mich beschenkte und mir stellte den wildesten aller Krieger zur Seite“, so sagte er zu Kerman und sie aßen.
Nur Miria, die Königin, konnte sich nicht dazu durchringen, vom Mahl zu kosten. Sie hatte Angst um die Ihren. So sehr fürchtete sie um sie, dass ihre Hand am Wasserkrug zu zittern begann. Doch sie verschwieg ihre Sorgen, denn auch sie erkannte die Heiligkeit des Wasserherrn an und wusste, dass sie die Männer ziehen lassen musste. Jedoch ließ sie sich nicht nehmen, ihre Söhne zum Abschied lang und innig zu umarmen.
Des Nachts schließlich, unter den wolkenverhangenen Heldensternen, wanderten die Brüder zur Stadt hinunter. Heldensterne nannte man sie, weil die Menschen daran glaubten, dass die ehrbarsten unter ihnen, nach ihrem Tod zum Himmel führen, um über die Lebenden zu wachen und ihnen den Weg zu zeigen. Zu jedem Stern gab es eine Sage. Als Jungen liebten die Brüder die Sage von Zivolier, dem ersten Helden, am meisten, denn sie vereinte die Liebe zur Fremde mit der Lieber zur Heimat. Sie mussten stets daran denken, wenn sie zum Nachthimmel hinauf sahen und das taten sie gern.
Jetzt aber waren sie auf dem Weg in ihre Häuser und sprachen lieber noch ein wenig miteinander. Neugier brannte in Brodhan. Er hatte schon immer ein reges Interesse an den Handel treibenden Menschen von Golat, den geheimnisvollen, uralten Nowilar oder den fremdartigen Alwer, so viele Pfeile weit weg im Westen. Er hatte sich papiergebundene Bücher besorgt und gelernt zu lesen und beherrschte somit auch die Sprache Golats mit großem Talent.
Schließlich sagte er: „Welche Wunder mögen uns wohl erwarten, Bruder. Was werden die Festländer nach Enelien gebracht haben?“
„Wunder? Sie entweihen Horns Heiligtümer und Du sprichst von ‚Wundern’“, sagte Kerman und schüttelte den Kopf.
„Ah, Heiden sind sie ohne Zweifel. Wir werden sie unsere Götter lehren und sie werden die enelische Erde ebenso eilig verlassen, wie sie sie betreten haben. Niemand von klarem Geist würde mit Vorbedacht den Zorn des nassen Gottes auf sich ziehen.“
„Wir wissen wenig über sie und ihre Magie. Sie sind Diener zweier Herren - des Goldes und der Feuergöttin Kouri. Das macht sie gefährlich.“
„Mione“, widersprach Brodhan, „So wird sie von den Festländern genannt. Findest Du es nicht seltsam, dass unter den Völkern selbst die Götter unterschiedliche Namen tragen, doch die der Sterne sind allerorts dieselben?“
„Ob auch die Heldensagen anderswo auf die gleiche Weise erzählt werden?“
„Vermutlich“, meinte Brodhan und sah einen Moment nachdenklich nach oben, „Vielleicht steckt in den alten Sagen mehr Wahrheit, als uns das Erwachsenenalter weismachen will.“
„Wahre Geschichten von wahren Helden? Einen Helden wird es brauchen, falls die Fremden in der Bucht tatsächlich als Feinde gekommen sind.“
„Fürchtest Du sie?“
Das erboste Kerman. „Ich fürchte nichts und niemand“, zürnte er mit tiefer Stimme. Aber schon hatte er das Schmunzeln seines Bruders bemerkt und verstanden, dass er ihn nur ein weiteres Mal hatte necken wollen. Etwas ruhiger sagte er: „Wir fürchten was wir nicht verstehen - oft zu Recht. Ich denke nicht, dass Korahan und seine Scharen Enelien ohne Wehr aufgeben werden.“
„Zu kämpfen werden sie nicht wagen.“
„Und wenn doch? Tausend stehen gegen vier! Denn gewiss wird Vater niemand mit sich nehmen, als den treuen Gunthir und seine Söhne. Für einen Krieg …“ „Verzag nicht Bruder“, fiel ihm Brodhan ins Wort, „Wenn Horn uns zum Kampf ruft, dann an einem anderen Tag und mit allen Männern der Insel.“
Ein lauwarmer Wind blies den Beiden ins Gesicht und vertrieb für einen Moment die kleinen Schneeflocken, die überall um sie herabsanken. Sie hielten an und sahen, wie Gunthir zuvor, nach Süden - hinauf zu den Sonnensplittern.
Da zerriss eine Explosion Stille und Dunkelheit gleichermaßen.
Ein Feuerball loderte über den Splittern auf. Glühendes und geschmolzenes Gestein schoss in die Schwärze der Nacht hinaus, wie die Pfeile eines blinden Jägers. Die Brüder bedeckten geblendet ihre Augen. Bald aber wurde es wieder dunkel und dann, einhundert Herzschläge später, fuhr eine kurze Erschütterung durch den Boden unter ihren Füßen wonach man schließlich ringsum kleine Steine herniederprasseln hören konnte.
Brodhan lief ein Schauer über den Rücken. „Gnade uns vor dem Tag, an dem der Mornmetom ausbrechen wird. Er wird uns schlimmere Boten senden als diese Kiesel.“
Kerman nickte und sagte kühl: „Jemand scheint die Feuergöttin verärgert zu haben.“
Bevor sie sich trennten, ließen sie ihre Blicke über die Stadt streifen, um sich zu vergewissern, dass alles noch in Ordnung war.
Am Morgen war Brodhan der Erste, der sein Heim verließ. Als er durch Merian ritt, verspürte er eine beklemmende Stimmung. Auf den Neuschnee hatte sich eine feine Schicht von Asche gelegt. Die Menschen waren sehr still. Das Hämmern der Schmiede war verstummt. Alle schienen noch den Schrecken des Vulkanausbruchs in den Knochen zu haben, den einziehenden Winter zu fürchten - oder es bedrückte sie ein noch schlimmeres Unheil.
Um einen großen, ehernen Altar, umkreist von Menhiren, stand eine Gruppe von Frauen und Kindern. Alle hatten ihre Köpfe gesenkt, selbst die Kleinsten blieben andächtig und ruhig auf den Armen ihrer Mütter. Die meisten hatten Muschelketten oder Blumengebinde bei sich, welche sie langsam und murmelnd durch ihre Herzhand zogen.
Am Altar stand ein Schamane der Wassersphäre. Immer wieder rezitierte er die heiligen Worte:
„Sieh, dort wacht Horn der Gerechte. Herr der Insel und Herr der See, Herr von Donner und Wasser, von Anbeginn an, bis zum Ende der Zeit. Sieh, dort erwartet uns Horn der Gott, am Scheidepunkt der Welten, nimmt unsere Seelen fort, dem Tode trotzend, auf immerdar.“
Dann leerte er einen Krug salzigen Meerwassers über dem Altar. Augenblicklich verdunstete es, begleitet von leisem Donnergrollen, zu weißem Dampf.
Am Tor zu Merian trafen sich nun Meglor, seine Söhne und Gunthir, welcher trotz der kurzen Ruhe nicht müde schien. Seine drei Kinder begleiteten ihn noch ein Stück. Am Tor jedoch saß Gunthir ab, umarmte einen jeden seiner Sprösslinge fest und schickte die jüngeren schließlich nach Hause. Seinen ältesten Sohn jedoch schickte er in den Wald. Er möge Balros suchen und seinen Leib verbrennen, aufdass er nicht von den Würmern gefressen werde.
Kerman und Brodhan waren auf schwarzen, enelischen Rössern gekommen. Meglor und Gunthir dagegen ritten auf jenen weißen Pferden, die sie einst von den Festländern ertauscht hatten. Ein prächtiger Schimmel war es, den Gunthir ritt, doch war er einfach kein Ersatz für den alten Balros.
Waffen und Rüstzeug ließen sie zurück, nur Kerman der Misstrauische nahm eine Reihe magischer Wurfdolche mit sich, die er vor langer Zeit von einem fahrenden Händler erworben hatte. Sie strahlten bläulich vor Magie und verfehlten nie ihr Ziel. Die Abendsterne nannte er sie und ihr Aufblitzen versprach die Dämmerung. Unter einem braunen Bärenfell trug er sie verborgen.
Meglor und Brodhan kannten die Gebräuche und Vorlieben der Festländer und kleideten sich in feine dunkelblaue Umhänge. Ein bronzener, schamanischer Talisman saß auf Meglors Brust. Man sagte er könnte ein wildes Tier in kalten Stein verwandeln, wenn es bloß mit ihm in Berührung käme. Doch die beinahe noch größere Macht des Talismans bestand darin, seinem Träger in Notlagen Stärke zu verleihen. Meglor trug ihn oft bei sich aus Respekt vor den zahlreichen Schwarzbären in den Nadelwäldern seines Landes.