Nachdenklich folgte Thorsteins Blick der Bewegung, mit der Rúnas Hände sich von ihm lösten. Sie hatte Angst um ihn gehabt, Angst, dass er sterben könnte. War das ein Zeichen, dass er ihr nicht egal war? Obwohl es ihn einiges an Schmerzen kostete, ergriff er eine dieser Hände, die ihm gerade geholfen hatten und drückte sie sanft.
"Ich bin auch froh, Rúna", raunte er ihr zu. Und dann fasste er sich ein Herz, endlich das zu tun, was er sich schon in all den letzten Tagen gewünscht hatte.
"Doch selbst, wenn ich bei Hel aufgewacht wäre, ich hätte dort auf dich gewartet!"
Abwartend betrachtete er die Frau, die anmutig neben seinem Lager kniete. Und er wurde mit einem Anblick belohnt, den er nie wieder vergessen würde. Trotz des Halbdunkels und des unruhigen Flackerns der Flammen sah er, wie sich ihre Wangen röteten und ihre Augen größer und dunkler wurden.
Unsicher, ob sie die Bedeutung seiner Worte wirklich verstanden hatte, löste Rúna den Blick von ihren miteinander verschlungenen Fingern und sah zu Thorstein auf.
Der Steuermann sah den Unglauben in ihren Augen und auch die tausend Fragen, die sie ihm sicher am liebsten gestellt hätte. Doch es waren nur zwei kleine Worte, die sie schließlich mühsam hervorbrachte.
"Aber … warum …?" Rúna wagte nicht, an das zu glauben, was sie aus Thorsteins Worten entnahm. Sicher hatte der Steuermann nicht wenig Interesse an ihr bekundet, doch sie hatte immer gedacht, dass es ihm mehr um ihre Arbeit auf seinem Hof ging, als um sie als Frau. Auch, wenn er sie bereits einmal auf sein Lager geholt hatte … Aber das taten viele Herren mit jungen Sklavinnen und sie redete sich ein, dass das nichts zu bedeuten hatte. Jetzt aber überfiel sie ein Gefühl der Hoffnung, das sie nicht zurückdrängen konnte. Sie spürte, wie sie rot wurde. Durfte sie wirklich glauben …?
Thorstein festigte den Griff um ihre Hand ein wenig. Er wollte, dass sie ihre Aufmerksamkeit ganz und gar auf ihn richtete. Dieser Moment würde nicht wiederkommen. Er musste ihr jetzt ganz klar sagen, was er sich von ihr erhoffte. Einen Moment lang überlegte er, ob es nicht doch noch zu früh war. Doch gab es denn ein "zu früh" oder ein "zu spät" überhaupt für sie beide? Jeder von ihnen war in den letzten Wochen Hel nahe gekommen. Länger zu warten, machte doch gar keinen Sinn, oder?
Der Steuermann sah nur zu seiner Rúna, als er dann sprach. Dass er auch in Jorunn eine gespannte Zuhörerin hatte, entging dem Mann völlig. Doch die Alte war sehr zufrieden mit dem Tun des Kriegers. Und so wandte sie sich lächelnd dem Lager von Asbirg zu und sah sich den Säugling an, während sie die Ohren spitzte.
"Weil ich mit dir zusammen sein will, Rúna", flüsterte Thorstein der Frau an seinem Lager liebevoll zu. "Ich will mit dir leben, dich jeden Tag bei mir haben." Der Steuermann seufzte leise. "Ich weiß selber nicht, warum ich mich bei dir so wohl fühle. Aber das will ich nicht verlieren!"
Er erhob sich halb von seinem Lager und knurrte dabei vor Schmerz. Doch als Rúna ihm schon ins Wort fallen und zur Ruhe raten wollte, brachte er keuchend heraus, was ihm auf der Seele lag: "Werde meine Gefährtin, Rúna!"
Stöhnend ließ sich der verletzte Mann zurück in die Felle sinken, ohne den Blick von seiner Geliebten abzuwenden. "Komm mit mir zurück auf den Moorseehof." Thorstein war kaum mehr zu verstehen, so sehr quälten ihn die Rippenbrüche. Dennoch ließ er sich nicht abbringen, nun alles auszusprechen, wozu er bisher keinen Mut gefunden hatte.
"Komm mit mir … als meine Frau! Du wirst dort glücklich sein. Ich verspreche es dir!"
Nun war es gesagt und jetzt kam es allein auf Rúna an. Der Krieger schloss die Augen und es waren nicht nur die Schmerzen, die ihn quälten. Würde sie seine Zuneigung erwidern? Oder würde sie höfliche, ehrerbietige Sklavenworte finden und ihn dennoch auf seinen Platz zurückweisen, den er bisher bei ihr innehatte? Sie schwieg! War das nun ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Thorstein wollte ihr in die Augen schauen, wenn sie ihm antwortete. Also zwang er sich, Rúna wieder anzusehen. Immer noch starrte sie wortlos auf ihre verschränkten Hände. Ihre kleinen Zähne waren in ihre Unterlippe gegraben und sie zitterte leicht.
Unschlüssig, was diese Regungen zu bedeuten hätten, strich Thorstein vorsichtig mit dem Daumen über Rúnas Handrücken. Endlich sah sie zu ihm auf und er erschrak, als sie weinte. Der Steuermann schluckte schwer. Wenn sie weinte bei seinem Geständnis, musste der Gedanke an sie und ihn als Paar für Rúna schrecklich sein, oder? Bestimmt war er mit seiner überstürzten Rede viel zu voreilig gewesen! Doch selbst wenn sie ihn nicht auf die Art wollte, wie er es sich erhofft hatte, ganz aufgeben konnte er Rúna dennoch nicht.
Vorsichtig löste er den Griff um ihre Finger und legte ihre kleine Hand entschlossen neben sich.
"Ich werde dich nicht drängen, Rúna", versicherte er ihr resigniert. "Wenn du nicht mit mir leben willst, werde ich dich nicht dazu zwingen. Du wirst dennoch immer auf meinem Hof und in meinem Haus in Sicherheit sein."
Wieder schloss Thorstein seine Augen. Doch dieses Mal war es nicht der körperliche Schmerz, der ihn dazu zwang. Er wollte einfach nichts mehr sehen, am besten auch nichts mehr fühlen. Rúna wollte ihn nicht. Und er, er fühlte sich mit einem Mal vollkommen leer und erschöpft, so als würde sich nun Niflheim doch noch auftun und ihn verschlucken, obwohl er der Anderwelt doch gerade noch entkommen war.
Ein leises Seufzen drang an sein Ohr und plötzlich spürte er, wie sich etwas Weiches, Warmes an seine gesunde Seite drückte. Rúnas Hand legte sich erneut auf seine und Thorstein schlug überrascht die Augen auf.
Dicht an ihn gedrängt und dennoch so vorsichtig, das er ihm keinerlei Schmerzen bereitete, lag Rúnas Kopf an seiner Schulter. Das Weiche, das er auf seiner Brust gespürt hatte, war eine dicke Strähne ihres Haares, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatte. Thorstein sah, dass sie mehrmals zum Sprechen ansetzte und dann doch ihren Kopf wieder anhob, um ihm in die Augen zu sehen. Noch immer liefen ihr die Tränen über die Wangen, doch sie lächelte ihn an.
"Ja, Thorstein!", flüsterte sie wenig zusammenhängend, doch der Steuermann verstand den Sinn dieses einen Wortes trotzdem. Mit einigem Herzklopfen erwartete er, dass sie weitersprach.
"Ja, ich möchte gern deine Gefährtin sein", gestand sie ihm schließlich, nachdem sie ein kleines Schluchzen hinuntergeschluckt hatte. Dann sah er, wie sie sich straffte. "Ich werde alles daran setzen, dass Ragnar mich nach diesen fünf Jahren freigibt. Wenn er es wirklich tut, werde ich sehr gern zu dir gehören!"
Thorstein glaubte, nicht richtig zugehört zu haben. Sollte er wirklich unendliche fünf Jahre lang darauf warten, dass Rúna ihm gehörte? Doch die junge Frau hatte seinen ungläubigen Blick sofort wahrgenommen und schenkte ihm ein beruhigendes Lächeln.
"Ich gehöre dir doch jetzt schon", versicherte sie dem beunruhigten Mann. "Nicht nur durch meinen Stand, sondern von Herzen. Doch musst du auch daran denken, wer du bist, Steuermann!" Sie sprach den Titel absichtlich mit voller Betonung aus. Ihr Krieger war nicht nur irgendein minderer Bauer oder ein Händler. Jene hätten vielleicht eine Sklavin zur Frau nehmen können. Er aber gehörte zu den Anführern der Nordmänner, auch, wenn er darauf offensichtlich nicht viel Wert legte. Wenn er sich nun eine so unpassende Gefährtin nahm wie sie, waren auch sein Ruf und die Achtung, die man ihm entgegen brachte, schnell dahin. Sie aber wollte nicht, dass er ihretwegen seinen Rang verlor.
Leise erklärte Rúna dem schweigenden Mann, wie sie sich ihr Zusammensein vorstellte. Thorstein hörte ihr dabei allerdings nur mit einem halben Ohr zu. Dass Rúna erst frei sein wollte, bevor sie ihm den Schwur leistete, verstand er irgendwie. Doch er, Thorstein, würde nicht abwarten, bis fünf Jahre vergangen waren. Ragnar hatte ihm ein Versprechen gegeben, dass nun deutlich an Wert gewann. Er würde nicht ruhen, bis der Jarl dieses eingelöst hatte.
Mit einem Lächeln sah er auf seine Rúna hinunter und alle Schmerzen waren in diesem Moment vergessen. "Küss mich endlich!", lud er sie ein. "Und dann vergiss ein für allemal, dass ich jemals dein Herr war. Lass mich dein Mann sein, von heute an. Für immer!"