Sie beschloss voller Zuversicht, endlich etwas zu ändern. Sie wollte nicht länger ein Opfer der Gesellschaft sein, wollte nicht länger auf der Suche nach einer passenden Jeans in Spezialgeschäfte gehen müssen. Sie wollte sein wie alle anderen. Groß. Schlank. Gesund. Sportlich. Oder kurzum: schön.
Sie hatte sich nie richtig wohlgefühlt in ihrem Körper. Schon als junge Frau hatte sie diejenigen beneidet, die essen konnten, was sie wollten, ohne dass sie auch nur ein Gramm zunahmen. Wie oft hatte sie dem roten Bikini hinterher getrauert, der ihr zwar gefiel, in dem sie sich aber wie ein verblutendes Walross vorkam?
Wieso konnte sie nicht sein wie jene Frauen? Wie jene Frauen, die selbstbewusst durch die Welt spazierten, denn es gab ja keinen Körper, den sie verstecken mussten. Jene Mädchen und Frauen, die sich nicht darum kümmern mussten, ob ihr Top bauchfrei oder eng anliegend war. Die sich nicht darum kümmern mussten, ob die Hose so kurz war, dass sie nur die Hälfte ihres Hinterns bedeckte. Die sich nicht darum kümmern mussten, dass sie niemandem gefallen könnten, denn sie waren ja schön. Sie entsprachen den Erwartungen, die man an Frauen stellte.
Sie wollte endlich zu ihnen gehören.
So begann sie, eine Diät zu machen. Aß weniger. Weniger. Immer weniger. Bis sie schließlich kaum noch etwas aß. Sie wurde mit jedem Tag erschöpfter. Die anfängliche Euphorie über die schnell verlorenen Pfunde wich einem täglichen Kampf gegen den Hunger. Doch von nichts kam nichts.
Nach zwei Wochen fasste sie sich ein Herz, brach die Diät ab, aß wieder mehr, mehr, immer mehr. Sie kam wieder zu Kräften - zum Leidwesen der Waage.
Also startete sie eine neue Diät, das Ziel des perfekten Körpers im Blick. Sie aß keine Kohlenhydrate, weniger Fett, dafür mehr Proteine. Zusätzlich bewegte sie sich, quälte sich nach einem langen Arbeitstag trotzdem auf das Laufband. Sie sah, wie ihr Körper sich veränderte, freute sich und machte weiter. Doch manchmal hatte sie Kopfschmerzen, und der Zuckermangel machte sich langsam bemerkbar.
Eines Tages gab sie dem Heißhunger nach, griff zur Schokolade und aß, und aß, und aß. Sie fühlte sich schlecht. Sie ärgerte sich über ihre eigene Inkonsequenz. So machte sie weiter, auch wenn sie merkte, dass ihr Körper und Geist ähnlich erschöpft waren wie bei der ersten Diät. Sie hatte Konzentrationsschwierigkeiten, war müde und alles schien sie enorm zu beanspruchen, sei es der Einkauf, das Arbeiten oder die tägliche Runde auf dem Laufband. Doch von nichts kam nichts.
Irgendwann war sie es leid, abends lange in der Küche zu stehen, nur um möglichst kohlenhydratlose Gerichte zuzubereiten, ihren Kollegen und Kolleginnen dabei zusehen zu müssen, wie sie mittags ihren aufgewärmten Auflauf vom Vorabend aßen, und trotzdem auszusehen, wie sie eben aussah. Also begann sie wieder normal zu essen, und zu essen, und zu essen.
Sie erschrak jeden Tag, wenn sie auf die Waage stieg. Wieso war sie noch schwerer als vor den Diäten? Das konnte doch einfach nicht sein.
Sie probierte es mit Saftkuren, Detox, Ananas-, Blitzdiäten und allerlei anderen Ernährungsweisen, doch keine hielt sie auf Dauer körperlich durch. Dennoch versuchte sie es wieder, und wieder, und wieder. Von nichts kam nichts.
Sie wollte so unendlich gern ein Teil jener grauen schönen Masse sein, dass sie darüber hinaus sich selbst vergaß. Sie wollte schön sein. Schön, schön, schön.
Wieso hatte sie keine Model-Gene? Wieso hatte sie immer Hunger? Wieso schaffte sie es nicht, ihre Ernährung länger als ein, zwei Wochen umzustellen und weniger zu essen? Wieso halfen die ganzen bunten und farblosen, großen und kleinen Tabletten und Abnehmtipps bei den Frauen aus der Werbung und den zahllosen Zeitschriften, aber nicht bei ihr? Womit hatte sie so einen scheußlichen Körper verdient?
So zog sie es durch, probierte es wieder und wieder und wieder. Nahm ab, nahm wieder zu, war glücklich, wurde wieder unglücklich. Zuletzt beschränkte sie sich nur noch auf ein Minimum ihres eigentlichen Tagesbedarfes an Nahrung. Sie wollte aussehen wie ein Model? Also musste sie leiden. Sie quälte sich mit Zählen von Kalorien, mit kohlenhydratarmem Essen, mit Kraftsport, mit Cardio, mit Ausdauerübungen. Denn von nichts kam nichts.
Sie wurde immer dünner, doch körperlich immer schwacher und psychisch immer desolater. Mit ihrem Gewicht verlor sie auch die Freude am Leben. Sie fragte sich täglich, wieso sie noch immer nicht aussah wie das Covergirl der Vogue. Wieso konnte sie keinen Stift unter ihren Brüsten halten? Wieso konnte sie nicht mit ihrem Arm um den Rücken herumgreifen und mit ihren Fingern den Bauchnabel berühren? Wieso hatte sie keine Taille so schmal wie ein Din A4-Blatt? Wieso lag ihr Bikinihöschen beim Liegen noch auf dem Bauch auf und bildete keine Brücke zwischen ihren Beckenknochen? Wieso konnte sie nicht so viele Geldstücke auf ihrem Schlüsselbein ablegen wie die Instagram-Schönheiten? Wieso, wieso, wieso?
Doch die eine entscheidende Frage hatte sie sich nie gestellt:
Ist es das wirklich wert?