„Mein Lord?"
„Du hast mich richtig verstanden, Fenrir", zischte Voldemort ungeduldig: „Ich traue niemandem, nicht, nachdem ich solange in Russland war. Die große Weihnachtsfeier wird für jeden, der ein Problem mit mir hat, die ideale Gelegenheit sein, einen Mordversuch zu starten."
„Niemand würde es wagen, mein Lord!", entgegnete Fenrir ungläubig.
„Genau diese Einstellung ist der Grund, warum ich ausgerechnet mit dir darüber spreche", fuhr Voldemort unbeeindruckt weiter. Sein Blick wanderte über die schäbigen Möbel, die in dem kleinen Wohnzimmer zu finden waren. Fenrir Greyback hauste schon seit Jahren nur in verlassenen Wohnungen von anderen Menschen, da er als Werwolf selbst in der Zauberergemeinschaft wenig akzeptiert war. Und genau deswegen wusste Voldemort, dass er sich zumindest auf ihn verlassen konnte: „Du weißt im Gegensatz zu allen anderen, wie viel ich dir geben kann – und geben werde. Du bist der einzige, der kein Motiv hat, mich zu töten. Ich muss dir nicht vertrauen, um das zu wissen."
Unsicher schaute Greyback zu seinem Herrn. Er wusste nicht, was er von dieser Vertrauensbekundung halten sollte. Als Voldemort damals zu ihm gekommen war, ihm versprochen hatte, dass unter seiner Herrschaft kein Werwolf sich verstecken muss, war er ekstatisch gewesen. Endlich hatte er ein Leben führen können, in dem er seine Triebe nicht verstecken musste, in dem er seinen Blutdurst nicht unterdrücken oder seine Freude an Gewalt verschleiern musste. Voldemort schätzte ihn nicht wegen seiner Intelligenz, die er, wie sich Fenrir sehr wohl bewusst war, ohnehin nicht besaß, sondern weil er konsequent und skrupellos war. Wieso also wandte er sich jetzt in einer Sache an ihn, die mehr nach Verstand denn nach Gewalt rief?
„Ich verlange von dir gar nicht, meine Gedanken zu verstehen", erklärte Voldemort, als hätte er seine Gedanken gelesen: „Ich brauche dich als Wache. Meine gute Nagini hier", sagte er liebevoll, während er seiner Schlange den Kopf streichelte, „sie ist eine treue Begleiterin, aber sie ist genauso in Gefahr wie ich. Ohne sie bin ich nichts, ohne sie bin ich nur ein sterblicher Zauberer wie alle anderen. Jeder Feind, der mich töten will, muss an ihr vorbei. Deswegen begleitet sie mich stets. Ich werde sie nun einsetzen, um mich abzusichern und um jeden Verräter zu entlarven."
Mit langsamen Schritten umrundete Voldemort den Werwolf, der noch immer nicht verstand, was sein Herr von ihm wollte: „Du wirst auf Nagini aufpassen, Fenrir. Sie wird beim Festakt selbst nicht an meiner Seite sein, sondern in einem Nebenzimmer. Wer immer mich töten will, muss zuerst sie töten. Du wirst auf sie achten. Und du wirst jeden töten, der sich ihr nähert. Ohne Unterschied, jeden. Egal, wer es ist. Zögere nicht."
Endlich begriff Fenrir und ein fieses Grinsen trat auf sein Gesicht: „Das wird kein Problem sein, mein Lord. Diesem Auftrag komme ich nur zu gerne nach."
„Gut", nickte Voldemort zufrieden: „Falls niemand kommen sollte, falls niemand etwas versuchen sollte, habe ich in der Tat loyalere Anhänger als gedacht. Dies ist ein Test. Ich glaube nicht, dass alle treu ergeben sind. Wir werden es wissen."
oOoOoOo
„Meine gute Zissy! Wie schön, dich endlich wieder in meine Arme schließen zu können. Komm her, lass dich drücken."
Mit unbewegter Miene beobachtete Hermine, wie Bellatrix Lestrange und ihr Ehemann von der Hausherrin begrüßt wurden. Sie war überrascht gewesen, als die Nachricht eingetroffen war, dass Bellatrix bereits am Montag kommen würde, und sehr besorgt. Sie hoffte, dass es ihre Pläne nicht behindern würde, dass insbesondere Snape und Lucius genug Zeit finden würden, die Feinheiten des Planes auszuarbeiten.
„Willkommen, willkommen!", begrüße Narzissa Malfoy ihre Schwester ebenso überschwänglich: „Wie schön, dass ihr schon so früh gekommen seid! Aber sag, hast du deinen Sklaven ganz alleine gelassen?"
Hermine entging er hämische Seitenblick von Bellatrix nicht, den diese ihr zuwarf, ehe sie mit einer wegwerfenden Handbewegung meinte: „Ich war seiner überdrüssig und habe ihn … entsorgt."
Kälte breitete sich in Hermines Magen aus, doch sie wusste, jede Gefühlsregung von ihr würde Bellatrix nur zu weiteren Grausamkeiten anstiften. Mit gleichgültigem Gesichtsausdruck blickte Hermine starr geradeaus, während sie die Mäntel der beiden Gäste entgegennahm, um sie aufzuhängen.
„Er war sowieso nie zu viel nutze", fuhr die schwarzhaarige Hexe fort, begierig darauf, Hermine eine Reaktion zu entlocken: „So dumm, wie er war, könnte man glatt meinen, dass er ein Squib gewesen war. Aber was soll man bei einer Familie voller Schlammblutliebhaber auch groß erwarten? Er war großartig für die schnelle Befriedigung zwischendurch … er war so wild, so gierig nach mir. Sicher lag da viel an meiner guten Erziehung, dass er mir hörig war, aber ich denke, wenn er nicht von sich aus so geil auf mich gewesen wäre, hätte das nur halb so gut gefruchtet. Er war eben kaum mehr als ein Tier."
Hermine ballte ihre Fäuste, um nicht zu einer wütenden Erwiderung anzusetzen oder einfach in Tränen auszubrechen. Sie würde dieser furchtbaren Frau nicht die Genugtuung geben, sich von ihren Worten so offensichtlich verletzen zu lassen. Und endlich, als habe sie gemerkt, dass ihr Versuch nicht fruchten würde, ließ Bellatrix das Thema fallen, um mit Narzissa und ihrem Ehemann in der Bibliothek Platz zu nehmen. Hermine eilte indes in die Küche, um bei den Vorbereitungen für das Mittagessen zu helfen.
Sie war kaum außer Sichtweite der drei Magier, da bahnten sich die Tränen gewaltsam ihren Weg. Ron war tot. Tot. Genau wie Harry. Während Ron unter Bellatrix Lestrange zu leiden hatte, hatte sie sich mit Lucius Malfoy vergnügt. Sie hatte ihn betrogen. Und nun war er tot, ohne dass sie jemals mit ihm hatte über ihre Gefühle reden können. Nur dieser eine Kuss war da gewesen.
Verzweifelt ließ sie sich auf die Bank sinken und ignorierte die Hauselfen, die geschäftig um sie herum wuselten. So kurz vor dem Ende hatte Voldemorts Herrschaft doch noch ein Opfer gefordert.
Ein Rascheln direkt neben ihr ließ Hermine aufblicken. Sie hatte nicht bemerkt, wie Snape die Küche betreten hatte. Nun saß er neben ihr und schaute sie aus ernsten Augen an.
„Sie lassen sich schon wieder von ihren Gefühlen übermannen, Miss Granger."
„Ach, lassen Sie mich doch in Ruhe!", gab sie verärgert zurück: „Ich werde jawohl noch weinen dürfen."
„Werden Sie am Mittwoch auch jede Gefühlsregung offen zur Schau tragen?", kam die emotionslose Antwort.
Genervt dreht Hermine sich zu ihm: „Ron ist tot, okay? Mein bester Freund, vielleicht sogar … was auch immer. Bellatrix hat ihn einfach so getötet. Entsorgt, wie sie es nennt. Darf ich da nicht weinen? Darf ich nicht um diesen Verlust trauern?"
Snapes Ausdruck wurde weicher: „Es tut mir leid das zu hören. Sie standen sich wohl sehr nahe?"
„Ja", flüsterte Hermine, während erneut Tränen ihre Wangen herunter kullerten: „Wer weiß, wenn das alles hier nicht passiert wäre, vielleicht … vielleicht hätten wir eines Tages geheiratet."
„Ich verstehe."
Unbeholfen legte Snape eine Hand auf Hermines Schulter. Dankbar dafür, dass er über seinen eigenen Schatten sprang, um sie zu trösten, lehnte Hermine sich an seine Seite und verbarg ihr verheultes Gesicht an seiner Brust.
„Miss Granger", wies Snape sie zurecht: „Sie können nicht …"
„Nur für dieses Mal, okay?", unterbrach sie ihn: „Sie sind gerade der einzige Mensch, den ich habe. Ertragen Sie es."
Mit einem gequälten Seufzen gab Snape seinen Widerstand auf und legte sogar noch seine zweite Hand auf Hermines Rücken. Er konnte spüren, wie der zierliche Körper in seinen Armen zitterte, und er hörte ihr lautes Schluchzen. Ihm war unwohl in dieser Situation, die ihm mehr als alles zuvor vor Augen führte, wie unbeholfen er im Umgang mit Gefühlen war. Wie tröstete man eine weinende Frau? Seine Gedanken wanderten zurück zu dem Tag, als er die tote Lily Potter gefunden hatte. Er hatte auch geweint, geweint und gebrüllt vor Wut. Damals hatte er niemanden gehabt, mit dem er seine Trauer hatte teilen können und selbst Dumbledore, an den er sich schließlich gewandt hatte, hatte nur kühle, rationale Worte für ihn übrig. Um seine Trauer ausleben und beenden zu können, hätte er einen Spiegel gebraucht, einen Menschen, mit dem er darüber reden konnte. Doch den hatte es nie gegeben und so war Lily immer seine Begleitung gewesen, war immer da gewesen.
Hermine Granger sollte nicht dieselbe Erfahrung machen. Nichts war schlimmer, als für immer und ewig von der Erinnerung und der Trauer an einen geliebten Menschen verfolgt zu werden, unfähig, mit dieser Trauer abzuschließen.
„Weinen Sie, so viel Sie wollen", flüsterte er schließlich und zog sie noch ein wenig näher an sich heran.
„Ich fühle mich schuldig", murmelte Hermine leise, mehr zu sich als zu Snape, aber doch in der Gewissheit, dass er ihr zuhörte: „Ron war so ein lieber Mensch. So lieb. Und er musste so viel leiden. Ich fühle mich, als habe ich unsere Liebe verraten. Ich habe freiwillig mit Malfoy geschlafen und ich hatte irgendwann das Gefühl, dass ich mich zu sehr verändert habe, um am Ende noch an Rons Seite sein zu können, als Freundin oder Ehefrau. Und jetzt ist er tot, ohne dass ich ihm das alles erklären konnte. Es ist so verrückt."
„Es gibt nichts, wofür Sie sich schuldig fühlen sollten, Miss Granger!", sagte Snape fest. Auch das konnte er nur zu gut nachvollziehen – nur dass er tatsächlich schuldig gegenüber Lily war. Er hätte ihren Tod verhindern können. Hermine hingegen hatte nichts anderes getan, als ihr Leben zu leben und sich weiterzuentwickeln.
Langsam rückte Hermine wieder von Snape ab. Es verwirrte sie, wie viel Geborgenheit sie gerade verspürt hatte, als er seine Arme um sie gelegt hatte. Keine Faser ihres Körpers zuckte unter seiner Berührung mehr zusammen, als habe ihr Verstand ihr Herz endlich davon überzeugt, ihm die Vergewaltigung wirklich zu verzeihen.
„Würden Sie mir eine Frage beantworten?", sagte sie an ihn gewandt: „Nur diese eine."
Mit hoch erhobene Augenbrauen blickte Snape sie an, doch schließlich nickte er.
„Wenn die Umstände anders gewesen wären … hätten Sie mich … damals. Hätten Sie mich trotzdem vergewaltigt?"
Sie konnte sehen, dass ihn dieser plötzliche Themenwechsel überraschte, doch sie wollte nicht locker lassen: „Wir müssen darüber reden. Ich muss darüber reden. Bitte."
„Schön", presste Snape hervor: „Wenn Sie es so sehr müssen. Als ich hörte, dass Lucius Sie verkaufen will, hatte ich sofort vor, selbst der Käufer zu sein. Ich habe gesehen, wie Greyback sich an Ihnen aufgegeilt hat, das war einfach nur widerlich. Ich hatte nie vor, mein … erkauftes Recht an ihrer Jungfräulichkeit wirklich zu nutzen. Der Kauf geschah zu Ihrem Schutz, obwohl ich schon die Befürchtung hatte, dass ich irgendwann gezwungen sein könnte, mit Ihnen zu schlafen. Dass es bald passieren würde und so … so ablaufen würde, wie es eben abgelaufen ist, war nie geplant. Ich bin an dem Abend Draco gefolgt und ich denke, wir wissen beide, mit welcher Absicht er zu Ihnen kam. In meinem erneuten Versuch, Sie zu beschützen, habe ich mich selbst in eine Situation gebracht, aus der ich nicht mehr raus konnte. Draco hat sicher gelauscht. Ich hatte keinen Raum für Erklärungen, ich musste ihm zeigen, was er zu sehen erwartete. Das Risiko, dass der Dunkle Lord später in seinen Erinnerungen über diese Szene stolpern würde, war zu groß."
„Sie haben mich für das größere Wohl geopfert, mh?"
Snape zuckte zusammen: „Wo haben Sie diesen Ausdruck her?"
„Von Harry. Er hat in der Vergangenheit von Dumbledore gestöbert. Sieht so aus, als habe Dumbledore früher recht zweifelhaften Ansichten angehangen. Und offenbar konnte er nie von dem Glauben ablassen, dass für das größere Wohl aller Menschen das Leid weniger durchaus in Kauf zu nehmen ist. Und Sie sind der beste Beweis dafür. Er hat Sie wieder und wieder genutzt, hat Ihre Gefühle ignoriert, weil Sie ihm helfen konnten gegen … Sie-wissen-schon-wen."
Wütend blickte Snape sie an: „Ich mag nicht immer einer Meinung mit Dumbledore gewesen sein, aber er war gewiss nicht der kalte Mensch, als den Sie ihn gerade darstellen."
„Ich weiß", stimmte Hermine leise zu: „Ich habe ja selbst gesehen, wie väterlich er Harry behandelt hat. Harry hatte immer wieder Zweifel, dass er nur eine Schachfigur für Dumbledore gewesen sein könnte. Vielleicht war er das, aber ich habe auch den anderen Dumbledore gesehen, den gutmütigen, freundlichen, liebevollen. Trotzdem … Sie haben Ihr eigenes Leben aufgegeben für ihn. Sie haben alles erduldet, selbst nach seinem Tod."
„Aus freier Wahl", betonte Snape: „Ich habe als junger Mann einen Fehler gemacht und ich habe mir geschworen, alles daran zu setzen, diesen Fehler wieder gut zu machen … falls das jemals möglich ist."
„Und am Ende mussten Sie noch mehr Dinge tun, die Sie bereuen."
„Ich bin nicht für ein glückliches Leben geschaffen, Miss Granger, dazu war mein Fehler zu gravierend. Bemitleiden Sie mich nicht für etwas, womit ich mich selbst schon längst arrangiert habe."
Hermine konnte sehen, dass Snape seine Worte ernst meinte. Er glaubte tatsächlich daran, dass es für ihn kein Glück mehr auf der Welt geben würde. Sie konnte selbst gerade kein Licht mehr sehen, weil alles überschattet war von dem Gedanken an Ron, und doch hatte sie tief in sich die Gewissheit, dass bald bessere Tage kommen würden und sie eines Tages wieder glücklich sein würde. Die Vorstellung, den Glauben an Glück für immer aufzugeben, war furchtbar.
„Wenn Sie nicht für sich selbst hoffen wollen, dann tu ich das eben für Sie", erklärte sie: „Ich glaube fest daran, dass kein Mensch dazu verflucht ist, ein unglückliches Leben zu führen. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass auch sie glücklich werden können."
„Passen Sie auf, was Sie sagen!", entgegnete Snape scharf: „Hoffnung kann die schlimmste Folter überhaupt für einen Menschen sein. Und genau deswegen habe damit schon längst aufgehört!"
Es war offensichtlich, dass Hermine ihn nicht verstand. Seufzend erhob Snape sich von der Bank. Solange er die Hoffnung gehabt hatte, eines Tages genug gebüßt zu haben, war jede Enttäuschung schmerzhaft gewesen. Seit er sich damit arrangiert hatte, dass es für ihn niemals wieder Glück geben würde, war er diesem Schmerz entgangen. Er hatte vernünftig funktionieren können, seine Aufgaben ausgeführt und nur manchmal Wut oder Hass verspürt. Und nun saß hier eine junge Hexe vor ihm, die für ihn hoffen wollte. Die ihn ansteckte mit ihrem positiven Wesen, die ihn beeindruckte mit dieser inneren Stärke, die er selbst nie hatte.
Sie war gefährlich für seine innere Ruhe. Er durfte sie nicht noch näher an sicher heran lassen.