Shanora überprüfte noch einmal den Inhalt ihres Rucksacks. Der Griff der Artefaktwaffe, die Allister ihr geschenkt hatte, ihr Notizbuch, eine große Trinkflasche und eine Packung Kekse. Irgendwo zwar besser als vor ihrer letzten Reise, trotzdem noch ziemlich erbärmlich, wie sie fand.
"Shanora!", hörte sie Did ihren Namen rufen, "Da ist jemand der mit dir sprechen möchte!"
Schnell rannte sie die Treppen zu Finns Labor nach unten. Did hatte den Raum in eine Art Quarantänestation verwandelt um sich und andere vor Lillets unkontrollierbarer Seuche zu schützen. Lillet saß hinter einer Glaswand auf einem Feldbett, am Glas waren dieselben vier Siegel wie auf Church's Rücken zu sehen.
"Das du dich so hier hertraust...", hörte sie Did schimpfen, die alte Frau schien sehr aufgebracht.
"Aber ich muss doch sehr bitten, wie du weißt, habe ich gegen meinen Auftrag verstoßen und auf dich gehört!", Shanora kannte die Stimme ihres Besuchers.
"Eva!", sie gesellte sich zu den beiden, "Was machst du den hier?" Sie war sich nicht sicher, ob es ein erfreulicher Besuch war.
"Shanora!", Eva lächelte und deutete ihr näher zu kommen. Sie trug wieder diesen weißen Umhang, der das meiste ihres Gesichts verbarg.Shanora bemerkte, dass es zwischen Did und Eva eine Vorgeschichte geben musste. Die alte Frau war vielleicht ein wenig verrückt, aber grundlos sollte sie nicht so böse auf andere reagieren.
"Did, erzähl Shanora was vor 10 Jahren passierte!", bat Eva die Alte, "Ich werde ihr dann auch noch ein paar Dinge erzählen!"
Did seufzte und setzte sich auf den Drehstuhl von Finns Schreibtisch: "Vor 10 Jahren, als Finn gerade dabei war das volle Potenzial seiner Kräfte zu erforschen, traf ich Eva. Treffen ist übertrieben, sie wurde geschickt um deinen Bruder zu töten!"
Shanora schauderte, warum sollten die hohen Himmel so etwas zulassen.
"Man dachte er würde eine Gefahr darstellen, mit allem was er an Kraft gewinnen kann!", Eva zuckte mit den Schultern.
"Aber ich konnte sie überzeugen dem Schicksal eine Chance zu geben!", erzählte Did weiter, "Sie verließ also die hohen Himmel und büßte mit ihrem Gedächtnis. Ein neues musste her, und so übernahm sie den goldenen Fuchsgeist von Argenshire und wurde zu seinem Gefäß. Damit übernahm sie auch die Erinnerungen des letzten Trägers.
Der Rest der Geschichte ist schnell erzählt. Finn, dieser Idiot, verliebte sich unsterblich in den Engel und opferte sein Leben für sie. Eva konnte das nicht zulassen, sie opferte sich, um ihn zu retten! Jetzt ist sie wieder ein Engel und muss sich eingestehen, dass ich altes Gemüse recht hatte!"
Shanora starrte fassungslos zwischen den beiden hin und her. Dann lehnte sie sich an den Schreibtisch ihres Bruders: "Gut, und warum bist du jetzt hier? Was willst du mir erzählen, Eva?"
Eva fasste ihr an die Stirn: "Ich kann es dir sogar zeigen!"
Shanora wurde, ähnlich wie bei dem Oculus, welches sie benutzte, aus dem Raum gezogen. Alles verzerrte sich, bis sie wieder in Schwarzwasser stand.
Da entdeckte sie Finn, er streifte durch Schwarzwasser, er suchte jemanden. Zielsicher ging er über die dunkle Gasse in Hafennähe zu einer der mit billigen Neonreklamen beleuchteten Bars.
„Na Süßer, wie wäre es mit uns beiden?“, fragte eine der Damen vor der Türe lasziv. Shanora verzog das Gesicht, als Mann schien das dort fast noch widerlicher zu sein. Finn gab ihr ein Paar große Scheine, hielt sie aber sofort auf Abstand: „Ich will nur wissen, ob da drinnen jemand bestimmtes ist! Ein Schatten, schwarzes Haar, beinahe schwarze Augen!“
Die Dame ließ die Scheine verschwinden und lächelte mit den übertrieben geschminkten Lippen: „Ein attraktiver Mann, aber er scheint kein Interesse an uns zu haben, so wie du! So kalt wie Stein! Sein Freund aber, der mit dem grauen Haar, der besucht uns regelmäßig!“ Finn nickte, eindeutig der, den er suchte. Aber mit Anhang, wie beim letzten Mal. Er rollte mit den Schultern, bereitete sich auf einen möglichen Kampf vor, dann trat er in die Bar ein. Die schmuddelige Einrichtung und die schlechte Beleuchtung waren kein Problem für ihn, er konnte den grauen Zopf des Druiden durch die Menge schimmern sehen. Er saß an einem der runden Tische an der Wand, auf einer der billigen roten Kunstlederbände, auf seinem Schoss eine leicht bekleidete Frau. Auf einem Stuhl daneben der, den er suchte, der Schatten, blicke auf sein Glas gerichtet.
Finn beeilte sich und tippte ihm auf die Schulter. „Ich habe schon gesagt, das ich keine Gesellschaft möchte!“, entfuhr es dem schwarzhaarigen Mann genervt.
„Was ist mit einem kleinen Ausflug?“, der Schatten schien seine Stimme zu erkennen, aber sah keinen Grund darin aufzusehen.
„Der Prinz der uns in Harmun aufgemischt hat, was willst du in einer Stadt wie Schwarzwasser?“, fragte er gelangweilt.
Finn drehte sich um: „Folge mir, ich möchte dir etwas zeigen!“ Dann verließ er die Bar und wartete ein paar Sekunden vor der Türe. Der Schatten war ihm gefolgt, sah ihn nun doch interessiert an: „Es ist jetzt beinahe 8 Jahre her, was in Harmun geschah. Bereust du was du damals nicht getan hast?“ Finn schmunzelte, er hatte gewusst, dass der Schatten zu gerne wissen wollte, was er im Schilde führte. „Nein, aber du wirst es eines Tages bereuten“, er setzte sich in Bewegung, „folge mir, wenn du bereit bist die Folgen deiner Taten zu sehen!“
Wie erwartet folgte ihm der Schatten, sie gingen ein paar Straßen weiter, wichen einigen Prostituierten aus und standen dann vor einer billigen Herberge.
„Was willst du mir hier zeigen?“, der Schatten schien immer noch nicht zu verstehen, was hier vor sich ging.
Finn deutete ihm von nun an zu schweigen, sie schlichen in die Herberge, in der Gemeinschaftsküche brannte noch Licht.
„Du solltest zu Bett gehen Caja“, die düstere Stimme des Mannes mit dem kurzen schwarzen Haar kannte der Schatten, das war der Mann mit den Fäden.
„Ich weiß“, die angesprochene hatte langes rotes Haar, welches ihr bis zur Hüfte reichte. „Finn wird bald zurückkehren!“, der Mann erhob sich und deutete auf das Zimmer mit der Nummer 3. Langsam setzte die junge Frau sich in Bewegung: „Gute Nacht, Pisser!“ Dieser ging zu dem Zimmer mit der Nummer 4 auf der Türe: „Gute Nacht dumme Gans!“ Die Türen schlossen sich und Finn sah an dem immer noch verwirrten Blick des Schattens das er nicht verstand, was er hier sehen sollte. „Das ist das kleine Mädchen aus Harmun“, erklärte Finn ihm schließlich genervt. „Du hast sie groß gezogen, schön für sie“, er Schatten schien kein Problem zu sehen.
Finn nickte: „Ich und mein Partner habe mir Mühe gegeben zu ersetzen was du ihr genommen hast! Den Vater, die Mutter, das Zuhause!“ Der Schatten schien auch davon wenig beeindruckt zu sein.
„Komm mit!“, Finn schlich mit ihm durch den Gemeinschaftsraum bis zu Zimmer Nummer 3. Leise öffnete er die Türe, in dem kleinen Raum stand ein Bett und eine Kerze flackerte auf dem kleinen Nachtkästchen. Die Farbe blätterte schon von den Wänden und Schatten tanzten durch den Raum.
In dem Bett lag die junge Frau, zusammengekrümmt unter der Decke. Ein Schrei entwich ihrer Kehle obwohl die schlief.
„Bitte, nein... Hört auf!“, wimmerte sie, „lasst die Menschen... Der Schnee ist rot, hört auf!“ Der Schatten starrte mit weit geöffneten Augen auf die rothaarige Frau die sich in ihrem Alptraum hin und her wälzte.
„Ich habe getan was ich konnte, aber diesen Schmerz konnte ich ihr nicht nehmen“, erklärte Finn ihm, „schau hin, das ist was ihr getan habt! Sie wird vielleicht den Rest ihres Lebens Nachts keine Ruhe finden! Weil sie eure Gesichter vor sich sieht!“ Der Schatten wollte sich abwenden, aber Finn packte ihn am Arm: „Sieh hin, oder verkraftest du den Anblick deines Werks nicht? Was hat euch so grausam gemacht? Und was gibt euch das Recht so etwas einem Menschen anzutun?“
Shanora musste ihrem Bruder recht geben. Auch ihr tat das Mädchen von Herzen Leid. Die Arme litt schrecklich, aber Finn hatte doch genau so zu leiden gehabt. Sie streckte die Finger aus, wünschte sich nichts mehr als ihren Bruder berühren zu können. Das Bild begann zu verschwimmen, am liebsten wäre Shanora noch ein wenig in der Vision geblieben. Einfach um Finns Stimme noch länger zu hören, ihn noch länger so lebendig zu sehen.
"Shanora?", Evas Stimme klang besorgt, "Geht es dir gut?" Shanora wischte sich schnell die Träne, die sich ihren Weg über ihre Wange gebahnt hatte, weg.
"Ja, alles in Ordnung!", Shanora wechselte einfach das Thema, "Churchs Onkel und Finn sind sich also nach der Tragödie in Harmun erneut begegnet! Und er hat sich um diese Caja gekümmert. Aber warum hast du mir das gezeigt?"
Eva lächelte: "Was er da getan hat war einer der Gründe warum ich ihn nie als Bedrohung empfinden konnte! Caja ist seine Buchmacherin, findet sie, dann werdet ihr mehr antworten finden!"
Shanora lächelte, auch wenn sie an dem harschen Umgangston von Caja und Chruch eine Freundschaft ausschloss, so kannte er sie doch. Sie zu finden sollte also nicht das größte Problem sein.
"Gut, dann gehe ich jetzt!", Eva begann sich aufzulösen, "Viel Glück bei eurer Suche, und passt auf eure Untote auf! Sie strahlt eine unheilvolle Macht aus!"
Lillet schlug gegen die Scheibe: "Ich kann euch hören!"
Shanora schenkte ihr ein versöhnliches Lächeln: "Sorry, aber solange jede Topfpflanze sofort den Geist aufgibt hat Eva recht!"
Lillet verdrehte genervt die Augen und ließ sich wieder auf das Feldbett fallen.
"Gut!", Did deutete auf die Treppe, "Chruch und Marbas sollten eure Expedition wie du es so schön genannt hast, ausreichend vorbereitet haben! Du solltest sie nicht warten lassen, sonst schlagen sie sich wieder die Schädel ein!"
Shanora eilte nach oben und fand Marbas und Chruch schließlich, wie erwartet streitend, in der großen Garage.
"Ein Maybach oder einer dieser anderen Luxusschlitten sind ungeeignet!", beharrte Marbas auf seiner Meinung, "Etwas Altes muss her!"
Church näherte sich ihm bedrohlich: "Unter all den Autos hier, warum genau meines?" Marbas verdrehte die Augen: "Weil es nicht sofort gestohlen wird! Und es bietet genug Platz sowie einen soliden Kofferraum, ich habe das schon getestet!"
Church packte ihn am Hals: "Du hast mein Auto angefasst? Das hättest du nicht tun sollen!"
Shanora beschloss das jetzt zu beenden: "Church, lass ihn los!"
Marbas war erleichtert, dass Shanora ihm zur Hilfe kann: "Ist der immer so mies darauf? Dieser Schrotthaufen hat nicht einmal eine Zentralverriegelung!"
Shanoras Blick viel auf das einzige Auto, das scheinbar für jeden leistbar wäre.
Einen olivgrünen Jaguar XJ, Baujahr 1993. Helle Ledersitze, fast gar keine Elektrik, aber eines der ersten Modelle mit einer Klimaanlage. Außerdem hatte die alte Limosine eine dieser süßen Kühlerhaubenfiguren.
"Das scheint hier wirklich das einzige Auto mit einem Kofferraum zu sein!", stellte Shanora fest, "Und Marbas, greif keine Dinge an die dir nicht gehören!"
Marbas nickte eifrig: "Aber natürlich, mache ich nicht mehr! Wenn ihr erst seht, was ich eingebaut habe!"
Er öffnete mit einer Büroklammer den Kofferraum und klappte voller Stolz den Deckel hoch.
Church zog eine Braue hoch: "Du willst uns nichts zeigen?"
Shanora konnte auch nicht mehr als einen leeren Kofferraum erkennen.
Marbas grinste: "Der Feind soll denken, dass es sich um einen leeren Kofferraum handelt! Aber..."
Er klopfte dreimal auf den hinteren Rand, plötzlich sprang eine zweite Abdeckung hoch und offenbarte ein Arsenal an Waffen und Ausrüstung.
"Wie ihr seht ist alles da!", Marbas blickte erwartungsvoll zwischen den beiden hin und her.
"Trotzdem wirst du nie wieder mein Auto anfassen!", knurrte Church und zog den Schlüssel aus seiner Manteltasche. Shanora betrachtete ihn, er trug Stiefel, eine schwarze Hose mit vielen Taschen, ein scheinbar normales Shirt und einen schwarzen Mantel.
"Du solltest auch einen tragen!", Kyras Stimme ließ die drei herum fahren. Die Jägerin lächelte zumindest Shanora freundlich an und hielt ihr einen der schwarzen Mäntel hin.
"Es ist wichtig, dass dich niemand erkennt!", Kyra wartete, bis Shanora den Mantel angezogen hatte, dann zog sie eine Schere aus ihrer Manteltasche.
"Was hast du vor?", Shanora schluckte schwer, sie rechnete mit dem schlimmsten.
"Ach die sind doch eh windschief! Außerdem suchen die Ginn nach einem Mädchen mit langen schwarzen Haaren! Er hat ein Kopfgeld auf dich ausgesetzt!", Kyra ging hinter Shanora und nahm ihre Haare in die Hand. Shanora nickte und kniff die Augen zusammen, sie hörte wie sich Kyra mit der Schere durch ihr dickes Haar arbeitete. Strähnen vielen ihr ins Gesicht, sie gingen bloß noch knapp unter ihr Kinn.
"Sie wachsen wieder!", versuchte Church die zu trösten, "Außerdem sind sie jetzt gerade!" Shanora fuhr sich ein paar mal durch die Haare, ihr Pony war bis unters Kinn herausgewachsen gewesen, an dieser Stelle hatte Kyra sie abgeschnitten. Viele verschieden lange Strähnen lagen um sie auf dem Boden verteilt.
"Nicht so schlimm!", Shanora versuchte tapfer zu sein. Kyra gab noch eine schwarze Maske, die ihr Gesicht bis zu den Augen verhüllte: "Niemand darf erfahren wer ihr seid!"
Church hatte eine ähnliche angelegt. Er reichte Shanora außerdem ein ledernes Brillenetui. Darauf prangerten die Buchstaben Dior. Es war abgewetzt, Shanora öffnete es und erkannte die schwarze Sonnenbrille darin sofort. Finn hatte das Ding geliebt, immer getragen und dabei gehabt.
"Ich dachte deine Augenfarbe verrät vielleicht zu viel und du solltest sie tragen! Er hatte sie oft als Glücksbringer dabei!", Church lächelte und legte sich ebenfalls eine Maske an.