Hungrig und immer noch müde wachte Nia am nächsten Morgen auf. Ratlos sass sie auf der Bettkante. Wie weiter? Am liebsten würde sie gleich wieder den Rückflug antreten. Nach Hause zurückkehren in ihre vertraute Umgebung und alles vergessen. Missmutig blickte sie ihre Flöte an, die ihr während des Schlafs offenbar auf den Boden gerutscht war. Wieso hatte sie, Nia, sich nur so in die Irre führen lassen? Wieso hatte sie all diesen verrückten Bildern nur geglaubt? Vermutlich hatte sie sich alles nur eingebildet: Den Mann mit dem Hut, die Hütte, das Feuer und die Menschen darum herum, das Reh.
Das Reh! Wie ein Blitz durchzuckte sie ein warmes Gefühl bei diesem Gedanken und breitete sich in ihr aus. Sie erinnerte sich an den Traum im Flugzeug. "Meine Tochter" hatte das Reh sie genannt. Dass sie nicht aufgeben solle in diesem für sie so neuen und fremden Land. Und dass es auf sie aufpassen werde. Nia lachte bitter auf. Von wegen aufpassen! Der Start war schon mal gründlich missglückt! So schnell es gekommen war, verschwand das warme Gefühl wieder.
"Wie wäre es, wenn du erst mal frühstücken würdest?" Thea, auf der anderen Seite des grossen Wassers aus dem Schlaf gerissen, hatte der verzweifelten Nia voller Anteilnahme zugehört. "Gut möglich, dass die Welt nachher etwas anders aussieht! Und, Nia, lass dich nicht entmutigen! Wer weiss, was diese Reise für dich noch bereithält! Dein inneres Gefühl stimmte doch, wenn ich mich nicht irre?"
Thea hatte recht. Zuerst einmal brauchte Nia etwas in den Magen. Und die Erinnerung daran, dass sie sich auf ihr inneres Gefühl verlassen konnte, liess ihren Mut wieder etwas aufleben.
"Danke, Thea!" flüsterte sie leise und legte auf.
Ok, Nia war sich von zu Hause ein anderes Frühstück gewöhnt. Aber ihre Kräfte kehrten zurück und damit auch ihre Zuversicht. Sie beschloss, dieses Land, von dem sie schon so viel gehört hatte, auf eigene Faust zu bereisen, ohne den Mann mit dem Hut zu suchen. Natürlich zog es sie in den Westen, aber der war riesig gross und die Chance, dass sie sich begegnen würden, war verschwindend klein. Nia spürte Stolz in sich aufsteigen. Sie lief keinem Mann nach, sie nicht!
Nia packte ihren Rucksack und machte sich auf. Als erstes wollte sie sich einen Flug buchen in den Westen.
Ratlos stand sie kurze Zeit später am Flughafen und sah sich um. Obwohl sie die Karte gründlich studiert hatte, war sie nun doch unsicher, welchen Flug sie am besten nehmen sollte. Auch das amerikanische Englisch bereitete ihr noch Mühe, Erkundigungen einholen fiel ihr schwer. Seufzend liess sie sich auf eine Bank sinken, um in Ruhe zu überlegen.
Eine alte Frau setzte sich neben sie.
"Warum bist du hier?" fragte sie nach einer Weile leise.
Nia schaute die Frau verblüfft an. Ihr Blick kam ihr seltsam bekannt vor, aber sie konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, wo sie sie schon einmal gesehen hatte.
Ja, warum war sie hier? Nia begann zu grübeln. Als sie den Kopf wieder hob, war die Alte verschwunden.
Nia verliess das Flughafengebäude. Diese alte Frau hatte ihr eine wichtige Frage gestellt, das spürte sie mit aller Deutlichkeit. Und bevor sie darauf keine Antwort gefunden hatte, wäre es wohl besser, nicht gleich weiterzufliegen.
Den ganzen Tag streifte Nia durch die Stadt. Staunend, neugierig und, wie sie merkte, mit offenem Herzen. Sie liess sich treiben, vertraute sich dem Strom der Menschen an, die wie sie unterwegs waren.
"Warum bist du hier?" Immer wieder schien es ihr, sie höre diese mit leiser Stimme gestellte Frage in ihrem Kopf.
"Warum bist du hier?"
Erschöpft fiel Nia am Abend ins Bett. Viele neue Eindrücke wirbelten durch ihren Kopf und suchten sich ihren Platz. Kurz bevor sie einschlief, erschien das Gesicht der alten Frau, die sie am Flughafen getroffen hatte, vor ihrem inneren Auge und Nia meinte, sich zu erinnern, wer sie war. Aber schon glitt sie in einen langen Schlaf mit Träumen von Flöten, hohen Häusern, unendlich vielen Menschen und Flugzeugen in warmen Farben.