Verängstigt blickte der Junge sich um. Sein Atem rasselte und die schmale Brust fühlte sich zu klein an für sein rasendes Herz. Er musste sich verstecken, unbedingt...
Seine Füße machten leise klatschende Geräusche auf dem kalten Steinboden, seine Schuhe hatte er beim Laufen verloren. Panisch rannte er den Säulengang entlang. Wenn er nur Bruder William würde erreichen können, dann wäre er sicher. Ein leises Schluchzen entrang sich seiner Kehle.
Bruder William war nicht da. Er war auf Reisen, unterwegs zu einem anderem Kloster.
Er war allein!
Erschöpft blieb er stehen und sah sich hektisch um. Dort in einer der Kammern würde er sich verbergen können, bis der Zorn des Abtes abgeebbt war. Strafe würde ohnehin folgen, das wusste er. Zitternd zog er die Tür des Verschlages hinter sich zu und verbarg sich hinter Gartengeräten und modrigen Kisten. Irgendwo hörte er ein Geräusch und zuckte zusammen. Bebend vor Angst presste er seine kalten Finger an die Lippen. Seine Wangen waren tränennass.
»Heilige Mutter, bitte steh' mir bei. Ich habe nichts Unrechtes getan!«, betete er mit leiser Stimme, als die Tür aufgerissen wurde. Der alte Abt, rattengesichtig, niederträchtig, mit einem unlauteren und frevelhaften Glimmen in den Augen, stand dort, die Gerte in der Hand, bereit zu strafen.
»Hey Henry...«
Dionysos riss die Augen auf. Die Furcht des Kindes aus seinem Traum, der schreckliche Nachhall einer lange vergangenen Erinnerung, brach sich Bahn durch seine Selbstbeherrschung.
Hunger!, schrie die Bestie in ihm und ließ ihn knurren. Er roch Garrett mehr als dass er ihn sah. Sein Duft war so frisch, so voll, köstlich, rein. Ohne bewusst zu denken, warf er sich vor und packte ihn. Die Wärme seiner Haut, das geschmeidige Gefühl seiner neugewonnenen Muskeln, der schimmernde Schmelz und die Weichheit erregten ihn. Er musste ihn haben, hier und jetzt. Vollständig!
Als das heiße Blut seine Lippen benetzte, versank er in Glückseligkeit. Mechanisch, ohne es recht zu merken, zerriss er das bisschen Wäsche, das Garrett trug und nahm nicht nur dessen Blut, sondern auch seinen Körper.
Garrett schien keine Furcht zu empfinden. Überraschung, Schmerz ob der unerwarteten Vereinigung, sicher. Doch er beklagte sich nicht. Vielmehr schien er es zu genießen.
Dionysos erwachte erst aus seinem Taumel, als er Garretts Schrei hörte und dessen Höhepunkt heiß auf seinen Fingern spüren konnte. In der selben Sekunde riss es auch ihn in den Abgrund. Ermattet verschloss er die feine Halswunde an Garretts Hals mit seinem Speichel, damit sie heilen konnte.
Der Junge war blass. Sein Hals und auch die Arme, wo Dionysos ihn gepackt hatte, wurden blau und er lag vor ihm wie eine feingliedrige Puppe. Erschrocken legte der Vampir sein Ohr an die Brust Garretts. Sein Herz schlug noch.
Erleichtert darüber und erbost über seinen Kontrollverlust wischte Dionysos sich den Rest des Blutes vom Kinn, hob Garrett sanft hoch und trug ihn ins Schlafzimmer. Vorsichtig bettete er ihn in die Kissen, bevor er ihn etwas saubermachte.
Ich habe mich fürchterlich gehen lassen!, dachte der Vampir gereizt. Jahrelang hatte er schon kein Menschenblut mehr getrunken oder gar jemanden gebissen!
Und nun ausgerechnet Garrett. Und er hatte ihm wehgetan, ganz sicher. Der Höhepunkt war eine mechanische Reaktion seines Körpers. Dionysos bezweifelte, dass der Junge Spaß hatte an diesem gewaltsamen, raubtierhaften Überfall.
Ein leises Murren zeigte an, dass Garrett wieder zu sich kam. Er zuckte, als er die Augen öffnete und Dionysos am Bettrand sitzen sah.
»Es tut mir leid«, murmelte dieser. Der Junge drehte den Kopf weg und Dionysos konnte Tränen in seinen dunklen Augen erkennen.
»Du hasst mich jetzt, richtig?«
Garrett schniefte, schwieg aber.
»Du hast jeden Grund dazu.«
»Das ist es nicht...«, heulte Garrett los und wischte sich peinlich berührt über die Augen.
»Warum... weinst du dann, wenn nicht wegen der Schmerzen, die ich dir zugefügt habe?«
»Du bist ein Idiot, wenn du das immer noch nicht weißt!«, brummte der Junge mit belegter Stimme und kratzte sich an der Stelle, wo noch vor wenigen Minuten seine offene Halsschlagader war. Dass sie verheilt war, schien ihn nicht zu wundern.
Dionysos schwieg betreten. Da war es wieder, das leidige Thema.
»Ich... hatte das Gefühl, deine Seele gespürt zu haben«, murmelte Garrett nach einiger Zeit. Offenbar hatte auch er kein Interesse daran, sich mit dieser einen Frage auseinanderzusetzen.
Dionysos schmunzelte. »Und ich deine. Das geschieht beim Bluttrinken. Man liest den anderen.«
»Soll das heißen, du kennst jetzt alle meine Geheimnisse?« Garrett forschte in seinem Inneren, doch da war nichts, was er nicht auch schon vorher über den Vampir gewusst hätte.
»Nein. Zum Glück. Doch man sieht das Wesen des anderen.«
»Dann bist du vor allem einsam. Das habe ich am stärksten gespürt«, murmelte Garrett.
»Du auch. Außerdem bist du verwirrt. Und traurig, aber wer wäre das nicht in deiner Situation...«
Eine Weile schwiegen sie beide. Garrett hatte ein Stück der Decke über seinen Körper gezogen und kraulte den Kater, während Dionysos in die Finsternis des Waldes hinaus sah.
»Wie fühlst du dich?«
»Hungrig. Sogar sehr hungrig. Und müde.«
»Und... körperlich? Ich meine, ich... ich hab nichts benutzt, um es leichter zu machen...« Selbst durch das Licht der Kerze konnte Garrett sehen, dass Dionysos errötete. Das war ein charmanter Wesenszug an ihm.
»Geht schon. Ich hätte gedacht, dass so was schlimmer wäre. Aber du hast mich ja auch nicht vergewaltigt...«
»Ich fühle mich aber so, als hätte ich... ich habe dich nicht um dein Einverständnis gefragt und ich habe dich mit Gewalt genommen. Dabei sollte ich es besser wissen...«
»Ach was. Es tat nur im ersten Moment weh. Das war bis jetzt immer so, egal was du gemacht hast, um es leichter zu machen. Mir fehlt vermutlich die Übung.«
Garrett lächelte Dionysos an. Tatsächlich verspürte er kaum Schmerzen, trotz der rohen Vereinigung.
»Kann ich was ordentliches zu essen kriegen?«, fragte er, um das Thema von seinem Hintern abzulenken, und Dionysos nickte.
»Fleisch bekommst du. Und ein großes Glas Wein. Keine Widerrede, das hilft beim Blutbilden. Sonst bist du morgen krank und schlapp.«
Sich seiner Nacktheit überdeutlich bewusst, stieg der Junge aus dem Bett und zog neue Shorts aus dem Koffer. Die alten lagen in Fetzen im Wohnzimmer.
»Die Muskeln stehen dir«, sagte Dionysos leise hinter ihm. Garrett errötete, weil der Vampir ihn so unverhohlen ansah. Albern angesichts der Dinge, die zwischen ihnen - und ohne viel Stoff - bereits geschehen waren.
»Danke. Jack fordert einen ziemlich.«
»Deswegen ist morgen für dich trainingsfrei. Du musst dich nach meiner... Attacke erst wieder erholen.«
Garrett schlüpfte in die Unterhose und wollte sich nickend zu Dionysos umdrehen, als ihm schwarz vor Augen wurde und er schwankte. Der Vampir fing ihn auf und barg das Gesicht des Jungen an seiner Brust.
»Bleibst du bei mir heute Nacht? Ich möchte endlich mal wieder richtig schlafen«, murmelte er in den Stoff von Dionysos' Hemd. Dieser strich ihm zärtlich das Haar zurück.
»Geht mir genauso. Aber erst bekommst du etwas zu essen.«
Dionysos legte sich Garretts Arme um die Schultern und trug ihn rittlings wie ein Kind in die Küche, als dieser im Gehen noch ein Shirt aus dem Koffer zog. Während er anschließend müde versuchte, sich dieses über den Kopf zu ziehen, holte Dionysos eine alte und sehr verstaubte Flasche aus seinem verborgenen Keller. Wenn man nicht wusste, dass da eine Tür im Boden war, sah man diese auch nicht. Dort unten war es erstaunlich trocken und sauber. In zwei der Kammern schliefen die drei anderen Vampire. Es war behaglich. Doch die Weinflasche musste aus dem alten Teil stammen, wo es kühl und dunkel war. Nahe den Fluchttunneln.
Der Vampir stellte die Flasche auf dem Tisch ab und suchte ein großes Glas, was Garrett die Gelegenheit gab, sich das Datum anzusehen, wann der Wein gekeltert wurde.
»Sag mal, spinnst du?«
»Bitte?«, fragte Dionysos überrascht. Er wusch gerade einen Ein-Liter-Becher aus und hatte ein kleines Sieb zum Trocknen hingelegt.
»Dieser Wein ist von 1822! Der ist ein verdammtes Vermögen wert. Den trink' ich nicht, kannst du vergessen.« Garrett verschränkte die Arme vor der Brust und zog einen Schmollmund.
Der Vampir stellte ungerührt den Becher und das Sieb auf den Tisch, nahm den Korkenzieher und entkorkte die Flasche. Das Wachssiegel hatte er schon auf dem Weg nach oben abgepellt.
Garrett beobachtete bestürzt, wie der Korken aus dem Flaschenhals glitt und Dionysos roch daran.
»Hm, riecht gut. Ich hoffe nur, der ist nicht verkorkt.« Er lachte wegen Garretts Gesichtsausdruck. »Verzieh' nicht so das Gesicht. 1822 war kein gutes Jahr für Wein. Auch nicht für französischen. Zu feucht.«
Der Vampir legte das Sieb auf den Becher und ließ den dunkelroten, schweren Wein hindurchlaufen.
»Hm, gut gefiltert ist er allerdings nicht«, murmelte er, als er die labberigen Traubenreste in den Mülleimer beförderte. Dann schob er Garrett den Becher zu.
»Ich hätte dir gern ein vornehmes Glas serviert, doch so etwas habe ich nicht. Trink langsam. Der ist bestimmt stark.«
Noch immer erschüttert, dass er Wein im Wert von mehreren hundert Pfund in dem einfachen Becher vor sich stehen hatte, griff der Junge danach, während Dionysos sich anschickte, ein paar Steaks zu braten.
»Wie ist er?«
Garrett nippte an dem Wein. Er war dick, dunkel, schwer und... leider gar nicht so süß, wie er gehofft hatte.
»Eklig.«
»Kork?«
»Nee... aber pelzig auf der Zunge, trocken, rau. Wie kann ein so schön gefärbter Wein so eklig herb sein?«
Dionysos lachte. »Ich weiß nicht mehr, wodurch es kommt, dass Weine herb werden. Aber das haben leider sehr viele, deswegen mag ich keinen Wein. Ich hab es auch lieber süß.«
»Wie Blut?« Garrett kicherte.
»Das würde dir gar nicht so süß vorkommen. Mir schon. Aber ich meine eher Fruchtweine.«
»Muss ich den Humpen trotzdem trinken?«
Dionysos brummte. »Ich fürchte, ja. Sieh' es als Medizin. Sobald dir schwindelig wird, hörst du auf. Ich will dich schließlich nicht abfüllen.«
»Wozu auch? Ich würde es dir auch freiwillig geben.« Garrett wurde rot und Dionysos schmunzelte.
»Heute nicht mehr. Ich habe dir genug genommen.«
Mit einiger Überwindung nahm Garrett noch zwei Schlucke von dem Gesöff und der Vampir stellte einen Teller mit Mini-Steaks und Rührei vor ihm ab. Hungrig stopfte der Junge sich den Mund voll, während Dionysos den Wein kostete. Er verzog die Lippen.
»Ich sage ja, ein schlechtes Jahr. Denn verdorben ist der nicht. Damit kann man sich ja höchstens die Füße waschen. Irgendwie muss man den doch süßer bekommen...«
»Sschucker?«, nuschelte Garrett mit vollem Mund.
»Igitt, nein. Aber vielleicht...« Er trat an einen Vorratsschrank und durchstöberte die Getränkeflaschen. Er zog eine hervor, schraubte sie auf und roch daran. Dann lächelte er und goss den Inhalt in den Weinbecher.
»Kirschsaft?« Garrett las das Etikett und der Vampir nickte. Er rührte das Getränk um und kostete.
»Jetzt ist es genießbar. Hier, trink!«
Der Junge schob den leeren Teller beiseite, nahm den Becher und setzte ihn an. Jetzt schmeckte das Gesöff tatsächlich fast gut. Durch das Essen hatte er Durst bekommen und leerte das Gefäß mit nur zwei Schlucken fast um die Hälfte. Er schmeckte den Wein nicht mehr, doch er spürte ihn.
Schlagartig wie eine Abrissbirne.
Weinselig fing er an, zu grinsen. Er wollte noch einen Hieb nehmen, doch Dionysos, der den Schalk des Alkohols in Garretts Augen sah, nahm ihm den Becher weg.
»Es ist genug für dich. Du hast immerhin fast einen Liter Blut verloren. Du verträgst nicht noch mehr.«
Garrett zog ein Schippchen. »Das ist unge... ungere... äh, fies! Das is' meins!«
Dionysos schüttete den Rest des Weingemischs in den Ausguss und der Junge murrte bedauernd.
»Bis vor fünf Minuten fandest du ihn noch eklig und jetzt bist du betrunken. Ganz toll.« Der Vampir seufzte. Garrett stand auf - versuchte es - und wankte. Doch er schien das alles komisch zu finden, denn er kicherte wie ein Kind.
Dionysos musste lächeln. Garrett war vermutlich noch niemals zuvor betrunken. »Komm, mein Liebling. Ich bringe dich ins Bett, wo du hingehörst.«
Sanft schob er den rammdösigen Jungen in das dunkle Schlafzimmer. Die kleine Kerze war fast erloschen, also schaltete Dionysos die Nachttischlampe ein.
»Du bisch'n schöner Ma... ann!«, stotterte Garrett. Alkohol schlug ihm offenbar auf das Sprachvermögen. Er strich ihm über das Haar.
»Leg dich hin.«
Garrett schüttelte den Kopf, länger als notwendig. Wahrscheinlich arbeitete sein Gehirn durch den Alkohol langsamer als sonst und er bemerkte das nicht einmal.
»Dann... gehs' du weg... un' ich will nich' allein schlaf... schlafen.«
»Ich gehe nicht weg.«
»Nich'?«
Sanft drehte Dionysos Garretts Gesicht zur offenen Tür, hinter der die Küche noch hell erleuchtet war. Dann schnippte er mit den Fingern und das Licht erlosch. Ein weiteres Schnippsen ließ die Zimmertür zufallen.
»Jetzt zufrieden?«
»Cooooool«, säuselte der angetrunkene Junge und ließ sich widerstandslos von dem Vampir ins Bett legen. Der Kater war längst damit beschäftigt, Garretts Teller abzulecken, wodurch Dionysos genug Platz hatte.
»Komm her«, murmelte er und zog Garrett in seine Arme. Ein weiteres Schnippsen hüllte das Zimmer in Dunkelheit.
»Ich will nich' weg von dir. Mir ist egal, was es ist, ich will nich', dass es aufhört...« Garretts Stimme war leise und belegt. Er lallte noch immer, aber Liegen schien das Sprechen zu erleichtern.
Dionysos' Herz zog sich zusammen. Ihn gehen zu lassen, würde eine harte Prüfung werden. »Ich bin immer da, Garrett.«
Die Erschöpfung und der Blutverlust forderten ihren Preis und bereits wenige Minuten später war der Junge tief und fest eingeschlafen. Dionysos betrachtete ihn noch eine ganze Weile, bevor er selbst seiner Müdigkeit nachgab.
Es war Jacks Lachen, das Garrett aus dem Schlaf holte. Aus einem tiefen, festen, traumlosen, wunderbaren Schlaf. So gut hatte er seit der Beerdigung seiner Mum nicht mehr geschlafen. Es hatten ihn keine Alpträume geplagt und ihn ließ auch nicht jedes Geräusch aufschrecken. Sich streckend setzte er sich auf und fuhr sich durch die Haare. Nicht einmal einen Kater wegen des Weines hatte er. Er fühlte sich super.
Jack lachte wieder in der Küche und Garrett stieg in Socken und Jeans. Die Köpfe gingen herum, als er in den Raum trat.
»Du hast es echt nicht leicht, was, Kumpel? Da lässt man dich hier zu deiner Sicherheit und du wirst ausgerechnet hier von einem Vampir angegriffen...«
Garrett lächelte und kratzte sich an der Stelle, die noch immer blau war. »Ich hätte gedacht, es sei schlimmer. So voll killerspritzenmäßig.«
Jack zwinkerte. »Irgendwie müssen wir das Futter ja ruhigstellen.«
»Ist gut jetzt! Ich kann froh sein, dass ich ihn nicht umgebracht habe«, murrte Dionysos dumpf.
»In der Tat«, sinnierte Phil, der an einer Teetasse nippte.
»Ach kommt schon. Das ist doch jedem mal passiert. Mit gutem oder schlechtem Ausgang. Geht's dir gut, Tiger?«
Garrett nickte Jack zu.
»Dann ist alles gut. Aber Trainieren lassen wir heute. Deine Muskeln werden es dir auch danken.«
Dionysos stellte Garrett einen randvollen Teller hin und bedeutete ihm, zu essen.
Er gibt eine sehr gute Hausfrau ab!, dachte der Junge beiläufig und aß sein Mittagessen. Währenddessen lauschte er den Ereignissen der letzten Nacht.
»Ich weiß nicht, woher sie die Ghoule nehmen. Die Friedhöfe hier habe ich alle gebannt.« Phils schlanke Finger trommelten auf der Tischplatte.
»Was heißt das?«, fragte Garrett dazwischen. »Gebannt? Hast du die Toten in den Särgen angenagelt?« Beim Gedanken an seine Mum wurde ihm flau. Doch Phil lächelte sanft.
»Es gibt Banne, die Tote an der Auferstehung hindern, auch durch vampirisches Blut. Nur ein Geistlicher kann sie auferlegen und brechen. Allister hat keinen Geistlichen bei sich und meine Siegel sind intakt. Er muss sie aus den Nachbarorten holen, aber ich möchte die Stadt nicht verlassen.«
Dionysos nickte und stemmte sich auf Garretts Stuhllehne.
»Das wäre echt nicht so gut. Einer weniger würde uns nur schwächen, falls etwas passieren sollte. Lass ihn Ghoule machen, die sind das kleinste Problem - solange die Toten hier in Ordnung sind. Ich habe wenig Lust, Mrs. Pinkerton auf diese Art wiederzusehen.«
Garrett machte nur ein leises, zustimmendes Geräusch und Dionysos legte ihm die Hand auf die Schulter. Eine Geste, die die anderen wohlwollend zur Kenntnis nahmen.
»Sagt mal, was ist eigentlich mit mir?«
»Was meinst du?«
»Na, ich wurde gebissen. Passiert da nichts mit mir?«
»Nein«, antwortete Dionysos.
»Wie funktioniert denn dann eine Verwandlung? Bin ich nicht mit irgendetwas... infiziert oder so?«
Jack und Phil lächelten nur und Dionysos setzte sich.
»Um dich zu verwandeln, hätte ich dich töten und dann deinen Mund mit meinem Blut füllen müssen. Also dich so weit leersaugen, bis nur noch Sekunden an Leben in dir sind und dich dann trinken lassen.«
»Und dann?«
»Dann würdest du ins Koma fallen. Ein dunkles, nie endenwollendes, schmerzendes Koma, das in Wahrheit nur ein paar Stunden anhält. Doch es kommt einem wie die Ewigkeit vor.«
»Die ja begrenzt ist, wie du mal gesagt hast«, warf Garrett ein und Dionysos nickte schmunzelnd.
»Was dann?«, bohrte der Junge weiter.
»Dann erwacht man und alles ist... neu. Selbst die eigenen Hände sind anders, die Augen sehen einfach alles, die Ohren hören die Würmer im Boden wühlen und das Rascheln einzelner Blätter am Baum. Und dann kommt der Hunger. So jäh und plötzlich wie ein Schlag, schmerzhaft, verzehrend, nagend. Wer in diesen Stunden keinen Helfer hat, hält das meist nicht durch und greift irgendwann alles an, was Blut enthält.«
»Was tut der Helfer?«
»Angenommen, ich hätte dich verwandeln wollen, wäre ich auch dein Helfer gewesen. Ich hätte dir zu trinken gegeben. Mein Blut, das dir besser helfen würde, den ersten Hunger zu überstehen, weil es dich erschaffen hat. Ein Helfer bewahrt den Neugeschaffenen vor dem ersten Wahnsinn. Der flaut wieder ab und nach einigen Tagen fühlt man sich fast wieder wie vor der Verwandlung. Aber der erste Strom der Macht kann einen mitreißen.«
Garrett sah die drei Vampire an. Er ahnte, dass Dionysos auch Jacks Helfer gewesen war, da er ihn geschaffen hatte. Aber die anderen?
»Hattet ihr alle einen solchen Helfer?«
Jack zwinkerte nur, wie zur Bestätigung seines vorigen Gedankens.
»Ja«, sagte Phil leise. »Sie war meine... also, sie war eine... gute Freundin.« Die blassen Wangen röteten sich leicht, als Jack lachte.
»Du Schwerenöter. Sie war deine Geliebte! Eine verheiratete Frau. Mach' dir nichts draus, Gott wird dir schon verzeihen.«
Der Pfarrer lächelte nur milde und goss sich Tee nach, während Garrett Dionysos ansah.
»Ich hatte keinen Helfer. Ich weiß bis heute nicht, wie der Mann hieß, der mich verwandelte oder warum er das tat. Als mein erster Machtschub kam, kehrte ich ins Kloster zurück und vergiftete die Mönche, bei denen ich aufwuchs und die mich gequält haben.«
Alle in dem Raum kannten die Geschichte, weswegen Dionysos nicht weiter darauf einging.
»Also wird man ohne einen Helfer eher zu einem Killer?«, murmelte Garrett leise.
»Unsinn«, meinte Jack, »Getötet haben wir alle. Ob aus Hunger, im Krieg oder aus Notwehr. Manchmal lassen uns die Umstände keine andere Wahl. Das macht uns nicht zu Killern und auch nicht böse. Wills Art, sich zu rächen, war vielleicht etwas drastisch, aber angesichts der Erfahrungen, die er zu erdulden hatte, hätte ich vermutlich auch so gehandelt.«
Auch Phil nickte. Nicht enthusiastisch, aber zustimmend.
»Für den Vampir wie für den Menschen gilt: Du allein entscheidest, wer oder was du sein willst. Es war Wills Entscheidung, bis ins 18. Jahrhundert Rache an Geistlichen zu nehmen. Aber es war auch seine Entscheidung, schließlich damit aufzuhören und sich zurückzuziehen. Also brauchst du keine Angst haben, dich zu verändern. Das ist nur körperlich. Dein Herz bleibt das Selbe.« Jack grinste und Garrett atmete tief durch.
»Trotzdem gut, dass ich keiner bin.«
»Seh' ich auch so«, brummte Dionysos, während Jack und Phil nur lächelten.
»Sagt mal, wo ist denn eigentlich Anouk hin?«
»Bummeln und sich an der Schule umsehen, meinte sie.«
Garrett hatte ein schlechtes Gewissen, weil er seit zwei Wochen nicht mehr da war. Aber was sollte es, er würde eh die Schule wechseln. Weg von Kyle. Was für ein Lichtblick!
Dionysos hob den Kopf und lauschte. »Wohl nicht mehr, ich höre sie schon.« Und tatsächlich ging eine Minute später die Tür auf.
»Wir haben zu tun, Leute«, keuchte sie und klatschte einen grellbunten Flyer auf den Tisch.
»Oh je, das auch noch«, stöhnte Garrett entsetzt und alle sahen ihn erwartungsvoll an.