»Nicht bewegen, Junge«, flüsterte Karon mir zu. Ich sah, wie das Lächeln von seinen Lippen verschwand, er sich langsam in die Knie sinken ließ und Selinias Körper ins Moos zu seinen Füßen bettete. »Bleib ruhig.«
Er befahl es mir nicht, er bat darum. Wachsam folgte ich jeder seiner Bewegungen. Ich blickte an ihm herab und sah eine Ranke, die sich über den Waldboden bis zu seinem Fuß hin schlängelte und daran langsam hinauf. Wie eine Schlange klammerte sie sich um sein Bein, wucherte höher, und umgarnte zischelnd und knisternd seinen Körper.
Fragend sah ich ihn an, aber Karon schüttelte lediglich den Kopf. Ich nahm mir Zeit, ihn anzusehen. Sein feuchtes Haar war leicht gelockt und reichte ihm bis knapp über die Schulter. Es war nicht schwarz, sondern braun. Der Regen hatte es verwüstet, der Wind zerzaust. Nur die zwei sorgfältig geflochtenen Zöpfe kurz vor seinen Ohren, die er hinter dem Kopf zusammengebunden hatte, ließen es dennoch halbwegs ordentlich erscheinen.
Er wirkte ruhelos. Seine Augen glitzerten gehetzt. Er lief barfuß über den Grund. Eine Kette lugte aus seinem Umhang heraus - ein kleiner, versilberter Rabenschädel mit funkelnden Smaragdaugen, wie seinen eigenen. Seine Hände waren groß, seine Nägel schmutzig, als hätte er mit ihnen in der Erde herumgewühlt.
Karon war offenbar niemand, der an Äußerlichkeiten hing. Dreckig zu sein, schien ihm nichts auszumachen.
War er ein Mann, in dessen Nähe man um sein Leben fürchten musste?
Ich horchte in mich hinein. Jeder Blick in seine Seele, jeder Schritt in seinen Geist ließ mich mehr und mehr daran zweifeln, dass dieses Wesen ein Handlanger des Bösen sein sollte. Ich empfand.. nichts. Keine Gefahr. Keine Sorge. Keine dunkle Bedrohung, die mich niederringen wollte. Wieder hatte ich nur das Gefühl, einem Wesen in die Augen zu schauen, das sich in den Fängen des Schicksals verstrickt hatte. Vor mir stand ein Wanderer, dessen Weg noch im Dunkeln lag. Spürte er, wie er auf mich wirkte? Fühlte er, dass ich in seinen Gedanken ebenso lesen konnte, wie er in meinen?
Etwas berührte mich. Ich senkte den Blick und keuchte auf, als ich zwei lebendig gewordene Äste mit knotigen Enden sah, die sich in meine Richtung streckten. Wie Schlangen zischelten sie durch das Unterholz. Erst zwei, dann mehr und immer mehr.
»Nicht!«, fuhr der Dämon energisch auf, als ich zurückweichen wollte. »Halt still! Sie schauen dich nur an.«
Er hob warnend die Hand, regte sich danach jedoch selbst nicht weiter. Er sah mich nur an, fest mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt.
»Was sind das für Dinger?«, presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Mein Herz schlug schneller. Ich schaute zu ihm hin und eine zweite, vom Grund aufsteigende Wurzel züngelte um seine Hand, als wollte sie diese befühlen, berühren, betrachten. Sie hielt ihn nicht fest, sie studierte ihn aufmerksam. An ihren Enden hing je ein walnussgroßes blinzelndes Stielauge, gleich denen einer Schnecke. Ein Lid aus Rinde schützte den glänzenden Augapfel. Diese Dinger lebten. »Was, in Theremals Namen, ist das?«
»Das sind Kundschafter der Zhian-Ag«, wisperte Karon in meine Richtung. »Sie nennen sie Ain’esh, lebende Gehölze. Völlig ungefährlich, wenn man sie nicht ärgert. Sie melden den Bewohnern des Waldes, dass wir hier sind. Halt einfach still und sie verlieren schnell ihr Interesse an dir. Vertrau mir. Ich spüre es.«
»Du spürst es?«, fragte ich zweifelnd. Ich sollte gar nicht mit ihm sprechen.
Er nickte nur, erwiderte jedoch nichts.
Vertrauen? Einem Fremden, der mir möglicherweise an der nächsten Ecke den Hals umdrehen wollte?
»Ich weiß, wer die Zhian-Ag sind. Aber was tun wir hier?«, fragte ich wie ein Schwachsinniger und schämte mich im selben Moment für meine eigene Blödheit. Obwohl ich ein Kind dieser Welt war, fühlte ich mich oft wie ein Fremdkörper in ihr. Ausgegrenzt von der Außenwelt.
Karon blieb ernst. Seine wilden Augen ruhten entschlossen auf mir. »Ich gebe dir mein Wort darauf, dass ich dir alles erklären werde. Im Augenblick muss dir reichen, dass ich nicht dein Feind bin. Ich kannte deine Mutter sehr gut. Ich bin hier, weil sie mich vor einer Ewigkeit bat, ein Auge auf dich zu werfen, und ich werde zu meinem Schwur stehen. Als du mich gefunden hast, brachtest du dich und mich in große Gefahr. Ich biete dir meinen Schutz als Dank dafür, dass du mir meine Freiheit zurückgegeben hast. Alles Weitere erkläre ich dir, wenn die Gefahr gebannt ist. Ich verspreche es dir. Aber bis dahin musst du auf mich hören. Ich lasse nicht zu, dass dir etwas geschieht.«
Die Gefahr? Hatte er mir nicht eben noch erklären wollen, dass wir sicher waren?
Der Ast, der eben noch seine Hand befühlt hatte, grub sich in seinen Ärmel und legte eine große, nachtschwarze Bemalung auf seinem Unterarm frei. Sie sah aus, wie eine halbe Krähe, aber die Wirkung auf den Ast, der sie berührte, war fatal. Das Gestrüpp ächzte, stöhnte, als würde es Schmerzen leiden und begann von oben herab zu vertrocknen. Das Auge am Ende des Astes verdrehte sich. Der Augapfel fiel zusammen wie vertrocknetes Obst. Das Lid verschrumpelte. Tod zog sich durch die dahinschlängelnde Ranke, wie ein schleichendes Gift.
Die winzigen Blätter, die ihr anhafteten, wurden fahl, krümmten sich zusammen und sanken herab. Zischelnd zuckte die Wurzel zurück, ließ fluchtartig von ihm ab und das Ziepen an meinem Fuß ließ sofort nach. Die lebenden Hölzer zogen sich rasant zurück, als wären sie von Karon abgestoßen. Sie versanken knistern und züngelnd wieder im Erdreich. Was ging hier vor sich?
Ich warf dem Dämon einen fragenden Blick zu. Sofort zog er seine Ärmel wieder herab, um die unheiligen Male zu verbergen. Sah ich da Scham in seinem Gesicht?
Ich setzte zu einer Frage an, aber ich bekam keine Gelegenheit, sie auszusprechen.
Denn kaum, dass ich die Lippen geöffnet hatte, wurden die übrigen Äste rings um die Lichtung herum, kreischend zur Seite gedrückt. Schattenhafte Gestalten stoben aus dem Schutz des Waldes, geradewegs auf uns zu. Ich sah Speerspitzen aufblitzen, Bewegungen, die auf Bewegungen folgten, Schritte und Hiebe, und dann, noch bevor ich gewahr, was um uns herum geschah, waren Karon, Selinia und ich von grünglänzenden Körpern umgeben. Speere zeigten drohend auf unsere Körper, kohlefarbene Augen blitzten uns wütend an. Die Luft stockte in meiner Lunge.
Ich wurde gepackt, ehe ich auch nur eines der Wesen richtig betrachten konnte, vornüber zu Boden geworfen und niedergerungen. Mein Blick fuhr zur Seite. Ich sah, dass die Wesen auf zwei Beinen gingen, und dass ihre Körper unseren sehr ähnlich waren. Mit entscheidenden Unterschieden. An ihren Leibern lebten Pflanzen. Kleine Äste sprossen aus ihrer Haut. Ihre Rücken, Arme und Beine waren mit saftigen, grünen Blättern und Moos bewachsen und ihr langes, wirres Haar ähnelte zotteligem Seegras.
»Pest und Feuer!«, knurrte eine Stimme. »Ein Whyndrir!«
Whynwas? Die Wesen fauchten.
»Kein Wort!«, verlangte Karon von mir, als ich den Mund öffnen wollte. Sein Kopf fuhr herum, seine Augen funkelten zornig. Doch als er den Schrecken auf meinem Gesicht bemerkte, wurde seine Miene schlagartig sanfter und er fügte behutsam: »Bitte«, hinzu.
Ich schloss den Mund, presste die Lippen fest aufeinander und deutete ein Nicken an.
Dann versperrte mir ein Schatten die Sicht.
»Es ist lange her, mein lieber Winter, seit jemand wie du hierher kam.«
Winter? Whyndrir? Zhian-Ag? Was um alles in der Welt ging hier überhaupt vor sich?
»Vertrau mir!«, hörte ich noch einmal die Stimme des Dämons, dann geschah alles so schnell.
Die Wesen stürmten im Rudel auf uns zu. Sie drängen zu uns heran. Ich riss die Arme vors Gesicht und schrie. Und schon raubte mir ein dumpfer Schmerz die Sicht. Etwas traf mich hart am Hinterkopf.
Sterne tanzten vor meinen Augen. Und dann hüllte mich süße Stille in einen Schleier Gleichgültigkeit ein.