Er ging an ihrer Seite in die Hocke. Ich sah, wie er sie hochstemmte, an seine Brust lehnte, und fast flüchtig dem Pochen ihres Herzens an seiner Haut lauschte. Ich schaute zu, wie Leben in seinen Augen aufglomm. Er seufzte lautlos, aber es blieb mir nicht verborgen.
Dann ließ er ihren Kopf an sein Brustbein sinken und schloss die Augen. Seine freie Hand schwebte vor ihrem Gesicht. Er murmelte leise vor sich hin und Selinias fahle Haut füllte sich plötzlich mit neuem Leben.
Ihre Hand zuckte, klammerte sich in sein Hemd. Sie atmete durch, tief und ruhig. Ihre Finger krallten sich in den weichen Stoff, dann schlug sie die Lider hoch und blickte geradewegs in sein Gesicht.
Noch waren ihre Augen von Schwere und Wirrung gezeichnet.
Karon lächelte. Ein nostalgisches Glimmen erfüllte seinen Blick.
»Hey, Sel«, flüsterte er und seine Stimme brach den Zauber.
Mit einem Hieb schlug ihm die Fee ihre flache Hand vor die Brust. Der Stoß ließ sein Sternum krachen. Karon stockte der Atem. Seine Finger fuhren an die schmerzende Stelle. Der kurze Augenblick Unachtsamkeit ermöglichte Selinia den nächsten Angriff. Sie warf sich ihm entgegen, riss den Dämon zu Boden und stemmte sich mit aller Macht auf seine rechte Hand, nagelte sie am Grund fest, während sie aus dem Stiefel einen Dolch riss und an seine Kehle presste.
Karons schmerzverzerrtes Gesicht ging in ein Grinsen über. Ihre Bemühungen und die Entschlossenheit hinter jedem Hieb schienen ihn zu belustigen und gleichzeitig auch zu beeindrucken. Ich spürte, dass er sie mochte. »Schön, dich wiederzusehen«, hauchte er in ihr Gesicht, das direkt über seinem schwebte. »Dieses feurige Temperament habe ich furchtbar vermisst. Habe ich dir gefehlt?«
»Du-«, setzte die Düsterfee an, doch Zorn und Entsetzen schnürten ihr die Kehle zu. Sie verstärkte mit Nachdruck den Sitz ihres Dolches, bis das Grinsen des Schattenwesens Risse bekam. Dann warf sie ihm drei Worte in einer fremden Sprache entgegen und erstarrte. Nichts geschah. Selinia wiederholte ihre Worte, aber das Einzige, was auf sie folgte, war ein anerkennender Pfiff Karons.
»Deine Kräfte sind gewachsen«, stellte er fest. »Ich fühle, wie stark du geworden bist.«
Mit diesen Worten versetzte Selinia dem Dämon einen Hieb, der ihn zusammenzucken ließ, und rollte sich selbst zur Seite, sprang auf die Füße und blieb bebend vor ihm stehen. Den Dolch wie ein Schwert vor sich ausgestreckt. Als könnte dieses kleine Messer ihr Leben retten, denn ihr Zauber zeigte keinerlei Wirkung. Wie auch? Karons Winterherz fraß jede Magie, die ihm schaden wollte.
»Was hast du getan?!«, fuhr sie ihn wutentbrannt an. »Wieso wirkt mein Zauber nicht?!«
Ihre Stimme bebte aufgebracht. Sie wich zurück vor ihm, stellte sich schützend zwischen uns und hielt entschlossen die Stellung. Ich wusste, sie würde lieber sterben, als ihn durchzulassen.
Langsam kam auch Karon wankend auf die Füße. Er hielt sich die Rippen dort, wo die Fee ihn geschlagen hatte und bemühte sich, ihrem Blick standzuhalten. »Ich habe mich befreit«, sagte er gelassen. »Von Syra, von meinen Zwängen, von mir selbst.« Seine Stimme stockte. Der Schmerz presste ihm die Luft aus den Lungenflügeln. Sein Humor schien darunter nicht zu leiden. Er rieb sich die schmerzende Brust und schnaubte betroffen: »Ich kann nicht glauben, dass du mich geschlagen hast.«
»Ich kann nicht glauben, dass du mich verzaubert und uns beide entführt hast!«, fauchte die Fee entrüstet. In ihren Fingern bebte das Messer. »Wo sind wir? Was ist das für ein Ort. Und was, um Himmels Willen, willst du?« Plötzlich schien sie ein Gedanke zu durchfahren. Sie wandte sich zu mir um, musterte mich fragend und sagte: »Bist du verletzt?«
Ich schüttelte den Kopf und deutete ein Nicken in Richtung des Dämons an. »Er hat uns gerettet. Du solltest ihm zuhören.«
»Ich sollte..« Ein magischer Stoß riss ihr den Dolch aus den Fingern und schleuderte ihn in die finstere Tiefe der Höhle. Fassungslos betrachtete die Fee ihre leergefegte Hand, und im Anschluss mich. »Hast du nicht verstanden, was ich dir über diesen Mann gesagt habe? Er ist gefährlich! Er ist ein Dämon der übelsten Sorte! Er-«
»War«, mischte sich Karon ein und hörte auf, sein Brustbein mit zwei Fingern zu massieren. »Ich war gefährlich. Ich bin nicht einmal mehr ein Dämon. Das war ein anderes Leben. Ich habe mich aus diesem Bann befreit. Ich bin wieder ganz Herr meiner Sinne.«
Selinia lachte böse. »Wie könnte ich dir glauben, nach allem, was du getan hast? Ich hörte, du hast für Syra gemordet! Du hast Wesen, die dir vertrauten, verstümmelt und getötet. Du hättest nie die Kraft gefunden, diesen Bann zu zerbrechen. Nicht du!«
»Das habe ich auch nicht«, gab der Whyndrir zurück. »Ich hatte Hilfe.« Er neigte den Kopf zur Seite, deutete ein Nicken in meine Richtung an. »Seine Mutter.«
Ich sah, wie Selinia ungläubig die Augen zusammenkniff. Ihr Blick wanderte tief hinein in sein Inneres. Er öffnete sich. Sein Geist schwang auf wie eine Flügeltür und legte die Kälte und den Frieden in ihm frei.
»Nein, nein, nein!«, fauchte die Fee. »Inadette hätte der ganzen Welt verkündet, dass du frei bist! Sie hätte alles getan, um deinen Namen reinzuwaschen. Sie glaubte an dich.«
»Sie wusste nicht, dass es funktioniert hat. Gleich nach dem Ritual hat sie mich in einen Raben verwandelt und in ein magisches Verlies gesteckt.«
»Wieso hätte sie das tun sollen, wenn es funktioniert hat?«
Karon zuckte hilflos die Achseln. »Sie blieb nicht, um es herauszufinden. Sie war Mutter, Sel. Und Königin. Sie hat getan, was sie konnte. Der Rest war meine Aufgabe.«
»Du..«, murmelte die Fee, aber ihr Zorn schien langsam zu verrauchen. Ihre Aura veränderte sich vor meinen Augen, wurde heller, sanfter, weicher. »Du bist wahrhaftig frei?« Sie wich zurück vor ihm, näher an mich heran. »Du musst es beweisen! Ich kann dir nur glauben, wenn ich es sehen kann. Tu irgendwas, aber beweise mir, dass ich dir glauben kann.«
Karon zuckte die Achseln. »Ich bin ein Whyndrir. Der Pakt, den ich einging, verlangt von mir die Wahrheit. Jedes Wort ist wahr. Syras Bann schadet mir nicht mehr. Ich habe, seit ich meine Menschengestalt zurückerlangt habe, nicht ein einziges Wort von ihr gehört. Ihre Stimme ist nicht mehr in meinen Gedanken. Ich kann frei jeden meiner Wege wählen, und jeden Zauber brechen.« Er schmunzelte. »Auch den, der auf dir liegt. Erias hat mir davon erzählt.« Ohne eine Antwort abzuwarten, überwand der Dämon die Distanz zwischen ihnen und packte die blonde Schönheit fest am Handgelenk. Selinias wilder Blick klebte an Karons Gesicht. Sie sah aus, als wollte sie ihm die geballte Faust ins Gesicht rammen, und ließ es dennoch bleiben. »Halt still, du widerspenstiges Feenweib!« Zunächst versuchte sie, ihm trotzig ihren Arm zu entwinden, doch als Karon die Augen schloss und sich sein Geist über ihren legte, wurde sie ruhiger.
Ich sah, wie sie ihn unsicher musterte, und fragte mich, wie groß der Schmerz wohl sein mochte, den sie einander zugefügt hatten. Was war zwischen ihnen geschehen, das in Selinia so tiefe Zweifel geschürt hatte? Wen hatte Karon vor ihren Augen getötet und wieso quälte sie dieses Wissen so ungemein?
Ich sah zu, wie Karons Geist den der Fee überlagerte, und dort, wo seine Hand ihr Handgelenk umfasste, blitzte ein schwacher, goldener Schein auf. Magie verband sie. Magie heilte sie. Gemeinsam.
Ich spürte Wärme, Leben und Glück. Eine Friedlichkeit, die Selinia die Härte aus den schmalen Lippen trieb. Sie schaute ihn an wie etwas, das vor langer Zeit unwiederbringlich verlorengegangen war und nun aus heiterem Himmel zurückgekehrt war.
Und genau das war er.
»Ein Zauber«, flüsterte Karon. »Du kannst nicht nach Hause zurückkehren, weil dich dunkle Magie blockiert. Du kannst die Lichterwelt nicht mehr ohne Hilfe finden. Einer von Syras Lieblingszaubern. Den Wesen ihre Heimat wegnehmen.« Langsam schlug er die Lider hoch. »Lass mich den Fluch brechen, der auf dir liegt. Nimm es als Entschuldigung für das, was ich dir angetan habe. Mehr will ich nicht von dir.«
Schweigend nickte ihm die Fee zu und das Licht unter seiner Hand schwoll an. Es sickerte in ihren Arm, durch ihn hinauf in die Schulter und breitete sich von dort aus wie ein goldener Schimmer, der sie von innen heraus strahlen ließ. Es erfüllte sie, und während es ihre Wunden heilte, musterte Selinia unentwegt das Gesicht des Dämons.
Ich las in ihren Gedanken, dass sie bestürzt und fassungslos war, wie sehr der Frieden in ihm ihren Zorn erschüttern konnte. Was auch immer ihr Vertrauen erschüttert hatte, Selinia spürte langsam, dass es fort war. Dass der Mann, der vor ihr stand, heute ein anderer war.
Erst, als Karon sich zurückzog und sie losließ, passierte ein kurzer, kantiger Atemzug ihre Lippen.
Selinia stürzte vor. Ihre Arme flogen in die Höhe. Ich sah, wie sie dem Schattenblut um den Hals fiel. Tränen der Erleichterung quollen aus ihren Augen und liefen in Strömen über ihre Wangen. Ihre Hände hielten Karon so fest, dass er sich nicht befreien konnte. Und er wollte es auch nicht. Fest schlang er die Arme um sie, bettete den Kopf auf ihre Schulter und warf mir über diese hinweg einen zufriedenen Blick zu. In seinem Inneren herrschte plötzlich neben der Kälte ein seltsames Gefühl von Einklang und Friedfertigkeit.
»Ich hörte, dass Inadette dich zu einem Zauber verführen wollte«, wisperte sie ihm ins Ohr. »Aber ich habe nie geglaubt, dass du diesen Weg gehen oder gewinnen könntest. Ich dachte, du stirbst daran, und vielleicht wollte ich das sogar.« Fester schlangen sich ihre Hände um seinen Hals. Sie schluchzte. »Ich kann nicht glauben, dass ich dich wiedersehe. Wieso bist du hier?« Sie zog sich von ihm zurück und sah ihm fest in die Augen. »Syra wird nicht aufhören, dich zu suchen.«
»Sie hat keine Macht mehr über mich. Der Whyndrir-Schwur schützt mich. Magie kann mir nicht mehr viel anhaben. Hab keine Angst, Sel. Sie kann mir überhaupt nichts tun.«
Selinia blinzelte. »Du bist wirklich ein Whyndrir? Ein Schattenschamane?« Das Wort fiel von ihren Lippen, wirkte unwirklich und befremdlich. »Ein Weltenwächter?«
Karon stimmte ihr zu und plötzlich herrschte Schweigen zwischen ihnen. Ich sah, wie sie einander unsicher musterten und Selinia sich langsam zurückzog. Wusste sie etwas über dieses Ritual, das Karon mir verschwiegen hatte? Die Fee wirkte betroffen, obgleich ich ihr das Glück darüber ansehen konnte, dass der Dämon endlich frei war.
»Karon«, mischte ich mich endlich ein, »wird uns beschützen. Er wird dafür sorgen, dass Syra uns nichts anhaben kann. Wenn wir ihn lassen.«
Rasch schaute mich die Fee an, nickte. »Wie geht es deinem Herzen?«, fragte sie dann, leise, eingeschüchtert. »Ich habe furchtbare Dinge über dieses Ritual gehört..«
»Es geht mir gut«, erwiderte der Dämon. »Ich bin heute nur an einen Herrn gebunden, und das ist die Schöpfungskraft der Erde und die Erhaltung des Gleichgewichts. Ich war nie freier, nie so sehr Herr meiner Sinne. Es geht mir wirklich gut.« Dann zog auch er sich respektvoll zurück. Die Euphorie über ihr Wiedersehen ebbte spürbar ab und Zweifel kamen ihnen auf. »Es steht mir nicht zu, aber ich würde dich gern für Syras hässlichen Fluch um Verzeihung bitten.«
Sie zuckte die Achseln. »Das musst du nicht. Ich habe eine mürrische Hexe verärgert und sie hat sich mit einem kleinen Fluch revanchiert. Eine lange Geschichte, die dich sicher nicht sonderlich interessiert. Hast du mich wahrhaftig befreit, sodass ich sie wieder finden kann? Kann ich wieder sehen? Kann ich nach Hause finden?«
»Ja.« Ihre Entgeisterung zauberte ihm ein wunderschönes Lächeln ins Gesicht. »Allerdings gibt es da etwas, das du im Gegenzug für mich tun musst. Etwas, um das ich nur dich bitten kann. Es ist nicht für mich, aber ich selbst kann es nicht.«
»Aber..« Selinias Blick flog zu mir zurück, dann wieder zu Karon hinüber. »Ihr seid in furchtbarer Gefahr. Wenn Syra erfährt, dass du nicht mehr in der Höhle bist, wird es nicht lange dauern, und sie erkennt, dass sie die Kontrolle über dich verloren hat. Sie wird dich suchen, sie wird dich jagen, so lange, bis sie dich zurückerobert hat.«
»Es gibt keinen Zauber, mit dem sie mir ernsthaft schaden kann. Du brauchst dich nicht zu sorgen«, wehrte der Dämon ab. »Meine Freiheit kann mir keiner mehr nehmen. Und sie weiß es auch bereits.« Er hielt den Atem an, machte eine Pause, damit die Fee diesen Schrecken überwinden konnte, und fuhr fort: »Aber ich brauche deine Hilfe in einer anderen, ernsten Angelegenheit. Ich bin nicht der Richtige, um ein Kind zu beschützen, das in meiner Welt niemals zu Hause sein kann. Wenn ich Erias mit mir nehme, wird er ein Leben auf der Flucht führen, abgeschieden und einsam. Du kannst ihm etwas geben, das ich nie besitzen werde.«
Seine Augen funkelten verheißungsvoll.
Erstmals schaute Selinia sich suchend um. Ich bemerkte ihren Blick, spürte, wie er über Wände und Felsen tastete. »Wo sind wir eigentlich?«
»Bei den Zhian-Ag«, erwiderte der Whyndrir leichthin. »Ich muss etwas haben, das nur sie mir geben können.«
»Etwas, das uns in Gefahr bringen könnte?« Selinia seufzte. »Die Zhian-Ag sind wild und gefährlich.«
»Sie dienen der Erde und ihrem Schutz. Sie haben keine andere Wahl, als uns helfen. Aber du musst mir vertrauen.« Karon musterte sie eindringlich. »Ich kann nichts an meiner Vergangenheit ändern. Ich kann die Leben nicht retten, die durch meine Hand verloren sind, und ich kann nicht wiederbringen, was längst vergangen ist. Aber ich kann euch beiden hier und heute mein Wort geben, dass dieses Leben hinter mir liegt. Ihr müsst mir nur vertrauen.«
Ich wusste, ich konnte es, aber Selinia schien unsicher.