Ihr Wecker schrillte. Sie verfluchte das nervige, dröhnende Singsang und stellte es ab, rieb sich die Überreste der Nacht aus den Augen und stand auf, um sich erneut dem Staat als Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen.
Sie ging die zehn Schritte bis zum Badezimmer, putzte sich die Zähne, blickte in den Spiegel. Ihr Gesicht sah auch schon mal besser aus. Die vielen Überstunden und der damit einhergehende Schlafmangel forderten ihren Tribut. Dunkle Augenringe zierten ihr sonst so lebendiges, doch zur Zeit eingefallenes, leichenblasses Gesicht. Sie zählte ein paar Fältchen hier und da, nahm einen Pickel missmutig zur Kenntnis. Resigniert begann sie, ihr Gesicht zu waschen, es vom Schmutz der letzten Nacht zu befreien. Sie suchte blind mit ihrer Hand nach dem an der Wand hängenden Handtuch und warf es versehentlich herunter. Seufzend fragte sie sich, weshalb immer ihr solche sinnlosen Missgeschicke passieren.
Sie bückte sich, griff nach dem Handtuch, stand auf und wollte es aufhängen, verfehlte jedoch den dafür vorgesehenen Haken an der Wand um einige Millimeter. Das Handtuch fiel wieder zu Boden.
Sie spürte einen kühlen Luftzug, ein kalter Schauer lief ihren Rücken herunter. Immer kam er in solch unpassenden Gelegenheiten. Ohne Vorwarnung drang er in ihr Reich ein, hielt sie gefangen, war auf einmal überall. Er rief:
"Hallo, ich bin wieder da! Na, hast Du mich vermisst?"
Er merkte, dass sie nicht reagierte, stellte sich hinter sie und fragte:
"Oh, soll ich dir helfen, das Handtuch wieder aufzuhängen?"
- "Nein, danke, ich schaffe das allein."
Sie bückte sich, ganz langsam, packte das Handtuch, stand wieder auf und hing es an den Haken. Die angenähte Aufhängeschlaufe riss, es fiel erneut nach unten. Er lachte.
"Upps, das tut mir jetzt aber leid für dich. Vielleicht solltest Du den Sinn deiner Existenz nochmal überdenken, wenn Du noch nicht mal ein Handtuch aufhängen kannst. So ein unfähiges Ding wie Du ist mir lange nicht mehr untergekommen."
Sie sah vom Boden auf, in sein Gesicht und spürte, wie sich Tränen in ihren Augen sammelten. Verachtung lag in seinem Blick.
"Na, na. Wir wollen doch nicht gleich anfangen, zu weinen. Was bist Du nur für eine schwache Frau. Niemand will dich mit roten, verquollenen Augen, diesen Anblick der Schande sehen. Also los, schmink dich, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit, das Etwas, das sich dein Gesicht nennt, ein bisschen auf Vordermann zu bringen, bis wir es auf die Menschheit loslassen können."
Sie unterdrückte die Tränen, schluckte ihren Kummer herunter und tat wie ihr geheißen. Sie holte ihren dürftigen Bestand an Make up hervor und trug etwas Foundation und Concealer auf, überdeckte die Fältlichen, den Pickel, die Augenringe. Sie griff zur Wimperntusche, zum Kajal, zum Augenbrauenstift. Er verfolgte jeden ihrer Schritte mit einem skeptischen Blick, einem Runzeln auf der Stirn.
Sie betrachtete sich einigermaßen zufrieden im Spiegel, als sie ihren Lieblingslippenstift aufträgt. Sie sah ihn kritisch über ihre Schulter schauen.
"Also beim nächsten Mal musst Du unbedingt noch Eyeliner benutzen. Deine Augen haben ja sowas von gar keinen Ausdruck. Aber ich kann verstehen, dass du dir die Mühe heute nicht machen willst, bei deinen scheußlichen Schlupflidern ist sowieso jeder Lidstrich vergebene Müh. Du kannst froh sein, dass dich noch niemand darauf angesprochen hat. Aber im Alter ist das ja normal, wenn deine Haut immer schlaffer wird und überall herunterhängt. Du bist schließlich auch nicht mehr die Jüngste. Und wie ist das eigentlich mit dem Kind, das Du so gern haben wolltest? Ich sehe weit und breit keinen Mann, und Du bist schon fünfunddreißig. Also an deiner Stelle würde ich mich beeilen. Deine biologische Uhr tickt. Tick tack, tick tack. Unaufhörlich, stetig, immer weiter und ehe Du dich versiehst ist es zu spät. Andererseits, was willst Du schon mit einem Kind. Du kannst ja noch nicht mal auf dich selbst aufpassen und ordentlich ernähren, wie soll das dann mit einem Kind werden? Dein Baby tut mir jetzt schon leid, so eine unfähige, egoistische Mutter zu haben."
Schon wieder war sie den Tränen nahe, doch sie wollte sich die Blöße nicht geben. Sie drehte sich wortlos um und ging zu ihrem Kleiderschrank. Der unerwünschte Gast folgte ihr.
Sie entschied sich für ihre Lieblingshose, die schwarze High Waist Shorts, in Kombination mit einem schlichten grauen Shirt und ihren schwarzen Chucks. Dieses Outfit war eines ihrer liebsten. Praktisch, simpel, nicht zu aufreizend; man sollte ihr nicht nachsagen, dass sie die männlichen Kollegen provozieren, sie zu unangebrachten Sprüchen auffordern wollte. Sie drehte sich einmal um die eigene Achse, lächelte sich im Spiegel zu und dachte, dass der Tag vielleicht doch noch gut werden konnte. Bis sie seinen Blick sah. Sie wappnete sich innerlich vor dem nächsten Angriff auf ihr geschundenes Selbstwertgefühl.
"Ich will ja nichts sagen, Schätzchen, aber das geht ja mal gar nicht. So willst Du vor die Tür gehen? Ich weiß, es sind fast dreißig Grad draußen, aber willst Du diese breiten Schenkel wirklich öffentlich zur Schau stellen? Deine Cellulite sieht man auch, das sieht ja schlimmer aus als die Krater auf dem Mond. Nichts für ungut, aber diese Schuhe tun absolut nichts für deine sowieso schon stämmigen Beine als sie optisch nur noch mehr zu verkürzen. Na, wenigstens versteckst Du deinen Bauch in der Hose, auch wenn Du von der Seite irgendwie wie ein aufgeblähtes Walross in einer zu engen Hose aussiehst. Meinst Du nicht, dass die Ärmel deines Shirts ein bisschen länger sein könnten? Wer will schon deine Winkearme sehen. Wenigstens zeigst Du nicht das kleinste bisschen Dekolleté, das wäre ja auch noch schöner, mal zu betonen, dass Du eine Frau bist. Da wunderst Du dich noch, warum dich kein Mann anspricht. Siehst ja selbst aus wie einer. Dir müsste man ein Schild umhängen: "Achtung, Verwechslungsgefahr! Ich bin eine Frau, auch wenn es nicht so aussieht!" Aber mach Du mal, ich will dir bei der Auswahl deiner Kleidung ja nicht reinreden. Solange Du dich wohlfühlst... "
Sie betrachtete sich erneut im Spiegel und ihr Lächeln schwand. Sie dachte, dass er ja vielleicht recht hatte. Also zwang sie sich in ihre lange Jeans, ein luftiges, am Dekolleté leicht ausgeschnittenes Oberteil mit Dreiviertelärmeln und begann schon jetzt zu schwitzen. Die Chucks tauschte sie gegen die schwarzen Ballerinas, in denen sie sich immer Blasen rieb. Sie wartete auf den abschätzigen Kommentar von ihm, doch er hielt den Mund.
Sie machte sich auf den Weg in ihr kleines Büro. Sie hatte das Gefühl, von sämtlichen Passanten angestarrt zu werden. Er flüsterte ihr ins Ohr:
"Tja, das hast Du jetzt davon, bei strahlendem Sonnenschein in dunklen Jeans herumzulaufen. Die Schweißflecken unter deinen Armen kann man ja schon fast riechen. Wieso hättest Du dir vorgestern die Tafel Schokolade nicht einfach verkneifen und heute kurze Hosen anziehen können? Und wieso warst Du diese Woche noch nicht im Fitnessstudio? Wozu bist Du denn da angemeldet, wenn Du trotzdem immer wieder eine Ausrede findest?"
Sie versuchte, ihn zu ignorieren, aber er hatte recht. Seit Wochen schon vermied sie es, ins Fitnessstudio zu gehen, den anderen dabei zuzusehen, wie sie ihre schon durchtrainierten Körper von Gerät zu Gerät schleppten, eine Hantel nach der anderen mit Leichtigkeit stemmten. Heute würde sie hingehen, gleich nach der Arbeit. Komme was wolle.
Im Eingangsbereich schlug ihr die stickige Büroluft entgegen. Sie grüßte die Empfangsdame, Kolleginnen und Kollegen, die in kleinen Grüppchen beieinander standen und ihre Vorhaben planten. Er legte seine Hand auf ihre Taille und sagte:
"Wieso gehst Du nicht einfach hin und plauderst ein wenig mit ihnen? Vielleicht laden sie dich ja mal zu einer ihrer abendlichen Verabredungen ein und ihr verbringt einen netten Abend in guter Gesellschaft."
Er begann zu lachen, konnte sich kaum noch halten:
"Haha, war das nicht der Witz des Jahrhunderts? Du und gute Gesellschaft, das ist ja zum Schießen! Mann, bin ich wieder gut drauf heute. Im Gegensatz zu dir, offensichtlich. Mensch, jetzt lach doch mal und sei nicht so ein Miesepeter! Kein Wunder, dass die anderen vor dir wegrennen. Wer will sich schon mit einem Trauerkloß wie dir umgeben. Deine Aura läßt Pflanzen sterben, was man gut anhand der Kakteen auf deinem Schreibtisch sehen kann. Deine tägliche Anwesenheit von früh bis spät tut ihnen einfach nicht gut."
Wortlos setzte sie sich an ihren Schreibtisch und begann, sich durch den täglichen Papierkrieg zu kämpfen. Sie arbeitete, arbeitete und arbeitete, stets beobachtet von ihm. Scheinbar harmlos saß er auf dem Besucherstuhl in der Ecke, doch sie spürte seine Anwesenheit so deutlich wie die unerträgliche Hitze. Ab und zu ließ er ein paar abwertende Kommentare fallen, doch sie ignorierte diese weitestgehend, auch wenn sie einen Weg in ihren Körper fanden, um ihre Seele zu vergiften.
Nachdem auch die letzte Überstunde abgearbeitet, der letzte Antrag ausgefüllt war, fuhr sie ihren Computer herunter und machte sich auf den Heimweg. Es war schon spät, sie hatte es wieder nicht ins Fitnessstudio geschafft. Sie hatte auch gar keine Lust dazu. Wozu sollte sie sich bei den ganzen Schönheiten unnötig deplatziert fühlen? So ersparte sie sich wenigstens noch eine weitere Enttäuschung. Er schien das allerdings als Anfeindung gegen sich selbst zu sehen:
"Willst Du den Sport etwa schon wieder sausen lassen? Schätzchen, Du musst an deiner Figur arbeiten, die Fettpolster verschwinden nicht einfach so. Und von denen hast Du schließlich reichlich. Willst Du wirklich so enden? Allein, ungeliebt und unattraktiv? Wieso verschwendest Du eigentlich so viel Luft zum Atmen, wenn Du so wenig aus deinem Leben machst? Andere wären zumindest dankbar, dass ihnen jemand wie ich auf die Sprünge hilft. Ich will doch nur dein Bestes. Aber momentan bist Du einfach nur eine reine Verschwendung. Verschwendung von Energie und Materie. Lass uns zu der Brücke gehen, dort können wir in Ruhe darüber nachdenken, wie wir das Problem lösen sollen."
Mit Tränen in den Augen, doch innerlich von einer unendlichen Leere ausgefüllt, machten sie sich auf den Weg zu ihrem Lieblingsplatz, welchen sie immer aufsuchten, wenn er sie besuchte. Dort oben konnte sie ihren Blick schweifen lassen, die Menschen in den Straßen beobachten, Gesten, Emotionen.
Sie saßen gemeinsam auf der Brücke und beobachteten ein Pärchen. Die Frau hatte ihrem Freund einen Heiratsantrag gemacht und beide weinten vor Euphorie. Auch wenn sie diese Szene mit atemberaubender Freude oder tiefer Trauer hätte erfüllen müssen, so spürte sie in sich hinein und empfand nichts als Leere. Sie versuchte, zu weinen, zu lachen, sich für das Paar zu freuen, sich mit etwas zu füllen. Sie wollte spüren, dass sie noch lebte. Doch da war nichts. Keine Emotionen auf die sie hätte zurückgreifen können. Sie wollte schreien, springen, stampfen, klatschen, zerstören, fallen. Doch sie tat nichts davon. Leere. Unendlich. Unerträglich.
Sie wurde sich erneut seiner Anwesenheit bewusst, drehte sich zu ihm. Er wandte ihr sein Gesicht zu. Die Lichter der Stadt zu ihren Füßen ließen ihn seltsam bedrohlich erscheinen, doch im nächsten Augenblick verschwanden sie und ein Schatten legte sich über ihn wie ein dunkler Schleier. Sie schaute ihm tief in die Augen und fragte:
"Wer bist Du?"
Ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen; nur schemenhaft in der Dunkelheit zu erkennen.
"Du fragst Dich, wer ich bin? Ich bin dein einzig wahrer und bester Freund. Ich bin der erbarmungslose, pessimistische, radikale, energielose, schwermütige, sozial isolierte, omnipräsente Niemand. Oder kurz: D.e.p.r.e.s.s.i.o.n."