Ich wollte unbedingt mit Kai alleine sein, um mir ein genaueres Bild von ihm machen zu können. Wie es schien, verflog meine Amnesie schneller, als jeder angenommen hatte. Mit bloßer Anstrengung und der Anwesenheit einer Person kamen die Erinnerungen zurück. Auf diese Weise hatte ich es geschafft, mich an Jess zu erinnern. Er war nun der einzige, der mir wirklich bekannt vorkam.
Dasselbe wollte ich an diesem Abend bei Kai versuchen, um mir über ihn und seinen Charakter ein besseres Bild machen zu können.
„Ich habe mich heute an etwas Schreckliches erinnert.“
Kai und ich saßen gemeinsam auf der Couch in seinem Wohnzimmer. Er versuchte nach wie vor, kühl mir gegenüber zu bleiben. Kaum hatte ich allerdings diesen Satz ausgesprochen, sah er mich mit einem Ausdruck an, den ich nicht deuten konnte.
„Jess ist gestorben“, fügte ich deshalb leise hinzu.
Kai stieß einen, beinahe zufriedenen, Seufzer aus. Plötzlich stand er auf, wühlte in einem Schrank und schob daraufhin eine DVD in den Player des Fernsehers.
„Das ist die Trauerfeier.“ Mehr sagte er nicht, als er sich erneut neben mich setzte, wieder mit einigem Abstand, als würde er mich zwanghaft von sich fernhalten halten wollen.
Als ich mir ansah, wie Luk auf die Bühne ging, war ich noch die Ruhe selbst, doch als Kai und ich selber Stellung bezogen, drangen die Worte in mein Ohr wie eine Erinnerung.
Plötzlich stand Kai neben mir auf und ging zur Bühne. Etwas irritiert sah ich Ray an, doch dieser nickte mir beruhigend zu.
Kai griff sich das Mikrofon.
„Viele von euch wissen, ich habe nie auch nur ein gutes Haar an McKeown gefunden“, bemerkte er und stellte sich an die Bühnenkante. „Es ist kein Geheimnis, dass ich ihn nie leiden konnte und ich habe es Douphne auch beim besten Willen nicht einfach gemacht, mit ihm befreundet zu sein. Ich kann jetzt keine Lobeshymne auf Jess herablassen, doch eines kann ich euch sagen. Douphne hat in ihm immer etwas Gutes gesehen. Sie hat ihn nicht verurteilt und hat eine Freundschaft geschlossen. Gegen meinen Willen und obwohl sie wusste, dass Jess nicht aufrichtig war, keine Minute, die er hier war. Douphne hat ihn gemocht, denn zu ihr war er anders. Wenn es wirklich darauf ankam, dann war er für sie da. Ob geheuchelt oder nicht, er hat ihr geholfen und das hat sie glücklich gemacht. Er hat sich ebenfalls, genau wie ich es seit geraumer Zeit tue, dafür revanchiert, dass Douphne eine wahre Freundin ist. Und das macht auch aus Jess einen wahren Freund.“
Kai stand da und suchte meinen Blick.
Mit einem Mal wurde mir klar, dass ich nicht einfach nur zuhören konnte. Ich war die einzige, der Jess etwas bedeutet hatte.
Ich stand auf und betrat unter dem Getuschel meiner Mitschüler ebenfalls die Bühne. „Das, was die drei hier gesagt haben, ist wirklich rührend und nett von ihnen. Ich möchte, dass ihr etwas über den Jess erfahrt, den ich kannte.“
Ich zögerte einen Moment.
„Er war ein Arschloch und ich konnte ihn nicht ausstehen. Doch als ich meiner Mutter sagte, ich würde sie hassen, war ich fertig. Jess stand mir bei, tröstete mich und hörte mir zu. Er versuchte, mich auf andere Gedanken zu bringen, heiterte mich auf und war mir immer mehr ein Freund. Er hat es geschafft, dass ich ihn liebgewinne. Vor einiger Zeit fand ich dann heraus, dass er nicht der aufrichtige Kerl war, für den ich ihn gehalten habe. Ich erfuhr von einem Plan, den er verfolgte, doch es war mir egal, denn wir verstanden uns so gut und ich wollte ihm um jeden Preis vertrauen. Dann hat er mich an meinen Ex-Freund vermittelt, diesem den guten Freund vorgespielt, um Dinge über mich zu erfahren. Ich weiß nicht, was er damit bezweckte. Ich war wütend, wie ihr sicher alle in der Mathestunde gemerkt habt. Auf der Klassenfahrt redeten Jess und ich nicht mehr miteinander. Ich war aber gar nicht mehr sauer. Ich tat so, damit Kai zufrieden war. Ja, tut mir leid, Kai. Denn die Wahrheit ist, dass ich mich in Jess McKeown verguckt habe. Ich mochte seine gute Laune und sein aufbauendes Wesen. Ich verliebte mich in sein charmantes Lächeln und fühlte mich in seiner Nähe wohl. Es war das letzte, was ich Kai erzählen konnte und er ist sicherlich nicht glücklich, es jetzt so zu erfahren. Als wir dann verschüttet waren und ich beinahe einen Zusammenbruch hatte, als wir Thalia leblos entdeckten, da war es Jess, der mich beruhigte. Er tat das, obwohl er selber kurz darauf in Panik verfiel. Durch eine Dummheit gelangten wir zu tief in den Berg. Wir stritten uns und ich warf ihm vor, dass er sich wie ein Idiot verhält. Wir fanden eine Möglichkeit den Berg zu verlassen, doch als wir kurz davor standen, stürzte Jess und verletzte sich sehr schlimm. Das passierte nur, weil ich ihn anschrie und er für einen Moment die Konzentration verlor. Er verlor viel Blut und wurde immer schwächer. Er wollte mir sagen, weshalb er hier war und weshalb er mich belogen hatte. Ich hatte die Chance es zu erfahren, doch ich wollte ihm das Leben retten und keine Zeit verschwenden. Wir fanden eine Tauchstelle, die in den See hinter dem Gasthaus führte und wir schafften es zurück. Ich dachte, dass alles wieder gutwerden würde. Ich hoffte es so sehr, weil wir uns an diesem Tag auf etwas geeinigt haben, was nun nicht mehr wahrwerden wird. Er starb am nächsten Tag im Krankenhaus ... Ich war da, als es passierte und es bricht mir das Herz. Was kann ich also zu Jess sagen? Er war ein charmanter Lügner und ich habe ihn geliebt. Nun ist er tot und ich fühle mich, als wäre ich es auch.“
„Ich habe Jess geliebt.“ Ich sprach es bloß ganz leise aus. „Wieso hat mir das niemand gesagt? Wieso hast du es nicht getan? Oder Ray?“
Kai schaltete den Fernseher wieder aus, senkte den Blick und drückte einen Augenblick mit den Fingern an der Fernbedienung herum, bis er sich zwang, sie zur Seite zu legen.
„Du hast es mir doch auch nicht gesagt, als du es wusstest.“ Auch er sprach leise.
War er verletzt? Ich konnte mich daran erinnern, dass ich es bei der Trauerfeier befürchtet hatte, doch wegen des Schmerzes und der Trauer um Jess war es mir damals egal gewesen.
„Ich weiß nicht, wieso ich es nicht getan habe.“ Ich zuckte leicht mit den Schultern.
Welche Entschuldigung sollte ich vorbringen?
„Du hattest Angst davor, wie ich reagieren würde“, bemerkte Kai entschieden, mied noch immer meinen Blick, blieb auf Abstand.
„Wieso denkst du das?“ Ich rutschte ein kleines Stück an ihn heran, berührte ganz kurz seinen Arm, damit er mich ansah.
„Das spielt jetzt wirklich keine Rolle.“ Er schüttelte abwehrend den Kopf.
Es wirkte fast, als wolle er erneut mehr Abstand zwischen uns bringen und ich kam dem zuvor, indem ich noch näher zu ihm rutschte.
„Wenn du in der letzten Zeit nicht gemerkt hast, ob du etwas für ihn empfindest, dann hätte es wohl keinen Sinn gehabt, wenn es dir jemand erzählt hätte, oder?“ Er sah mir das erste Mal an diesem Abend direkt in die Augen.
„Ich weiß nicht, was ich fühle“, stellte ich fest.
„Solltest du aber, oder nicht?“ Ganz plötzlich war mir sein eindringliches Starren unangenehm.
Ich konnte mich nicht an uns erinnern, aber mir war klar, dass die Situation für ihn mindestens genauso schwer war, wie für mich.
„Ich bin nicht wegen Jess hier, sondern wegen dir“, betonte ich es. „Ich will mich an uns erinnern.“
Kai holte tief Luft und seufzte. War das etwa Enttäuschung in seinen Augen?
„Erzähl mir von unseren Momenten“, bat ich ihn.
Kai nickte nachgiebig und erzählte mir von Henry und Freddy, meiner Rettungsaktion. „Als wir wieder in Spellington waren, hatte ich Geburtstag.“
Spiel dich nicht wie ihr Freund auf!“ Er starrte Kai wütend an. „Der bist du nicht! Es war nicht schwer, herauszufinden, wer du bist! Und noch leichter war es, herauszufinden, welchen Ruf du hast! Wenn sich also jemand von Douphne fernhalten sollte, dann wohl du, bevor sie auf deiner netten Liste die Nächste ist.“
„Du weißt ja genauestens Bescheid, was?“ Kai lachte bloß abfällig.
„Du hast hier eine hübsche, junge Frau vor dir“, wies Ian ihn aufgebracht darauf hin. „Willst du etwa so tun, als wäre dir das bisher nicht aufgefallen?“
„Denkst du, das weiß ich nicht?“ Kai starrte ihn an. In seinem Blick lag pure Verachtung für sein Gegenüber „Ich habe Augen im Kopf!“
„Und trotzdem willst du jetzt behaupten, dass dich ihre Nähe kaltlässt?“ Ian schrie schon fast. „Ausgerechnet dir soll das egal sein?“
Ich hielt mir die Hände vor die Augen. Ich war fassungslos. Es war klar, dass Ian leicht erfahren konnte, wo Kai herkam und wie er gelebt hatte, doch das jetzt auf seinem Geburtstag gegen ihn zu verwenden, wo es alle mitbekamen, war einfach nicht in Ordnung.
„Ian ...“
„Douphne, kennst du ihn überhaupt?“ Er unterbrach mich herrisch. „Du weißt nicht, wofür er bekannt ist. Er ist nicht an einer Freundschaft mit dir interessiert. Er ...“
„Warte“, ermahnte ich ihn und versuchte, ihn beruhigend anzulächeln. „Ich weiß ganz genau, wovon du sprichst. Ich weiß, wo Kai herkommt und wie er ...gelebt hat. Ich war die letzten acht Wochen mit ihm in seinem Elternhaus und weiß sehr wohl, wer er ist.“
Ian schien völlig perplex zu sein.
„Und du gibst dich immer noch mit ihm ab?“ Er wurde noch lauter.
Er war so aufgebracht, dass ich ihn gar nicht wiedererkannte, machte einen Schritt auf Kai zu und ich versuchte, dazwischen zu gehen.
Ian ging offenbar davon aus, dass ich Kais neueste Eroberung war und er schien sich von dem Gedanken nicht abbringen zu lassen. Hätte ich doch nur nicht erwähnt, dass ich die Ferien bei Kai verbracht hatte.
„Ian.“ Ich griff nach seinem Arm, um ihn zurückzuhalten.
„Sei still.“ Er packte mich grob am Handgelenk und stieß mich von sich weg, als mir bereits ein erschrockener Laut entfuhr, der den leichten Schmerz wiederspiegelte, den er mir damit zugefügt hatte.
Ich starrte ihn bloß an, hielt mir den Arm. Das hatte wehgetan. Für einen Moment schien die Zeit still zu stehen. Ich wusste, was passieren würde. Ich konnte es in Kais Augen sehen.
Ian war zu weit gegangen und ich wusste wirklich nicht, was in ihn gefahren war. Er war eifersüchtig, das war mir klar. Doch, dass er sich so darin verrennen würde, damit hatte ich nicht gerechnet.
„Wieso hast du ihr an diesem Abend geholfen, he?“ Ian schrie Kai an, völlig in Rage. „Nur, damit du dich selber an sie ...“
Weiter kam er nicht.
Kai schlug ihm mit der Faust mitten ins Gesicht und brachte ihn somit zum Schweigen. Blut lief Ian über das Kinn und er starrte sein Gegenüber wütend an. Sein Blick konnte allerdings nicht ansatzweise mithalten.
„Ich hatte dich gewarnt!“ Kai brüllte ihn an, angespannt, den Blick voller Hass. „Ich habe dir gesagt, was passieren würde, wenn du wieder aufkreuzt und sie nicht in Ruhe lässt! Trotzdem habe ich dich ruhig gebeten, zu verschwinden!“
Ian warf sich wutentbrannt auf ihn und es folgte ein Schlagabtausch, bei dem ich nicht sehr gut folgen konnte. Beide landeten Treffer in die Rippen, in den Magen und ins Gesicht. Es endete damit, dass Kai die Oberhand hatte. Ian lag auf dem Boden und Kai saß über ihm. Er schlug immer wieder auf ihn ein, selbst als Ian nachließ und keine Gegenwehr mehr leistete.
„Kai“, rief ich. „Es reicht jetzt! Ihr habt beide klargemacht, was ihr denkt. Jetzt ist genug!“
Er reagierte nicht, verpasste Ian nur erneut einen Schlag. Robin und auch Luk griffen sich Kai von hinten und zogen ihn von Ian herunter, wobei er immer noch versuchte, sich ihrem Griff zu entziehen und erneut auf ihn loszugehen.
Ian kam schwer wieder auf die Beine, doch als er stand, warf er mir einen Blick zu.
„Wenn so einer dein Freund sein soll …“, brummte er und wischte sich mit der Hand Blut aus dem Gesicht. „Bitteschön.“
„Nicht er hat angefangen“, ermahnte ich Ian wütend und deutete auf meinen Arm, der bereits pochte.
„Aber er war der, der nicht aufhören konnte, als es zu Ende war.“ Er wies Van ab, der ihn nach draußen bringen wollte und verschwand.
Kai hatte offenbar ein Gewaltproblem, außerdem schienen er und Ian sich nicht ausstehen zu können. Ich hatte allerdings etwas Wesentliches bemerkt. Kai hatte erst dann die Kontrolle verloren, nachdem Ian mir wehgetan hatte.
Ich saß auf seinem Bett und starrte auf meine Hände.
„Magst du mich?“ Ich überrumpelte ihn mit dieser Frage, das konnte ich ihm ansehen.
Ich wollte eine Antwort, musste es einfach wissen, brauchte einen Grund, weiterhin zu ihm zu stehen und ihn nicht fallen zu lassen.
„Darauf werde ich dir nicht antworten.“ Er schüttelte den Kopf.
„Typisch für dich!“ Ich sprang auf und wollte an ihm vorbei aus dem Raum eilen, doch er stand vor der geschlossenen Türe und ging mir nicht aus dem Weg.
Ich sah ihn wieder, wie er es nannte, trotzig an und wollte die Arme verschränken, als ich zusammenzuckte, weil mir das Handgelenk wehtat.
Kai griff vorsichtig danach, sah es sich an. Er seufzte, aber sein Blick blieb starr darauf gerichtet. „Das hier ist der Grund, wieso ich nicht antworte.“ Er deutete auf die, schon leicht verfärbte, Stelle an meinem Arm. „Weil ich finde, dass du deine Antwort bereits hast. Du erkennst sie nur nicht und ich bin kein Mensch, der gerne viel über so etwas redet.“
Erst da dämmerte es mir. Kai hatte die Kontrolle verloren, nachdem Ian mich grob gestoßen hatte. Er hatte gesehen, dass ich mich dabei verletzt hatte.
„Du bist deswegen wütend geworden.“ Ich sah auf meinen Arm, den er noch immer leicht in seiner Hand hielt.
„Wenn du mir völlig egal wärst, oder ich dich nicht leiden könnte, dann wäre das hier mir egal gewesen“, erklärte Kai sein Verhalten. „Es gab in dem Raum genug andere Leute, die dich verteidigt hätten.“
„Du bist ihnen allen zuvorgekommen“, bemerkte ich einsichtig und unsere Blicke trafen sich. „Warum willst du Ian nicht glauben?“
„Ich traue ihm nicht“, entgegnete Kai kühl. „Aber das willst du scheinbar nicht verstehen.“
„Ich weiß, dass ich stur bin“, gab ich zu und ich war wirklich uneinsichtig wegen Ian. „Wie soll ich dich denn aber verstehen, wenn du mir nie sagst, was Sache ist? Sag mir doch einfach, was dein Problem ist.“
Kai gab sich Mühe, ruhig zu bleiben, doch ganz so gut gelang es ihm nicht. „Ich will nicht, dass dir etwas passiert, okay?“ Er wurde wieder lauter. „Ich habe genug mitgekriegt! Mein Leben war die letzten Jahre nicht einfach, Douphne! Du kannst mich nicht einfach für ein Arschloch halten, weil ich einige Menschen hier nicht leiden kann! Ich habe über Jahre hinweg jeden verdammten Tag in meinem verfluchten Zimmer gesessen und darauf gewartet, dass mein Vater nach Hause kommt und mich schlägt! Mir hat niemand geholfen, denn alle hatten Angst vor ihm! Wenn ich sehe, wie sich Ian in deiner Nähe aufhält und ich sehe, dass er fähig ist dich grob zu behandeln, dann weiß ich nicht, wozu er vielleicht noch in der Lage wäre. Mir kommt dann wieder der Gedanke an seine Akte und an dieses Mädchen. Ich kann dann einfach nicht zulassen, dass du ein Risiko bei diesem Kerl eingehst! Ich hatte niemanden, der mich beschützt hat. Dadurch bin ich zu dem geworden, der ich jetzt bin. Ich habe keine Angst mehr vor irgendwem. Du anscheinend schon, also lass mich dir helfen, wenn ich es vor dir merke.“
„Du merkst vor mir, wenn ich Angst habe?“ Ich grinste. „Wie soll das gehen?“
„Heute habe ich es in deinen Augen gesehen.“ Er war sehr ernst und sah mich auch genauso an. „Auch wenn es nur für einen kurzen Moment war, aber du hattest Angst vor Ian, als er dich gepackt hat.“
Ich stand nur da und sah wieder auf meinen Arm. Vermutlich hatte er Recht.
„Jeder hat zwischendurch Angst. Du bist da bestimmt keine Ausnahme, Kai.“
Ich erinnerte mich daran, dass ich sehr wütend auf Kai gewesen war, an diesem Abend, doch auch daran, dass er mich schnell wieder hatte beruhigen können.
Ich konnte mir nun die Bemerkung, dass Kai ja schon irgendwie ein Arsch war, nicht verkneifen, doch er selbst konnte anscheinend nur noch sachte über diese alten Geschichten lächeln.
Als ich dieses Lächeln und den netten Gesichtsausdruck sah, ganz anders als in meinen Erinnerungen, konnte ich mir plötzlich gut vorstellen, dass ich Kai sehr mochte.
„Du hattest mal sturmfrei und da war ich zwei Tage lang bei dir“, fuhr er fort. „Ich hatte zu der Zeit Stress mit Ray und bin am ersten Abend betrunken bei dir aufgetaucht. Es ging um eine Frau, die ich euch beiden verheimlicht habe. Ray war der Meinung, dass es Betrug wäre und auch du warst ziemlich sauer auf mich.“
„Caitlin.“ Ich lächelte, weil ich den Zusammenhang verstand.
Seine Mimik blieb allerdings regungslos. „Ich denke, du weißt die Sache mit der Kirche und Jess?“
„Wo du gestürzt bist.“ Ich konnte mich bereits daran erinnern, dass Ray es mir berichtet hatte.
„Ich habe dich danach ziemlich mies behandelt.“
Auch daran erinnerte ich mich bereits. Ich wollte mich abends um Kai kümmern, doch er war eiskalt zu mir.
„Mir ging es an dem Abend echt mies und du warst so kühl zu mir“, bemerkte ich und seufzte anschließend. „Wir hatten wirklich nicht viele gute Zeiten, oder?“
Kai sah mir noch immer in die Augen. Das tat er die ganze Zeit, doch er wirkte nach wie vor angespannt. Meine Nähe schien ihn zu stören.
„Wir haben es uns nicht einfach gemacht.“ Seine Stimme klang leise. „Ich habe es dir nicht einfach gemacht. Ich war oft nicht nett zu dir.“
Er rieb sich mit der Hand durch den Nacken. Offenbar kämpfte er mit sich, etwas auszusprechen. Zufrieden konnte ich feststellen, dass er sich dafür entschied, es zu tun.
„Als du plötzlich weg warst, habe ich das erst richtig bereut.“
Ich war unsicher, wie ich mich verhalten sollte, deshalb wandte ich den Blick von ihm ab. „Du warst von Anfang an kalt zu mir, seitdem man mich fand. Luk hat mir aber gesagt, dass gerade du und ich irgendetwas Besonderes haben. Ich glaube ihm das, denn anscheinend hast du mich oft beschützt.“
„Und meistens hast du es mir gedankt, indem du mich angeschrien hast.“ Kai lachte kurz und mich brachte es zum Strahlen.
Es war erfrischend und ich fühlte mich um ein Vielfaches wohler in seiner Gegenwart, als ich merkte, wie seine Anspannung in diesem Augenblick verschwand.
„Du hast es mir übelgenommen, wenn ich dich vor irgendwelchen miesen Typen schützen wollte.“
„Was ist mit Jess?“ Ich lehnte mich entspannt mit der Schulter an der Rückenlehne der Couch an, noch immer ihm zu gewandt. „Wie kommt es, dass ihr beide euch versteht?“
„Tun wir nicht wirklich“, antwortete Kai sofort. „Und das wissen wir beide. Wir arrangieren uns. Das macht vieles einfacher und es macht dich glücklicher. Es gibt einfach einige Dinge, zu denen Jess und ich dieselbe Einstellung haben.“
Er gab sich wegen mir solche Mühe?
„Erzähl mir von den guten Seiten an dir“, bat ich ihn. „Von den Momenten, in denen wir uns verstanden haben.“
Kai zögerte kaum merklich, dann fuhr er fort.
„Deine Mutter hatte einen schlimmen Autounfall, der dich sehr aus der Bahn geworfen hat.“
Er setzte sich vorsichtig auf meine Bettkante und ich spürte, dass er mich ansah, doch ich blieb, mit dem Rücken zu ihm, liegen.
„Ich habe mir schon gedacht, dass du nicht schlafen kannst“, sprach er mich leise an. „Möchtest du reden?“
Kai war nicht unbedingt berüchtigt dafür, dass er sich die Sorgen anderer Menschen anhörte. Normal mit einem reden, tat er auch eher selten, doch dieses Mal schien er es ernst zu meinen. Er hatte es schließlich angeboten, weil er nicht wollte, dass ich zu Jess ging. Offenbar wollte er dieses Versprechen einhalten.
Ich setzte mich auf und lehnte mich wieder mit dem Rücken an der Wand an. Es sah mühsam aus, aber er rutschte langsam neben mich und sah mich an.
„Ich war bei ihr.“ Ich sprach leise und mir stiegen erneut die Tränen in die Augen.
Ich versuchte, mich zusammenzureißen, damit ich vor Kai nicht zu sensibel dastand.
„Du hättest sie da liegen sehen müssen. Sie ist so abgemagert und so blass. Diese Frau, die da in diesem grässlichen, trostlosen Zimmer liegt, sieht nicht aus wie meine Mutter.“
Die einzelnen Tränen begannen mir über die Wangen zu kullern, doch Kai saß einfach nur neben mir und hörte mir zu.
„Wenn sie nicht mehr wach wird ...“ Meine Stimme zitterte.
„Sag das nicht.“ Er klang warmherzig. „Natürlich wird sie wieder wach. Denk immer daran, sie ist deine Mutter. Als ob sie darauf verzichten würde, dich auf hundertachtzig zu bringen.“
Er lächelte knapp. Kai lächelte sehr selten, fast nie.
„Aber wenn“, wiederholte ich. „Was mache ich denn dann?“ Ich sah ihn an. „Was wird denn dann aus mir? Was passiert dann mit mir? Muss ich wegrennen, so wie Ray?“
Ich konnte nicht aufhören, zu weinen.
„Nein, das musst du nicht.“ Kai zog mit Nachdruck an meinem Arm, um mir wohl zu signalisieren, dass ich mich anlehnen sollte.
Ich zögerte, weil es mir komisch vorkam, aber er gab nicht nach und ich ließ mich langsam an seine Brust ziehen.
„Wird sie wieder wach?“
„Ganz bestimmt.“ Sein Arm schloss sich um mich, so fest, wie es seine verletzte Schulter zuließ. „Sie ist eine Parker. Mir ist zu Ohren gekommen, dass die nicht so schnell aufgeben, sondern um das kämpfen, was sie wollen.“
Ja, das stimmte. Ich hatte gekämpft. Um Kai. Nun war das eingetroffen, was ich wollte. Er stieg mal von seinem hohen Ross herunter und verhielt sich menschlich.
„Und den hier.“ Kai deutete auf einen silbernen Ring an seiner Hand. „Den hast du Ray und mir geschenkt.“
Ich holte einen der Ringe aus meiner Hosentasche und hielt ihn ihm hin.
„Opa hat sie mir geschenkt“, erklärte ich es. „Ich soll zwei Freunde auswählen, von denen ich meine, dass sie ihn verdienen. Sozusagen den wichtigsten Freunden.“
Kai sah mich ausdruckslos an.
„Ich möchte, dass du einen nimmst.“
„Du erinnerst dich nicht zufällig an meinen Ruf?“ Kai mied ganz kurz den Blickkontakt zu mir.
„Doch, ein bisschen schon.“ Ich grinste verhalten. „Du bist ein Weiberheld?“
„Das war ich“, stimmte Kai zu und sah mir plötzlich voller Selbstbewusstsein in die Augen. „Ich habe es abgelegt, aber in einem schwachen Moment hast du mich mit einer anderen überrascht.“
Die Türe fiel ins Schloss und ich wir standen uns alle gegenüber. Eindeutig überrascht und teilweise auch sehr verlegen. Kai hatte nicht mit uns gerechnet, das sah ich ihm deutlich an.
Die junge Frau neben ihm vermutlich genauso wenig. Sie stand verunsichert vor uns und es bestand kein Zweifel, dass es das war, wonach es aussah. Ich erkannte sie wieder. Ich hatte Kai mit ihr in der Disco gesehen. Sie hatten sich unterhalten. Da hätte es mir wohl schon dämmern müssen. Wann unterhielt er sich schon mit Fremden?
„Ähm“, murmelte sie, offensichtlich peinlich berührt, während Kai neben ihr stand und sein Blick unsere Gesichtsausdrücke prüfte. „Hi.“
Keiner von uns antwortete ihr, wohl vor allem, weil wir wussten, dass wir sie nicht wiedersehen würden.
„Also ...“ Sie sah unsicher zu Kai. „Rufst du an?“
Bevor er aber auch nur Luft holen konnte, wandte sich Caitlin etwas brüsk an sie. „Nein, Schätzchen, das wird er nicht.“
„Komm.“ Ray bot an, sie hinauszubegleiten.
Die Unbekannte folgte ihm aus der Haustüre.
„Weißt du wenigstens ihren Namen?“ Caitlin klang das erste Mal, seit ich sie kannte, kühl, wenn sie mit ihrem Cousin sprach.
„Ja, aber der interessiert dich nicht wirklich, nehme ich an.“ Kai stand vor ihr, doch er sah mich an.
„Wenigstens bringst du deinen Damenbesuch zur Türe“, murmelte Caitlin und schüttelte den Kopf. „Unfassbar, Kai. Ich dachte, du hättest diese Zeit hinter dir gelassen, weil du ...“
Sie brach ihren Satz ab.
Mir fehlten ebenfalls die Worte. Ich starrte Kai die ganze Zeit über an und wusste nicht, was ich zu ihm sagen sollte. Schließlich kam mir nur der Gedanke in den Sinn, auf den mich das vorher geführte Gespräch gebracht hatte.
„Wohl mehr als abwegig.“ Ich warf Caitlin einen Blick zu, dann ließ ich sie mit ihrem Cousin alleine.
Dieses Mal war das Gefühl in meinem Bauch definitiv Eifersucht. Wieso nahm ich Rücksicht auf Kai, in Bezug auf meine Gefühle für Ian? Wieso wollte ich ihn überzeugen, dass er Jess akzeptierte? Kai schien es egal zu sein, womit er mich schockte, also sollte es mir vermutlich ebenso egal sein.
Ich hörte noch, wie Caitlin ihn laut als Schwachkopf beschimpfte, dann kam sie mir hinterher.
„Oh“, stieß ich aus. „Ich erinnere mich.“
Ich erinnerte mich auch an das merkwürdige Gefühl in einem Bauch. Ich konnte die Eifersucht beinahe spüren, die ich an diesem Tag empfunden hatte. Als ich daran dachte, erinnerte ich mich an noch etwas.
Ich ließ mich im Wasser treiben und legte das Kinn auf meine Hände, als sich plötzlich links und rechts neben mir zwei Hände am Beckenrand festhielten und ich mich deshalb überrascht umdrehte.
Ich hatte keinen Halt und griff intuitiv nach Kais Schultern, zwischen dessen Armen ich im Wasser hing.
„Hey“, stieß ich überrascht aus.
„Hey?“ Kai grinste. „Alles in Ordnung bei dir?“
Er sah mich an und weil ich immer wieder von seinen starken, aber nassen Schultern abrutschte, legte ich die Hände in seinem Nacken zusammen und hielt mich so über dem Wasser.
„Warum fragst du?“ Ich fühlte mich etwas unsicher. Ihm in diesem Augenblick so nah zu sein, fühlte sich merkwürdig an. „Kommt jetzt eine Ansage, oder willst du nur plaudern?“
„Wir reden doch kaum noch.“
„Ja, weil du nie besonders gesprächig bist, wenn Ian da ist“, wies ihn darauf hin.
„Er ist ständig da.“ Es klang nicht vorwurfsvoll, doch glücklich klang es auch nicht.
„Du bist doch in letzter Zeit ziemlich umgänglich, was ihn betrifft“, bemerkte ich. „Warum bist du denn freundlich zu ihm, wenn er dich stört?“
„Weil ich wollte, dass ihr euch bei uns trefft.“ Kai sah mich ganz genau an. „Ich will mich nicht wiederholen und dir die Gründe nennen, weswegen ich ihn nicht mag, aber lass mir wenigstens das.“
„Was genau?“ Ich sah ihn verwirrt an.
„Trefft euch bei uns, damit ich auf dich achten kann“, bat er mich.
Ich lächelte sanft. Obwohl ich es nicht gemerkt hatte, hielt er mich also doch im Blick, wenn Ian da war.
„Du willst also immer noch auf mich achten, wenn ich mit Ian zusammen bin? Dazu gibt es wohl keinen Grund mehr, oder?“
„Den wird es immer geben. Den gibt es wohl erst dann nicht mehr, wenn du ...“
„Hey“, unterbrach ich ihn leise. „Zwischen Ian und mir läuft es gut. Er ist wirklich zurückhaltend, was das betrifft.“
„Ach, findest du?“ Kai klang abfällig.
„Ich werde mit ihm reden“, deutete ich an. „Ich habe gesehen, dass er dich irgendwie provozieren will.“
„Darum geht es mir nicht“, erwiderte Kai entschieden. „Mir ist egal, ob er sich an dich heranwirft, um mich zu ärgern. Mich stört nur die Gesamtsituation. Mich stört die Tatsache, dass er überhaupt in der Position ist, sich an dich ranzumachen.“
„Wenn es weiterhin gut bei ihm und mir läuft, brauchst du dir nun wirklich keine Gedanken mehr machen“, wies ich ihn darauf hin. „Seine Vorgeschichte wird dann keine Rolle mehr spielen.“
Es war ein Wink mit dem Zaunpfahl und Kai verstand ihn. Ich wollte seine Reaktion wissen. Mir ging immer noch nicht aus dem Kopf, was Caitlin zu mir gesagt hatte. Ich wollte wissen, wie abwegig es war, dass Kai und ich uns irgendwann näher sein würden, als wir es sonst waren.
„Du ziehst doch nicht wirklich in Erwägung, mit Ian zu schlafen?“ Er sprach leise, doch in seiner Stimme lag ein wütender Unterton.
„Ist das ein Problem für dich?“ Ich sah ihn prüfend an.
Ihn schien es tatsächlich wütend zu machen. Natürlich hatte ich nicht vor, in der nächsten Zeit mit Ian zu schlafen. Ich hatte mich eigentlich nur überstürzt auf die Beziehung mit ihm eingelassen, weil ich Kai damit zeigen wollte, dass er mir nicht vor den Kopf stoßen konnte, wenn er es wollte.
Es war Zufall, dass es nun trotzdem gut lief. Solange ich aber dieses Gefühlschaos in meinem Kopf hatte, war ich nicht bereit, mich endgültig auf Ian einzulassen. Ich musste zuerst herausfinden, ob ich tatsächlich Gefühle für Jess hatte und genauso wollte ich wissen, was das für eine komische Spannung zwischen Kai und mir war.
Ich war eifersüchtig wegen seines One-Night-Stands und er war scheinbar eifersüchtig auf Ian. Wieso aber war das so? Wir waren bloß Freunde, doch es war anscheinend keine Freundschaft, wie die mit Ray oder den anderen. Irgendetwas war zwischen Kai und mir anders und ich wusste einfach nicht, was es war.
„Ich will das nicht.“ Kai klang entschlossen und ziemlich wütend, doch er sprach leise und starrte mir in die Augen.
Ich wollte ihn testen und herausfinden, ob er tatsächlich eifersüchtig war. Hatte Caitlin vielleicht Recht und er wollte mir deshalb immer alle anderen Männer madig machen?
„Du willst es nicht?“ Ich lächelte leicht.
In seinem Blick lag Verwunderung. Er dachte wohl, dass wir streiten würden, weil mich seine Aussage wütend machte. Das sollte sie wohl eigentlich auch, sie tat es aber nicht.
Ich zog mich an Kai hoch und schloss nicht mehr nur die Hände, sondern die Unterarme um seinen Nacken, bis ich ihm ganz nah war und sich unsere Nasen fast berührten.
„Wieso willst du das nicht?“ Ich flüsterte.
„Du solltest dir nur wirklich sicher sein.“ Kai sah mir starr in die Augen.
„Weil das erste Mal etwas Besonderes sein sollte?“ Ich grinste leicht, doch ich wandte den Blick nicht von ihm ab, obwohl sich unsere Nasen tatsächlich, wegen der Unruhe des Wassers, zwischendurch berührten. „Weil es mit jemandem sein sollte, der mir wichtig ist? Willst du darauf etwa hinaus?“
„Ja.“
„Das ist ja richtig einfühlsam von dir“, bemerkte ich. „Ich hätte nicht gedacht, dass ausgerechnet du das so siehst.“
Kai schwieg und starrte mich weiterhin ausdruckslos an.
„Ja, es sagen immer alle, dass es mit jemandem sein soll, der einem wirklich wichtig ist.“ Ich beschloss, ihn zu reizen, um ihm eine Antwort zu entlocken, an der ich erkennen konnte, ob Caitlins Vermutung stimmte. „Du willst nicht, dass ich dieses besondere erste Mal an Ian verschwende.“
„Du solltest es nicht irgendwann bereuen.“
„Sollte es lieber mit dir sein?" Ich stellte die Frage einfach gerade heraus, obwohl ich mich ziemlich unwohl dabei fühlte.
Für eine Sekunde blitzte Überraschung in Kais Augen auf, doch dann beherrschte er sich. „Nein.“
„Aber du bist mir wichtig“, setzte ich hinzu. „Wichtiger als die meisten. Vermutlich würde ich es also deshalb nicht bereuen. Es spricht doch also nichts dagegen.“
„Ach nein?“ Er gab sich Mühe, mich wieder nur ausdruckslos anzusehen, aber dieses Mal lag noch etwas in seinen Augen, das ich vorher noch nicht gesehen hatte.
„Wieso bist du denn eifersüchtig, wenn du kein Interesse hast? Ich meine, sonst kommt das ja eher selten bei dir vor.“ Für einen kurzen Moment sah ich noch die Wut in seinen Augen aufblitzen, doch dann änderte sich sein Gesichtsausdruck schlagartig.
Kai zog sich näher an den Beckenrand und drückte mich dagegen. Seine Hand glitt über meine Hüfte und herunter an mein Bein. Ich wusste gar nicht, wie mir geschah, als ich schließlich durch seine nachdrückliche Berührung, meine Beine um ihn gelegt hatte und er sich an mich presste. Mir wurde mulmig zumute. Es waren keine richtigen Schmetterlinge, wie bei Jess, doch auch Kais Nähe ließ mich in diesem Moment nicht so kalt, wie ich erwartet hatte.
„Wie du willst.“ Er flüsterte es und kam mir so nahe, dass sich unsere Lippen wegen des nächsten Wellenganges kurz berührten. „Gleich hier oder wollen wir nach Hause gehen?“
Es überraschte mich so sehr, dass ich sprachlos war. War das etwa sein Ernst? Wieso musste ich ihn auch reizen? Bloß, weil ich eifersüchtig war? Warum zum Teufel verschwand dieses Gefühl nicht einfach?
Seine Hand glitt erneut an meine Hüfte und er griff an den Bund meiner Bikinihose.
„Ich kann nicht.“ Es platzte beinahe aus mir heraus.
Es war nicht richtig, fühlte sich nicht so an.
Kai hatte mich bis zu diesem Augenblick entschlossen angesehen, doch nun änderte sich sein Blick. Er wirkte plötzlich wieder freundlicher und zugänglicher.
„Du willst nicht.“ Er ließ meine Hose wieder los und legte seine Hand an meine Hüfte. „Und das ist völlig in Ordnung.“ Ich sah ihn überrascht an. „Wenn du also das gleiche Gefühl bei Ian hast, dann sag ihm das und lass dich nicht auf etwas ein, was du bereuen würdest.“
Ich war völlig perplex. „Du hättest das gar nicht durchgezogen, nicht wahr?“
„Auf keinen Fall.“ Kai schüttelte den Kopf und lächelte leicht. „Ich bin nicht blöd, Douphne. Ich habe gemerkt, dass du mich provozieren willst und ich wollte testen, wie lange du das durchziehst.“
„Und wenn ich keinen Rückzieher gemacht hätte?“ Die Frage brannte mir in diesem Moment auf der Seele, während ich versuchte, dieses Gefühl zu verdrängen, das ich in dem Augenblick empfand. Ich fühlte mich tatsächlich zu ihm hingezogen.
„Dann hätte ich die Bremse gezogen, bevor es zu weit gegangen wäre.“ Er sah mich eindringlich an und ich fragte mich, wo für ihn wohl dieser Punkt gewesen wäre. „Ich würde dich niemals anfassen, schon gar nicht, weil du einen Freund hast.“
„Du warst ziemlich überzeugend“, murmelte ich nur.
„Ich mache das ja auch nicht zum ersten Mal.“ Er grinste.
Kai schien es scherzhaft zu sehen, doch wir waren noch immer aneinandergepresst und ich wurde dieses blöde Gefühl nicht los. Mein Bauch kribbelte vor Aufregung, doch dann kam da wieder das Gefühl durch, dass ich wegen dieser Frau sauer war.
„Ich wollte dich nicht bedrängen und es tut mir leid, falls ich in deinen Augen zu weit gegangen bin.“
„Schon in Ordnung“, erwiderte ich bloß, doch die Eifersucht übermannte mich genauso schnell, wie seine Nähe mich verwirrte. „Ich bin halt keine dieser Frauen.“
Kai bemerkte den Unterton in meiner Stimme und hörte auf, zu grinsen.
„Nein, das bist du nicht“, sagte er entschieden. „Ich würde mich mit dir niemals auf so etwas einlassen.“
„Ich passe schließlich nicht wirklich in dein Beuteschema.“ Ich wollte mich gar nicht streiten, doch es störte mich.
Einfach alles an dieser Sache störte mich und ich wurde wahnsinnig, weil ich nicht wusste, warum.
„Ich sollte jetzt zu Ian gehen.“ Ich klang wohl genauso sauer, wie ich mich fühlte. „Und du kannst ja nach Hause gehen und wieder eine von deinen Bettgeschichten anrufen. Wollen wir mal nicht so tun, als hätte sich irgendwas geändert.“
Ich wollte ihn von mir wegdrücken, doch er sperrte sich und ließ mir noch immer keinen Freiraum.
„Du bist wütend auf mich, wegen neulich?“ Er sprach leise.
„Ich war überrascht“, bemerkte ich und versuchte, seinem Blick auszuweichen. „Ich dachte, dass du diese Zeit hinter dir gelassen hast, aber offenbar habe ich mich geirrt. Das ist in Ordnung, ich war halt einfach nur ...“
„Eifersüchtig?“
„Nein, überrascht“, erwiderte ich entschieden.
Kai sah mich aufmerksam an und nickte schließlich leicht. „Ich wusste nicht, dass ich dich damit verletzt habe.“
Er wischte mir mit seiner Hand eine nasse Strähne aus dem Gesicht und klemmte sie mir hinter das Ohr.
„Hast du nicht.“ Vermutlich hatte er Recht. Es hatte mich verletzt, doch wieso war das so? „Und selbst wenn ... Hättest du es nicht getan, wenn du es gewusst hättest?“
„Hätte ich das nicht, wärst du jetzt wohl auch nicht mit deinem Freund zusammen.“ Er hatte es sich also zusammengereimt.
Kai kannte mich einfach zu gut. Er wusste, dass mich dieser eine Nachmittag in Rage gebracht hatte und dass ich das Gefühl gehabt hatte, kontern zu müssen.
„Ich mag ihn!“ Es klang energisch und es schien, als müsste ich mich selber mehr davon überzeugen, als ihn.
„Ja und“, erwiderte Kai nur. „Du magst auch jeden der Menschen da draußen. Die Frage ist, ob du ihn liebst.“
„Ja“, schoss es nun laut aus mir heraus, als müsste ich es auch ihm beweisen.
„Und trotzdem hast du heute mehr Zeit mit Jess und mir in diesem Tunnel verbracht, als mit Ian da draußen, wo du es hättest zeigen können.“
„Hättest du nicht mit ihr geschlafen, wenn du gewusst hättest, dass es mir etwas ausmacht?“ Ich stellte die Frage erneut, dieses Mal energischer.
„Es hat dir also etwas ausgemacht.“ Kai lächelte. „Aber das spielt ja keine Rolle, schließlich liebst du Ian.“
Ich gab mir Mühe, mir die Nervosität nicht anmerken zu lassen, die ich plötzlich empfand.
Was war das für eine Spannung zwischen Kai und mir gewesen? Gab es diese Spannung immer noch?
Er sah unglaublich gut aus, das musste ich zugeben, und ich fühlte mich auch in dieser Sekunde von seiner Nähe eindeutig angezogen.
Ohne es aufhalten zu können, drängte sich mir eine weitere Erinnerung auf.
„Es geht schon wieder.“ Ich starrte geradeaus.
Kai legte behutsam die Hände auf meine Schultern. Ich versuchte, sie abzuwimmeln und wand mich unter seiner Berührung. „Es geht mir gut. Du kannst ruhig wieder gehen.“
Er ignorierte es und strich mir stattdessen einfach mit der Hand über den Rücken.
„Bitte, lass mich alleine.“ Meine Stimme zitterte.
Ich stand kurz vor einem erneuten Zusammenbruch. Thalia wiederzusehen, war der schönste Tag seit langem, aber es hielt mir den Verlust von Jess nur noch mehr vor Augen.
„Nein“, erwiderte Kai entschieden. „Es geht dir schlecht und ich will bei dir sein. Du hast dich lange genug alleine verkrochen, jetzt lasse ich mich nicht mehr abwimmeln.“
Er hatte ja Recht. Ich hatte ihn mehrfach abgewiesen, obwohl er immer nur versucht hatte, mir ein Freund zu sein und für mich da zu sein. Ich konnte seine Nähe nicht ertragen, niemandes Nähe.
Ich hatte Kai auf eine sehr unfreundliche Art und Weise klargemacht, dass er sich von mir fernhalten sollte und er hatte es hingenommen. Vielleicht war inzwischen aber wirklich der Zeitpunkt gekommen, mich ihm zu öffnen. Jetzt, wo er erneut den Versuch wagte, sich anzunähern und für mich da zu sein.
Ich wollte nur nicht wieder einknicken. Ich wollte ein einziges Mal stark sein und alleine mit etwas klarkommen. Ich konnte mich doch nicht immer darauf verlassen, dass er zur Stelle sein würde, um mich zu stützen.
„Ich muss alleine damit zurechtkommen.“ Ich fing an zu weinen, doch ich stand noch immer mit dem Rücken zu ihm.
Er griff um mich herum und zog mir die Jacke, die ich noch immer trug, von den Schultern.
„Du kannst dich nicht für immer verstecken.“ Seine Stimme klang beruhigend.
„Sieh‘ mich doch an.“ Ich starrte an mir herunter.
Meine Bluse war voller Kaffee und ich versuchte, einen der Knöpfe zu öffnen, aber meine Hände zitterten so sehr, dass ich es nicht hinbekam.
Ich wollte in dem Moment nichts dringender, als sie auszuziehen und verlor beinahe die Nerven, weil ich es nicht schaffte.
Kai legte die Arme um mich herum und hielt meine Hände fest. Er stand ganz dicht hinter mir und sah mir über die Schulter.
„Ich kann nicht mehr.“ Ich sprach leise und die Verzweiflung klang in meiner Stimme durch.
„Ich bin hier.“ Kai ließ meine Hände wieder los, als ich die Arme, noch immer zitternd, hängenließ und tief einatmete. „Du kannst weinen und schreien, wenn es dir hilft. Du kannst mich beschimpfen, wenn es dir dadurch besser geht. Es spielt keine Rolle. Wichtig ist nur, dass du es rauslässt.“
Weinen tat ich schon zu genüge und mir war nicht nach schreien zumute. „Ich will nur aus dieser Bluse raus.“
Ich klang völlig verzweifelt, aber es war für mich in diesem Moment wirklich ein großes Problem, dass ich mit Kaffee versaut war. Es machte mich verrückt, grenzte an eine Panikattacke.
Es tat gut, dass es sich so anfühlte, weil dadurch der Schmerz etwas nachließ, doch es störte mich. Ich fühlte mich wie ein nervliches Wrack und dieser Fleck macht alles nur noch schlimmer. Ich war fertig, völlig ausgelaugt.
„Ich helfe dir.“ Er griff um mich herum und fing behutsam an, den obersten Knopf meiner Bluse zu öffnen.
Ich beruhigte mich innerlich. Ich hatte angenommen, dass es mich wahnsinnig machen würde, wieder jemanden in meine Nähe zu lassen, doch es tat gut, dass Kai da war. Zuerst merkte ich es nicht, doch ich lehnte mich inzwischen an ihm an, während er einen Knopf nach dem anderen öffnete.
„Wieso musste er sterben?“ Ich sprach leise.
Kai hatte den letzten Knopf der Bluse geöffnet. Er legte seine Hand auf meinen nackten Bauch und kreiste langsam darüber. Es beruhigte mich, tat mir gut.
„Wäre es dir lieber, du wärst es gewesen?“
„Ich weiß es nicht.“ Meine Stimme zitterte.
Ich beugte mich nach vorne und stützte mich erschöpft mit den Händen auf der Fensterbank ab. Kai stellte sich neben mich. Seine Hand wanderte von meinem Bauch an meinen Rücken, schob sich unter die Bluse und strich mir beruhigend über die Haut.
„Ich … Er fehlt mir so, Kai!“ Ich hob den Blick und sah ihm das erste Mal an diesem Tag in die Augen.
Diese grau-blauen Augen, die mich so sanft anstarrten, wie sie es noch nie getan hatten.
Neben mir stand in diesem Moment ein ganz anderer Mensch und ich hatte das Gefühl, dass ich mich bei Kai fallenlassen konnte. Ganz gleich, was er von Jess gehalten hatte. Es ging um mich. Er war wegen mir in diesem Zimmer und er versuchte, mich zu trösten und mir Halt zu geben.
Wir waren so eng befreundet und er war mir wichtig. Wieso sollte ich mich also dagegen wehren, dass er für mich da war? Wieso hatte ich mich seit dem Verlust so dagegen gesträubt, ihn in meine Nähe zu lassen, wo sie mir doch offenbar so guttat?
Ohne zu zögern, schloss ich die Arme um seinen Nacken zusammen, schloss die Augen und lehnte meine Stirn an seinem Hals an. Ich wollte mich wirklich nur noch fallenlassen und mich für einen Moment so fühlen, also könnte das alles mir nichts mehr anhaben. So konnte ich mich fühlen, solange er mich im Arm hielt. Ich brauchte das, brauchte ihn.
Kais Arme schlossen sich fest um mich und ich gab nach. Jeder Teil von mir gab nach. Ich ließ die Kraft aus meinen Beinen schwinden und sank, gemeinsam mit ihm, auf den Boden. Ich lehnte mich an ihn und weinte.
Was war das für ein Kribbeln in meinem Bauch? Ich hatte es an diesem Tag nicht gefühlt, weil die Trauer um Jess zu präsent gewesen war.
Aber nun konnte ich es fühlen. Kais Nähe hätte mich an diesem Tag unter normalen Umständen verwirren müssen. Ich konnte kaum den Gedanken akzeptieren, dass ich damals scheinbar ignorant verdrängt hatte, dass zwischen uns etwas war, da erinnerte ich mich bereits an noch eine Sache.
„Kai?“ Er gab ein müdes Brummen von sich. „Kai.“
Er lag auf dem Bauch und hatte das Gesicht von mir weggedreht, doch nun drehte er sich mühsam auf den Rücken und öffnete verschlafen die Augen.
„Douphne.“ Er sah mich an. „Ist etwas passiert?“
„Ich weiß, es ist sehr spät …“
Er warf einen Blick auf den Wecker.
„Oder sehr früh …“, murmelte er leise.
Sein Blick zeigte Mitgefühl, von dem ich wusste, dass es nur so war, weil es mir nicht gut ging.
„Mir ist kalt …und ich kann nicht schlafen …“
Bevor ich fragen konnte, rutschte Kai zur Seite und hob die Decke an. Etwas überrascht, dass er es einfach mit dieser Geste abtat, obwohl ich ihn mitten in der Nacht geweckt hatte, legte ich mich zu ihm.
Es fühlte sich komisch an und ich lag versteift da, dann sah er mich mit seinem müden Blick an und ich ignorierte, wie merkwürdig es war, dass ich mit ihm in einem Bett lag.
„Brauchst du irgendwas?“ Er flüsterte beinahe.
Für einen kurzen Augenblick zögerte ich, doch dann sprach ich meinen Wunsch aus. „Nimm mich einfach nur in den Arm, bitte.“
Das tat er, ohne zu zögern. Er rutschte näher an mich heran und vergrub sein Gesicht in meinen Haaren. Ich konnte seinen Atem darin spüren, als er schließlich den Arm um mich legte und mich mit Nachdruck an sich heranzog.
Er hielt mich fest und war binnen weniger Sekunden wieder eingeschlafen. Wirklich bewundernswert. Ich wäre hellwach gewesen, wenn man mich geweckt hätte.
Ich griff nach seiner Hand und umklammerte sie mit beiden Händen, während ich mich endlich geborgen fühlen konnte und die Müdigkeit mich bald übermannte. Mit jemandem neben mir, kam ich mir nur noch halb so einsam vor und schon bald schlief ich ein.
Ich musste schlucken. Das Kribbeln in meinem Bauch wollte einfach nicht verschwinden und meine Nervosität nahm stetig zu, umso mehr ich mich an uns erinnerte.
„Du hast also tatsächlich einen netten Kern in dir.“ Ich lachte, um mich selber abzulenken, aber vor allem, um ihn abzulenken, damit er meine Verwirrtheit wegen meiner Gefühle nicht bemerkte.
„Sag das bloß nicht zu laut, sonst ist mein Ruf hinüber.“ Kai grinste.
Er schien tatsächlich humorvoll zu sein. Das konnte ich kaum glauben, doch eine weitere Erinnerung zwang sich mir auf.
„Wie geht es dir?“ Es klang nicht so, wie bei den anderen, wenn sie danach fragten. Er schien eine ehrliche Antwort hören zu wollen. „Wir haben seit deinem Weckmanöver nicht mehr wirklich darüber geredet.“
„Es geht mir ganz gut“, antwortete ich ehrlich. „Besser, als in dieser Nacht. Es geht bergauf.“ Ich senkte kurz den Blick, dann sah ich ihn wieder an. „Danke, dass du für mich da warst.“
„Die Hauptsache ist doch, dass es dir besser geht.“ Er schob mich voran und wir schlenderten nebeneinander her. „Vier Uhr morgens ins nicht ganz meine Uhrzeit, aber wenn es dir hilft, dann bin ich trotzdem da …Sehr müde zwar, aber ich hoffe, dass ich dir trotzdem helfen konnte.“
„Das hast du.“ Ich nickte. „Es tut mir leid, dass ich deine Privatsphäre verletzt habe. Es kommt nicht wieder vor, dass ich dich nachts einfach wecke und in dein Bett klettere, versprochen.“
Kai lachte leise.
„Du ziehst Katastrophen doch magisch an.“ Er flüsterte beinahe und beugte sich zu mir herüber, da man in unserer Umgebung bereits hellhörig wurde. „Weck mich, wann immer du willst. Es stört mich nicht, das Bett ist groß genug.“
Ich war restlos verwirrt. Was hatte das nur alles zu bedeuten? Hatte ich nie gemerkt, dass es sich oft merkwürdig anfühlte, in Kais Nähe zu sein? Hatte ich wirklich nie diese merkwürdige Anspannung gefühlt, wenn er so mit mir sprach?
Vermutlich hatte ich es nicht gemerkt, weil ich zur der Zeit in Jess verliebt gewesen war. Es war erstaunlich, doch nun schien genau diese Tatsache keine Rolle mehr zu spielen.
Für einen Moment schwieg ich, doch dann fiel mir eine Frage ein. „Das abgeschlossene Zimmer oben. Wirst du mir jemals sagen, was darin ist?“
Kai zögerte merklich.
„Ein Gästezimmer“, antwortete er dann. „Solange dort niemand wohnt, schließen wir es ab.“
Das glaubte ich ihm nicht. Seine Augen sagten etwas anderes.
„Ich glaube, du verschweigst mir etwas.“ Ich versuchte, Kais Blick zu deuten. Er saß noch immer dicht bei mir und sah mir in die Augen. „Wirst du mir jemals sagen, was ich wissen sollte?“
Plötzlich grinste er mich an. „Ich habe dir bereits zwei Mal das Leben gerettet. Du solltest den Rest deines Lebens dafür nett zu mir sein.“
Er machte Späße, doch danach war mir gar nicht.
„Ich finde das nicht lustig, Kai“, ermahnte ich ihn und ging näher an ihn heran, mit der Absicht, er würde meinen mahnenden Blick auch auf jeden Fall bemerken. „Ich meine es ernst.“
Ohne Vorwarnung nahm er plötzlich meine Hand in seine. So nah waren wir uns nicht gewesen, seit ich wieder in Spellington war. Er hatte immer versucht, Abstand zu halten. Nun saßen wir dicht beieinander, nur wenige Zentimeter voneinander entfernt und er hielt meine Hand, tippte an meinen Fingern herum.
„Du musst mir nur die richtigen Fragen stellen“, sagte er leise. „Dann werde ich dir sofort ehrlich darauf antworten.“
Ich hätte ihn vermutlich alles Mögliche fragen können, doch ich hatte Angst davor, etwas zu erfahren, was ich vermutlich gar nicht wissen wollte.
„Gibt es etwas, das wir immer zusammen gemacht haben? Haben wir uns vielleicht zusammen Filme angesehen?“
Er musterte mich verwundert, doch schließlich nickte er.
„Dann los.“ Ich griff nach der Fernbedienung und schaltete durch die Kanäle. „Schau mal, der ist bestimmt gut.“
„Du hast ihn bereits gesehen“, bemerkte Kai nüchtern. „Und ja, er hat dir gefallen.“
„Weiß ich nicht mehr.“ Ich ignorierte den gequälten Unterton in seiner Stimme, setzte mich zurück an seine Seite und schnappte mir die Wolldecke, die neben ihm lag.
„Darf ich?“ Bevor Kai aber reagieren konnte, lehnte ich mich an ihn und verschwand darunter.
Kai war so perplex, dass er zuerst gar nichts erwiderte. Er hielt inne, wie erstarrt, wartete ab. „Kriege ich auch ein Stück ab, wenn ich schon genötigt werde, diesen Film ein zweites Mal zu gucken?“
„Warte.“ Ich rutschte noch etwas näher an ihn heran, legte den Kopf auf seine Brust und zog die Decke über uns drüber. „So ist es gemütlicher.“
Kai hielt die Arme in der Luft, irritiert von meinem vertrauten Verhalten. Er blickte verwundert auf mich herab und zögerte, als er ganz langsam die Hände sinken ließ und schließlich den Arm um mich legte.
„So?“ Er wusste wohl nicht so recht, was er sonst sagen sollte, denn nun war er eindeutig derjenige, der sich unwohl fühlte, während meine Distanz restlos verschwunden war.
Nach all den Erinnerungen, die mir nun gezeigt hatten, dass wir einander mochten und dass ich ihm scheinbar bedingungslos vertrauen konnte, gab es für mich keinen Grund mehr, mich von ihm zu distanzieren.
„Perfekt“, murmelte ich also nur.
Während des kompletten Filmes sagte keiner von uns auch nur ein einziges Wort. Kai schien sich im Minutentakt etwas mehr zu entspannen, doch natürlich war diese Situation auch für mich ungewohnt.
Ich wusste nicht, wie ich zu Kai stand. Ich wusste durch alle Erinnerungen nicht mehr, wie genau ich überhaupt zu wem stand. Fakt war, dass Kai zwar in den meisten Erinnerungen ein Arschloch war, doch nun, wo er direkt neben mir lag, wirkte er wie ein anderer Mensch.
Kai gab sich meistens die größte Mühe, kühl und abweisend zu sein, doch in diesem Augenblick gelang es ihm nicht. Er wirkte zugänglicher und er vermittelte mir in diesem Moment ein Gefühl von Sicherheit, als ich in einem Arm lag und vor mich hindöste.
Dieser Moment verleitete mich dazu, etwas zu tun, von dem ich mir nicht sicher war, ob ich es getan hätte, wenn ich keine Amnesie gehabt hätte.
Als der Abspann lief und ich aus meinem Halbschlaf aufwachte, rutschte ich intuitiv etwas von ihm weg.
Da Kai aber noch immer den Arm um mich gelegt hatte, hinderte er mich daran. „Ist alles in Ordnung?“
„Es tut mir leid“, entschuldigte ich mich. „Ich bin ein bisschen eingenickt.“
„Ist nicht schlimm.“ Mit etwas Nachdruck versuchte er, mich bei sich zu halten. „Du hast dich offenbar wohlgefühlt.“
Ich sah auf und blickte ihm in die Augen. „Ja, das habe ich.“
Es gab keinen Grund, es nicht zuzugeben und doch war es mir plötzlich unangenehm, dass ich mich so hatte gehenlassen.
„Ich weiß nicht, was ich sagen oder tun soll, Douphne.“ Kai klang ratlos und ich spürte, dass er mit sich kämpfte, offen zu sprechen.
Ich wusste aus Erzählungen und Erinnerungen, dass er selten über Gefühle sprach und doch sah ihm an, dass er nun tun würde.
„Ich will dich nicht bedrängen“, begann er leise und, für seine Verhältnisse, ziemlich zurückhaltend. „Oder etwas Falsches zu dir sagen. Du weißt eigentlich gar nicht, wer ich bin. Ich muss dir aber ehrlich sagen, dass ich dich die letzte Zeit am liebsten ganz und gar auf Abstand gehalten hätte. Ich wollte nicht, dass du herkommst und ich wollte in den letzten Wochen keine Zeit mit dir verbringen.“
Es versetzte mir einen Stich und ich zog mich intuitiv noch ein Stück zurück, woran er mich immer noch zu hindern versuchte, indem sich sein Arm fester um mich schloss.
„Es tut mir so leid, Kai.“ Ich entschuldigte mich und war vermutlich kurz davor, in Panik zu verfallen oder vor Scham im Erdboden zu versinken. „Ich gehe sofort. Ich habe mich dir aufgedrängt und es mir hier einfach gemütlich gemacht. Ich weiß wirklich nicht, was ich mir dabei gedacht habe.“
„Nein, bitte warte.“ Er richtete sich auf und zog mich mit Nachdruck an sich heran.
Für jemanden, der noch vor zwei Stunden kaum neben mir auf der Couch sitzen wollte, verhielt er sich eindeutig merkwürdig.
„So ist das wirklich nicht gemeint“, fuhr er entschieden fort und sein Selbstbewusstsein hatte er scheinbar wiedergefunden. „Es ist schön, dass du hier bist.“
Direkte und klare Worte, die mich sichtlich überraschten.
„Es ist egoistisch, aber es ist nicht leicht für mich, dich hier zu haben und ich will nicht, dass es mir so geht“, gestand er. „Deshalb wollte ich dich auf Abstand halten. Aber das heute, deine Nähe …“ Er schien ratlos zu sein und seufzte. „Ich vermisse dich.“
Ich hätte unter normalen Umständen verdutzt sein müssen, denn solch eine Äußerung vom einst unhöflichen Kai McKenzie war nun wirklich eine Besonderheit und für ihn eine große Sache.
„Ich hasse dieses Gefühl und weiß nicht, wie ich damit umgehen soll, wie ich mit dir umgehen soll. Du bist hier und trotzdem fehlst du mir.“
Er starrte mich an. In seinen Augen lag die Verzweiflung, die er spüren musste, die man ihm aber nicht anhörte. Seine Stimme klang stark und selbstsicher, beinahe kühl, wie es sonst auch immer der Fall war.
Die Bedeutung seiner Worte raubte mir allerdings die Sprache. Nach all den Erinnerungen, all den Annäherungen, von denen ich nun wieder wusste, klangen seine Worte in diesem Augenblick wie das Beste, was ich seit einer Ewigkeit gehört hatte.
Deshalb kam ich ihm wieder näher, ohne darüber nachzudenken, es zu merken oder zu zögern. Ich legte die Hand auf seine Schulter und schmiegte mich an ihn, bis sich unsere Lippen fast berührten.
„Douphne ...“ Kai blickte mir starr in die Augen.
Ich drückte meine Lippen sanft auf seine und zögerte einen kurzen Moment, um seine Reaktion abzuwarten.
Er schien zuerst verwirrt zu sein, doch plötzlich griff er mir in den Nacken und erwiderte den Kuss. Ich spürte das Kribbeln in meinem Bauch und verlor mich in dem Augenblick.
In diesem Moment gab nur uns zwei und es fühlte sich richtig an, als er mich kraftvoll an sich zog und mich nah bei sich hielt.
Als ich aber im selben Moment hörte, wie die Haustüre aufgeschlossen wurde und mir klarwurde, wozu ich mich hatte verleiten lassen, beeilte ich mich, von der Couch zu kommen und stürmte an Ray vorbei, aus dem Haus.
Der warf sofort den Schlüssel in die Ecke und kam ins Wohnzimmer. „Hast du es ihr gesagt?“
Kai saß, mit einem verdutzten Gesichtsausdruck, einfach nur da und schüttelte den Kopf.
„Was war dann los? Habt ihr euch gestritten?“
Kai schüttelte erneut den Kopf.
„Was hast du wieder angestellt?“ Ray verschränkte die Arme.
Erst dann sah Kai ihn an und stand auf. „Ich habe gar nichts getan.“
Er ging an Ray vorbei zur Küche, ziellos, neben sich stehend.
„Ich dachte, dass ihr reden wolltet, doch ihr habt ferngesehen?“ Ray folgte ihm, wollte eine Erklärung.
„Wir haben geredet“, beteuerte Kai. „Dann wollte sie einen Film sehen und danach haben wir wieder geredet und dann ...“
Er brach den Satz ab und starrte aus dem Küchenfenster.
„Was war dann?“ Rays Interesse war geweckt.
„Ich weiß es nicht“, stammelte Kai allerdings nur fassungslos. „Ich kann so nicht mehr weitermachen. Mir platzt bald der Kopf.“
„Da ich dich anscheinend nicht verstehen kann, kann ich genauso gut das Thema wechseln“, bemerkte Ray kopfschüttelnd. „Luk ist wieder im Café. Er hatte doch heute sein hundertstes Date mit Caitlin. Es ist nun endlich offiziell. Die beiden sind ein Paar.“
„Schön.“ Kai starrte noch immer hinaus.
„Freust du dich denn nicht für deine Cousine?“
Kai war klar, dass ich bei Luk sein würde, um ihm direkt alles zu erzählen und er konnte die Situation nicht einfach so auf sich beruhen lassen, also drehte er sich zu Ray um, lächelte knapp und sagte: „Doch, ich freue mich wirklich für die beiden. Deswegen werde ich jetzt zu Luk gehen und ihm gratulieren, dass er es endlich auf die Reihe gekriegt hat.“
„Lukasz!“ Das Café war bereits geschlossen, doch die Türe war noch offen, deshalb kam ich einfach herein und ging geradewegs auf Luk zu, der hinter dem Tresen für Ordnung sorgte.
„Was ist denn los?“ In seinem Blick lag eine Ahnung und er hoffte, dass er sich irrte.
„Ich habe gerade etwas getan“, begann ich hektisch. „Und ich weiß nicht, wieso ich es getan habe.“
„Wovon redest du?“ Er wirkte verwirrt, aber auch erleichtert.
„Ich war bei Kai. Wir haben uns unterhalten und ich habe mich an die guten Zeiten mit ihm erinnert“, berichtete ich ihm von meinem Abend.
Luk lächelte. „Das freut mich für dich, aber wo liegt denn das Problem?“
„Heute habe ich so viele Dinge vor meinen Augen gesehen. Den Tod von Jess und überhaupt ...“
Luk kam um den Tresen herum und drückte mich sanft auf einen Stuhl herunter. „Beruhige dich. Was genau ist denn vorgefallen?“
Für einen Moment saß ich nur da und atmete tief ein und aus. Dann erschien es mir plötzlich töricht, Luk von dem Kuss zu erzählen.
„Ich … Es ist nur, Kai und ich haben uns einfach mal wieder gut verstanden und …“
In dem Moment ging die Türe auf und Kai persönlich betrat das Café.
„Hey“, grüßte Luk fröhlich. „Wie es scheint, erinnert Douphne sich daran, dass du auch nette Seiten an dir hast.“
Er grinste und Kai konnte es nur mit Mühe erwidern.
„Ja.“ Ich spürte seinen Blick im Nacken. „Douphne, ich wollte eigentlich mit dir ...“
„Wisst ihr was?“ Luk unterbrach ihn freudestrahlend. „Ich finde es eigentlich toll, dass ihr zwei gerade da seid. Trinken wir was zusammen.“
„Genau.“ Kai erinnerte sich an den Vorwand, wegen dem er da war. „Gut, dass ihr es endlich geregelt habt.“
„Was geregelt?“ Ich war für jedes Thema dankbar, das von mir ablenkte.
„Danke, Kai.“ Luk strahlte noch immer. „Douphne, lasst uns drei darauf anstoßen, dass ich nun mit Caitlin zusammen bin.“
Ich lächelte nun ebenfalls und Luk deutete auf einen Stuhl. „Setz dich Kai. Ich gehe eben was aus dem Lager holen.“
Kaum war er verschwunden, setzte Kai sich zu mir.
„Wir sollten uns unterhalten.“ Er flüsterte. „Das da gerade ...“
„Es tut mir leid“, entschuldigte ich mich sofort. „Ich bin nur total verwirrt. Das alles ist momentan zu viel für mich. Ich habe Chaos in meinem Kopf, weil ich nicht einordnen kann, wie viel mir jeder einzelne von euch bedeutet.“
„Ich möchte keine Entschuldigung von dir, Douphne.“ Kai warf mir einen resignierten Blick zu.
„Das war einfach …“
„Die Amnesie.“
„Genau.“ Doch wenn schon die freundschaftlichen Gefühle für Kai so stark waren, dann war mir nun wenigstens eine Sache klar.
Jess war ein Freund. Ich mochte ihn, doch aus irgendeinem Grund liebte ich ihn nicht mehr. „Vergessen wir das einfach? Tun wir einfach so, als wäre nichts passiert?“
Kai nickte bloß und lehnte sich zurück.
In gewisser Weise log ich. Vergessen wollte ich den Kuss ganz sicher nicht, dafür hatte mich der Moment zu sehr aus der Bahn geworfen. Trotzdem war es mir zu viel und ich wollte in mein Leben nicht noch mehr Chaos bringen, als dort ohnehin schon vorhanden war.
„So, Leute.“ Luk tauchte wieder im Laden auf.
Er stellte Gläser und eine Flasche Alkohol auf den Tisch, wir freuten uns mit ihm und tranken.
Wir blieben bis spät in die Nacht bei Luk und als ich schließlich aufstand und mich verabschiedete, tat Kai es mir gleich und begleitete mich nach draußen. „Lass uns gehen.“
„Uns?“ Ich sah ihn verwundert an.
Er schien sich kurz auf die Lippe zu beißen, als hätte er etwas Verbotenes gesagt.
„Entschuldige, die Macht der Gewohnheit“, berichtigte er sich. „Du warst so oft über Nacht bei uns.“
„Im Gästezimmer“, bemerkte ich.
„Ja, im Gästezimmer.“
Die Schmetterlinge verschwanden aus meinem Bauch, stattdessen machte sich dort erneut das Gefühl breit, dass Kai mir etwas verschwieg. „Nur im Gästezimmer?“
„In der Regel.“
„Und wenn nicht da?“
Ich wusste aus einer Erinnerung, dass Kai und ich uns bereits nahe genug gestanden hatten, dass wir in einem Bett geschlafen hatten. Mich interessierte, ob er es nach diesem Abend zugeben würde und ob es vielleicht etwas gab, was ich nicht wusste.
„Dann in meinem Bett.“ Es klang kurz angebunden, als wollte er das Thema nicht zur Sprache bringen.
„Ich denke, das ist heute keine gute Idee mehr.“ Ich spielte tatsächlich kurz mit dem Gedanken, weil ich hin und hergerissen war.
„Vermutlich nicht“, stimmte er zu und wirkte abweisend.
„Ein anderes Mal gerne, ok?“ Ich versuchte, den Schaden wiedergutzumachen, den ich anscheinend angerichtet hatte. Kai zog sich wieder zurück. Er blockte mich wieder ab, dabei wollte ich das gar nicht. „Wir könnten uns dann ja einen Film ansehen, den du magst.“
„Gut.“ Es klang kühl.
Ich sah ihn traurig an, doch er schien es nicht zu merken.
„Mach dir keinen Kopf“, sagte er schließlich noch genauso abweisend. „Das da heute war erstmalig und wird sich nicht wiederholen.“
Ich nickte bloß. Für einen Tag hatte ich das Gefühl, dass mir genug vor den Kopf gestoßen wurde.
„Bis dann, Kai.“ Ich wandte mich von ihm ab und lief los.
Nachdem ich einige Meter gegangen war, holte er mich plötzlich ein. „Ich bringe dich nach Hause.“
„Das brauchst du wirklich nicht.“ Ich hielt nicht an, doch auch er blieb nicht mehr stehen, also war es wohl beschlossen.
Wir gingen stumm nebeneinander her, bis wir schließlich vor der Haustüre standen.
„Danke.“ Ich sprach leise, wollte Mom nicht wecken.
Es war doch schon reichlich spät und sie reagierte in letzter Zeit sehr komisch, wenn ich zu spät nach Hause kam. Vermutlich war es die Angst, dass mir wieder etwas zustoßen könnte.
„Kein Ding.“ Kai suchte bereits mit den Augen das Weite.
Ich steckte den Schlüssel in die Haustüre. Der Abend war gelaufen und ich wurde das Gefühl nicht los, dass es meine Schuld war. Trotzdem drehte ich mich erneut um, denn schlimmer konnte ich es vermutlich auch nicht mehr machen.
„Wie oft war ich über Nacht bei euch?“
Kai sah mich an, distanzierter als je zuvor. Er schien mit sich zu ringen, doch er hatte versprochen, ehrlich zu sein, deshalb wollte ich um jeden Preis eine Antwort.
„Jede Nacht.“
„Das ist viel Zeit in einem Gästezimmer“, erwiderte ich.
„Kann schon sein.“ Er zuckte mit den Schultern.
„Kai?“
Ich ging ein paar Schritte auf ihn zu und stellte mich dicht vor ihn, als dürfte niemand hören, was wir zu bereden hatten.
„Wenn du möchtest, komme ich morgen vorbei und wir sehen uns einen Film an“, flüsterte ich. „Wäre es möglich, mir im Anschluss daran zu erzählen, was es wirklich mit diesem Zimmer auf sich hat? Und vielleicht erzählst du mir, wieso ich anscheinend jede Nacht bei euch schlafe, anstatt es vorzuziehen, bei meiner Mutter zu sein, die mir kaum in die Augen sehen kann, wenn ich von euch erzähle, insbesondere von dir und Jess. Ich glaube nämlich, dass gerade ihr zwei mir unbedingt etwas sagen wollt und ich würde sehr gerne wissen, was es ist.“
Kai musterte mich und ich sah, wie seine kühle Fassade begann, zu bröckeln.
„Bis morgen, Douphne.“ Er gab mir einen Kuss auf die Stirn und verschwand schneller, als ich es schaffte, die Haustüre zu öffnen.