Die Nacht ist dunkel, sagt man. Ich mag sie trotzdem, denn in der Nacht bin ich frei, nur zu dieser Tageszeit kann ich sorglos herumfliegen. Tagsüber wäre es unmöglich, denn alle könnten mich sehen. Das Fliegen beschenkt mich mit einem Gefühl, das ich mein ganzes Leben lang begehrt hatte – ein Gefühl von Leichtigkeit und Freiheit, den sanften Wind um meinen Körper zu spüren, während er mir flüsternd in die Haare kräuselt. Endlich konnte ich dieses Gefühl wieder erleben. Ich saß auf dem Dach eines Blockhauses und betrachtete die ausgestorbene Innenstadt von Győr. Man konnte schon die Morgendämmerung erkennen. Es war Zeit, nach Hause zu fliegen, ich musste in meinem Zimmer sein, ehe es draußen hell wurde.
Die Müdigkeit machte mich träge. Nach einer langen Nacht, wie diese es war, fiel mir jede Bewegung schwer. Das Erste, was ich in meinem Zimmer erblickte, nachdem ich morgens angekommen war, war mein Bett. Meistens kroch ich sofort unter die kuschelige Decke, zog sie bis zur Nasenspitze und setzte den Tag in meiner Traumwelt fort. Heute war jedoch Freitag und in wenigen Stunden musste ich in der Schule sein und mich mit aller Kraft darauf konzentrieren, nicht einzuschlafen.
Ich atmete die kühle Morgenluft ein und kehrte mit der Vorstellung meines schlafenden Ichs in der Schulbank der Innenstadt den Rücken zu. Dann sprang ich vom Rande des Blockhauses. Einen Moment lang stürzte ich in die Tiefe – ein tolles Gefühl, der Schwerkraft hilfslos ausgesetzt zu sein –, breitete aber rasch meine zwei beigefarbenen Flügel aus und hob mich elegant in die Höhe, bevor der harte Asphaltboden mir zu nahe kam. Es war schon lange her, dass ich mich in die Innenstadt getraut hatte, um mir einen Blick von den Dächern der Blockhäuser zu erlauben.
Fliegen ist wundervoll. Jede Reise ist eine Auszeit für die Seele, ein aufregendes Abenteuer und immer wieder ein neues Erlebnis. Was die Menschheit alles dafür geben würde, wenn sie wüsste, wie es sich wirklich anfühlt! Ich breite nur meine zwei schmalen, aber kräftigen, winzig gefiederten Flügel aus und lasse mich vom Winde treiben. Eine schöne Vorstellung, die nicht ganz der Wahrheit entspricht, denn ohne Ausdauer geht nichts. Doch hat man diese, so steht einem nichts mehr im Wege, die Aussicht von ganz oben zu genießen.
Ich kam in der Vorstadt an und landete in einem sicheren Moment zwischen den dicht nebeneinander stehenden Bäumen. Es war noch zu früh, um irgendjemandem zu begegnen. Dieser kleine grüne Fleck, wo zu dieser Uhrzeit kein Mensch weit und breit zu sehen war, lag nicht weit von unserem Haus entfernt, in dem ich mit meinem Bruder und meinen Eltern wohnte.
Ich atmete auf und war froh, dass heute alles nach Plan verlief. Außer einigen Eulen im nördlichen Teil der Bakony-Gebirge bin ich niemandem begegnet. Endlich konnte ich innehalten und mich entspannen. Meine Vorräte an Energie waren aufgebraucht, ich war seit Mitternacht unterwegs. Kaum setzte ich mich jedoch auf dem weichen Boden nieder, fiel mir ein, wie viele Hausaufgaben ich noch hatte. Und meine Schultasche würde sich auch nicht von alleine füllen… Ruckartig sprang ich vom Boden wieder auf und wischte mir die nasse Erde von der Hose. Den schwarzen Pullover ausgezogen wickelte ich meine Flügel, so fest ich nur konnte, um mich. Während ich wieder hineinschlüpfte, ärgerte ich mich über meine Vergesslichkeit, schließlich war die Schule wichtig in meinem Leben, da sie die einzige Möglichkeit für eine unkomplizierte Zukunft bot. Gähnend streckte ich mich, meine Glieder taten weh. Ich lief eilend zur nächsten Straße, von hier an durfte ich nicht fliegen. Mein Ausflug hatte sein Ende genommen, ich war auf bewohntem Gebiet. Wer möchte schon in der Früh einer fliegenden Gestalt begegnen? Wohl niemand. Die letzten paar hundert Meter legte ich somit zu Fuß zurück. Die Zeiger auf meiner Uhr standen im 45°-Winkel zueinander. Es war halb fünf.
Von diesem Schuljahr blieben noch etwa sechs Wochen übrig. Ende April brachte das schöne Wetter mit sich, von Tag zu Tag wurde es wärmer. Das trieb mich dazu an, meine versäumten nächtlichen Trainingseinheiten nachzuholen. Das Fliegen war im Winter und bei Regen nicht möglich. Wöchentlich – manchmal auch öfter –, sprang ich nach Mitternacht aus dem Fenster meines Zimmers, das sich im ersten Stock befand, um ganz bis zur Morgendämmerung mit den Wolken gemeinsam zu fliegen. So romantisch es auch klang, die Gefahr war nicht zu unterschätzen. Meine Waghalsigkeit würde noch irgendwann bestraft werden, darin war ich mir sicher. Die Verfolgungsangst war mein ständiger Begleiter. Was meine Eltern jedoch betraf, musste ich mir keine Sorgen machen. Sie hatten meine Abwesenheit noch nie bemerkt.
Ich blieb vor unserer Haustür stehen und suchte den Schlüssel aus meiner Gürteltasche. Vorsichtig öffnete ich die Tür und als sie endlich offen war, spürte ich die warme Luft aus dem Vorzimmer direkt zu mir strömen. Schnell schlich ich hinein und rannte die Treppe hoch in mein Zimmer, ohne dabei großen Lärm zu veranstalten.
Mein Zimmer war nicht klein, dennoch hätte ich beim Aufwärmen mehr Platz benötigt. Die Wände leuchteten in pastellgelber Farbe und selbst auf dem manchmal so chaotisch wirkenden Tisch, der seinen Stammplatz neben dem Fenster hatte, herrschte jetzt Ordnung. Apropos Fenster – da ich vergessen hatte es zuzumachen, nachdem ich hinausgeklettert war, überraschte mich im Zimmer die eingedrungene Kälte von draußen. Ich schloss es und setzte mich auf das Bett. Die Erschöpfung nahm Macht über mich, fast schlief ich ein. Nur fast. Ich riss mich zusammen und ging die Treppe herunter Richtung Bad. Die Dusche im ersten Stock hätte sich auch angeboten, jedoch lag sie neben dem Zimmer meines Bruders. Ich wollte Lucas nicht wecken.
Das heiße Wasser tat gut und beruhigte meine Nerven. Ich ließ es über meine eiskalte Haut fließen und spürte, wie es mir mit jedem Tropfen wärmer wurde. Meine Flügel hielt ich in die Höhe und achtete darauf, sie nicht zu benässen. Die Prozedur, sie zu waschen, wäre zu aufwendig gewesen und hätte viel Zeit in Anspruch genommen. Und die Zeit hatte ich diesen Morgen nicht.
Ich trat gerade aus dem Badezimmer, als ich fast gegen meinen Bruder prallte. Ich war so erschöpft, dass mich seine plötzliche Anwesenheit nicht einmal erschreckte.
»Guten Morgen, Lucas« grüßte ich ihn leise. »Habe ich dich geweckt? Sei mir nicht böse, ich wollte keinen Lärm machen.«
»Du hast mich nicht geweckt« antwortete er mit einem Gähnen. Er hob die Hand vor seinen Mund. Lucas’ schmale Augen ließen auf die aktuelle Uhrzeit schließen.
»Ach so« sagte ich erleichtert. Er hingegen schien nervös zu sein.
»Blanka, warst du wieder weg?« fragte er besorgt.
Ohne ihm eine Antwort zu geben, senkte ich meinen Blick. Er hatte es gewusst. Er wusste alles über meine Flügel und auch von den Ausflügen, die ich machte. Er bekam mit, wann ich wegflog und wann ich wieder ankam. Lucas war im Gegensatz zu mir von dieser extremen Sportart nicht begeistert. Er machte sich zu große Sorgen.
»Ja, ich war weg« antwortete ich schließlich und trat auf die erste Stufe der Treppe, die hinaufführte. Ich spürte seinen bohrenden Blick in meinem Rücken. Es war doch ganz offensichtlich, dass seine Angst unbegründet war. Und vor allem sinnlos, deswegen ständig in einem stummen Konflikt mit ihm zu sein.
Im Zimmer war es noch immer kalt. Ich trocknete mich schnell ab, zog alles außer die hellblaue Bluse an. Meine Flügel waren während des Duschens ein wenig nass geworden. Es gelang mir nie, dies ganz zu vermeiden. Ich musste sie trocknen, sonst durchnässten sie das Oberteil. Ich brachte meinen Hochleistungsföhn zur nächsten Steckdose und schaltete ihn ein. Die warme Luft fühlte sich auf meinen Flügeln angenehm an.
Selbst das Trocknen war gefährlich. Ich kontrollierte mehrmals, ob die Zimmertür auch wirklich abgeschlossen war. Meine Eltern durften mich so nicht erblicken, sonst würden sie in Panik geraten. Schon seit drei Jahren verberge ich meine Flügel vor ihnen und der Welt, und von Tag zu Tag wird es schwieriger. Bin ich nicht vorsichtig genug, werden sie früher oder später auffallen. Allein mein Bruder und meine beste Freundin wissen, was ich bin.