»Für den kleinen Hunger« lachte er.
»Was zum Knabbern, ich liebe es.«
»Bitte sehr« Alex überreichte mir den Orangensaft.
Er riss die Packung auf und füllte ein wenig Knabbergebäck in die Glasschale auf dem Tisch.
»Danke.« Ich nahm mir ein paar Brezel und lehnte mich nach hinten. »Wie spät ist es?«
»Es ist bald halb zwei« sagte er auf die gegenüberliegende Uhr blickend.
Natürlich, eine Wanduhr.
»Habe ich gar nicht gesehen« lachte ich über mich selbst.
»Sie war schon immer dort« hauchte er und küsste mich sanft am Hals.
Ich holte tief Luft. Mir wurde es heiß und schwindlig. Ich schloss die Augen und konzentrierte mich darauf, das Bewusstsein nicht zu verlieren. Was Alex tat, war zu gut.
»Alex…«
»Pssst« hörte ich und im nächsten Moment lag ich schon. »Ist es dir warm?« fragte er, wartete aber nicht auf meine Antwort. Er befreite mich sanft aus dem Oberteil und dem Korsett.
Ich spürte, wie das Blut durch meine Flügel strömte. Vorsichtig, um nichts vom Tisch zu wischen, streckte ich sie aus und bewegte sie. Alex’ Hand glitt über meine Feder, dann drückte er mich gegen das Sofa und lehnte sich wieder über mich. Ich musste gähnen. Alex lächelte sanft.
»Perfekt« flüsterte er.
»Was?« lachte ich leise.
Seine Lippen berührten meine. Sobald ich meine Augen zumachte, tanzte ich an der dünnen Grenze zwischen Traum und Realität.
»Tut mir leid« sagte ich und stieß ihn weg von mir. Ich musste sofort aufstehen und eine Runde im Zimmer gehen.
»Habe ich was falsch gemacht?« fragte er besorgt.
»Nein, hast du nicht. Aber ich schlafe gleich ein wenn ich nicht aufstehe« ich gähnte wieder, während ich mich aufsetzte und zum Fenster schlenderte.
Alex sprang hoch und lief fluchtartig zu mir, riss den Vorhang zusammen und rüttelte nervös meine Arme.
»Blanka, bist du verrückt? Jeder könnte dich sehen!« schrie er zu laut.
Ich griff mit beiden Händen zu den Ohren und deckte sie zu. Sein Ton gefiel mir nicht. Das war er nicht… Das war nicht Alex. Er versuchte mich zu umarmen, doch ich schubste ihn weg. Mein Kopf pulsierte, irgendwas war nicht in Ordnung. Ich fühlte mich wie unter Wasser.
»Tut mir leid« sagte er und wollte mich wieder umarmen.
Ich wich ihm aus und lief auf die andere Seite des Zimmers. Dabei wäre ich fast umgeflogen.
Alex setzte sich auf das Sofa und wartete geduldig. Sein Gesicht war ausdruckslos.
Ich schwankte zurück zum Fenster, wo wir vorher gestanden waren.
»Blanka…« hörte ich und ich glaubte ihn angelächelt zu haben.
»Ich brauche Luft« murmelte ich und kippte das Fenster hinter dem Vorhang.
Halb auf dem Heizkörper sitzend betrachtete ich Alex mit starren Augen. Ich konnte mir nicht erklären, wieso seine Augen eine durchgehende grüne Linie bildeten. Auf einmal stand er neben mir, ich starrte noch immer die Stelle an, an der er sich vor Kurzem befand. Ich gähnte und ließ meinen Kopf auf seine Schulter fallen.
»Bist du nicht mehr durstig?« fragte eine bekannte Stimme. Alex…
»Doch…« antwortete ich und trank aus, was er mir gab. Die Flüssigkeit brannte in meiner Kehle.
»Komm mit« kam von einem fernen Ort. Jemand nahm meine Hand und führte mich zum Sofa.
Ich musste auf dem Weg dorthin gestolpert sein, weil mich Alex auffing und hintrug. Wir waren auf dem Sofa. Vielleicht. Ich nahm schnelle Bewegungen wahr und stellte fest, dass ich in seinem Schoß lag und dem schönsten Männergesicht der Welt entgegensah.
»Gut so, Liebes, schlaf nur« flüsterte er.
Ich begriff die Worte nicht, aber sie beruhigten mich. Meine Lider waren schwer, ich konnte die Augen nicht weiter offen halten.
»Schlaf, Blanka, schlaf« hörten meine Ohren, doch nicht mein Verstand.
Was er mir auch zuflüsterte, ich glaubte es ihm. Alex hatte mich noch nie angelogen.
Mit geschlossenen Augen konnte ich sein Gesicht nicht sehen. Die Bilder meines Unterbewusstseins zogen mich in die Tiefe und ließen mich vergessen, wo ich war.
Die Tür ging auf, viele Stimmen kamen auf mich zu. Eine Umarmung hielt mich sicher. Es war Alex’ liebevolle Umarmung.
Wörter. Fremde Wörter.
Ich riss meine Augen auf und war sofort hellwach. Als ich mich aufsetzen wollte, drückte mich Alex zurück. Ich sah nicht viel, konnte aber die Gefahr spüren.
»Lass mich los!« schrie ich.
Alex lockerte seine Arme nicht. Er hielt mich noch fester. Ich sah zur Tür und erblickte die vielen schwarz gekleideten, maskierten Männer, die alle in Alex’ Wohnung standen und uns beobachteten. Mein Puls schoss in die Höhe, ich atmete schnell. Ein bekanntes Gesicht kam näher. Ich hatte es schon einmal gesehen, beim Abendessen mit Alex. Es war der Chef, der einzige unter den Fremden, der nichts schwarzes anhatte.
»Lass mich sofort los! Alex!« kreischte ich, doch Alex hielt mich mit ausdruckslosem Gesicht gefangen.
Ich biss in seinen Arm, in seine Muskeln. Er brüllte auf und ließ mich los. Ich sprang vom Sofa und rannte zum Fenster. Meine Beine waren schwach und wollten nachgeben, ich hielt mich an der Fensterbank fest. Die vielen Männer bewegten sich in meine Richtung. Mein Herz pochte so laut, dass es alles andere übertönte. Mit zittrigen Händen drehte ich den Griff und öffnete das Fenster.
»Stop!« schrie der Chef. »Alle zurück!«
Die schwarzen Punkte in meinem Blickfeld zogen sich zurück. Ich sprang schnell auf die Fensterbank und schaute auf die Straße. Ich wollte fliegen. Jetzt.
»Blanka! Warte!« hörte ich Alex.
Ich hielt mich am Fensterrahmen fest, schaute über meine Schulter zu ihm.
»Bitte komm zurück! Du wirst nicht fliegen können!«
»Wieso nicht?« wollte ich wissen. Doch worauf wartete ich noch? Ich müsste längst in der Luft sein…
Alex hielt mich mit seinem Blick fest. Ich wollte ihn nicht alleine lassen, nicht mit diesen hässlichen, schwarzen Männern.
»Weil du Alkohol im Blut hast. Du kannst nicht fliegen! Du wirst dich verletzen« behauptete er.
Während Alex versuchte, mich wieder ins Zimmer zu locken, kamen die schwarzen Punkte immer näher. Sie richteten ihre Waffen auf mich.
»Blanka, ich bitte dich, sei vernünftig und komm zu mir!«
Eine halbe Sekunde lang dachte ich wahrlich darüber nach, zu Alex zurückzugehen, doch dann bewegten sich die Männer erneut auf mich zu.
»Ganz langsam, Leute. Ich dachte, es wird einfacher« ärgerte sich der Chef. Seine Stimme machte mir Angst.
»Wir müssen nur warten, bis das Schlafmittel wirkt, Boss« sagte ihm Alex.
Alex.
Nein.
»Dann haben wir sie« versicherte er.
Es ist ausgeschlossen, dass er das gesagt hat. Das muss ein Irrtum sein.
Mein Blick glitt zum Chef, den Alex Boss genannt hat. Er stand unmittelbar neben ihm, beide schauten mich angespannt an.
Nein. Das kann nicht wahr sein.
»Warum?« fragte ich verzweifelt und spürte, wie heiße Tränen über meine Wangen liefen.
»Blanka, bitte. Komm zu mir und alles wird gut« sagte Alex.
Er lügt.
»NEIN!!!« schrie ich.
»Du kannst nicht fliegen.«
»Du lügst!« ich drehte mich schluchzend um und sprang.
Ich flatterte mit meinen Flügeln, erhob mich jedoch nicht in die Luft. Sie waren schlaff und leblos. Ich hatte sie weder aufgewärmt, noch stand mir die Energie zur Verfügung, die ich für das Fliegen gebraucht hätte. Ich fiel mehrere Meter in die Tiefe.