Durch die Glaswand sah ich, wie schwarz gekleidete, bewaffnete Männer ins Gebäude strömten. Sie richteten ihre Waffen auf mich und schossen. Instinktiv lief ich Richtung Ausgang los, als die Glasplatten mit einem ohrenbetäubenden Lärm zersprangen und alle Schreie übertönten. In nur wenigen Sekunden wurde aus der friedlichen Schwimmbadatmosphäre ein Chaos, Panik verbreitete sich. Und daran war ich allein schuld…
Ich rannte über die Wiese und versuchte zu fliegen, doch meine Flügel waren zu nass und schwer. Ohne nach hinten zu blicken, wusste ich, dass die bewaffneten Männer hinter mir her waren. Noch hatte ich einen Vorsprung, doch mit jeder Sekunde kamen sie näher. Mein Herz raste vom Adrenalinstoß, dennoch ging mir die Energie nicht aus und somit beschleunigte ich meine Schritte. Erst dachte ich, dass das Freibad von einem hohen Zaun umgeben ist, der mich aufhalten würde. Meine Annahme erwies sich jedoch als falsch, der Zaun war eine leichte Hürde, die ich mit einem Sprung und zwei Flügelschlägen leicht bewältigte. Meine Verfolger würden länger brauchen, ich gewann wertvolle Zeit.
Mit großen Schritten lief ich zum nächsten Gebäude, das sich am Ende der Straße befand. Um die Ecke gebogen erblickte ich dann ein großes, dunkelrotes Zelt mit einer gelben Kuppel. Neben dem Zelt standen Pferde, auf der anderen Seite übten Artisten ihre Kunststücke. Ich wickelte die Flügel um meine Taille und schlich mich hinein. Innen probte ein junges Paar, von der pechschwarzen Decke hingen zwei weiße Tücher. Ein Mann mit Zylinder schaute ihnen dabei zu. Irgendwoher wusste ich, dass es sich dabei um den Zirkusdirektor handelte.
Als sie meine Anwesenheit bemerkten, drehten sich alle drei zu mir.
»Bitte helfen Sie mir!« flehte ich sie an. »Ich werde verfolgt! Sie müssen mich irgendwie verstecken!«
Der Direktor kratzte an seinem Ziegenbart und musterte mich von oben bis unten.
»Hm« brummte er. »Hast du dich am Strand schlecht verhalten?«
»Nein« antwortete ich verzweifelt. »Ich kann fliegen und deswegen wollen sie mich erschießen« erklärte ich.
»Verstehe. Wenn das so ist, komm mit« der Zirkusdirektor ging hinter den roten Vorhang, ich folgte ihm und hielt dabei meine Flügel ganz eng am Körper.
Hinter dem Vorhang befanden sich Zauberkisten. Der Direktor berührte einige, bis er vor einer schwarzweißen Holzkiste mit silbernem Muster stehen blieb.
»Verstecke dich in dieser. Ich lenke sie ab« meinte er und öffnete die Kiste.
»Danke« flüsterte ich und stieg ein. Als er die kleine Holztür wieder zumachte, wurde es vollkommen Finster. Ich sah nichts, außer die winzigen Löcher über meinem Kopf.
Ich lauschte dem Geschehen im Zirkus. Der Direktor gab den Artisten die Anweisung, weiterhin so zu proben, als wäre nichts passiert. Kurz später kamen meine Verfolger an und stellten viele Fragen. Der Direktor tat so, als würde er nichts wissen, erlaubte es ihnen jedoch, sich im Zelt umzusehen. Ich hörte das Knirschen der Holzbänke auf der Zuschauertribüne, die träge Bewegungen des Vorhangs. Ich war nervös, die bewaffneten Männer waren nur wenige Meter von mir entfernt. Sie klopften an einigen von den Holzkisten und ich erstarrte vor Schock, als sie das auch bei meiner Kiste taten. Ich nahm beide Hände vor dem Mund, damit kein ungewollter Schrei rauskommen konnte. Die Männer verschwanden wieder, nachdem sie nichts gefunden hatten, aber ich traute mich nicht, mich zu bewegen. Ich fing an zu zählen. Eins… Zwei… Drei…
Der Direktor kam nach einer Weile hinter den Vorhang und befreite mich aus der Holzkiste.
»Sind sie weg?« wollte ich wissen.
»Sie sind weg« antwortete er. »Schreckliche Menschen. Du sagtest, sie jagen dich, weil du fliegen kannst?«
»Ja.«
»Wieso bist du nicht vor ihnen weggeflogen?« er schaute meine Flügel mit großem Interesse an. Als wären sie das natürlichste auf der Welt.
»Weil ich vorhin im Wasser war und sie noch nass sind.«
»Verstehe« sagte er schlicht und ging wieder auf die Bühne. »Hast du keine Lust, dich dem Zirkus anzuschließen? Wir haben immer Bedarf an außergewöhnlichen Mitgliedern. Bei uns wärst du gut aufgehoben« seine Worte klangen ernstgemeint.
»Ich glaube nicht, dass es das Richtige für mich ist« lächelte ich sanft. Ich wollte das Angebot nicht allzu offensichtlich ablehnen. »Und ich muss meinen Weg fortsetzen. Ich bin auf der Suche.«
»Du bleibst nicht bei uns« stellte er traurig fest. »Was suchst du denn?«
»Das weiß ich noch nicht« gestand ich. »Aber ich gebe mein Bestes, um es zu finden.«
»Du suchst die Liebe, nicht wahr?« Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem leichten Lächeln.
»Womöglich. Ich werde es herausfinden. Sind die bewaffneten Gestalten wirklich schon weg?« fragte ich ihn.
»Ich kann dir garantieren, dass sie weg sind. Sie haben dich hier nicht gefunden und sind aus diesem Grund weitergezogen.«
»In Ordnung. Ich bin sehr dankbar für die Hilfe. Aber jetzt muss ich weiter.«
»Mach’s gut, Blanka« sagte er.
»Woher wissen Sie meinen Namen?« Ich sah ihn erstaunt an.
»Er steht auf deiner Halskette« antwortete der Direktor.
Ich griff zu meinem Hals und stellte fest, dass ich tatsächlich eine Halskette trug. Höchstwahrscheinlich mit meinem Namen drauf. Ich nahm den kleinen Anhänger zwischen die Finger und betrachtete ihn. Es war mein Name im goldenen Schriftzug, durch die Schleife des ersten Buchstabens zog sich eine zum Anhänger passende, dünne Goldkette.
»Ich hätte noch eine Bitte« meine Worte klangen eher wie eine Frage.
»Natürlich. Was hättest du gern?«
»Könnte ich vielleicht etwas zum Anziehen haben? Wegen meiner Flügel« erklärte ich dem Direktor. Dass ich nur einen Bikini trug und sonst nichts dabeihatte, war ihm vermutlich schon aufgefallen.
»Freilich. Ich suche dir gleich was« antwortete er freundlich.
»Danke, das wäre sehr nett.«
Als der Direktor das Zelt verließ, um mir was zu holen, starrte mich das junge Paar beeindruckt an. Die zierliche Frau hatte kurze blonde Haare, der Mann war muskulös, mit dunklen, lockigen Haaren. Zusammen machten sie einen beneidenswerten Eindruck.
»So außergewöhnlich bin ich nicht« bemerkte ich ganz nebensächlich.
»Kannst du wirklich fliegen?« fragte die Frau.
»Ja« lächelte ich.
»Ich beneide dich.«
»Es ist ungut, wenn du wegen deiner Flügel verfolgt wirst.«
»Ich wollte schon immer fliegen« sagte sie.
Der Direktor trat wieder ins Zelt, in seinen Händen hielt er eine dunkelblaue Satinhose und ein ärmelloses Top.
»Diese müssten dir passen« meinte er und überreichte sie mir.
Ich stieg erst in die Hose, sie war bequem. Dann ließ ich die Flügel kurz locker, bevor ich sie fester um mich wickelte und auch das Top anzog.
»Sie sind wunderschön« seufzte die Frau. Sie hätte auch gerne Flügel gehabt.
»Danke nochmals für alles.«
»Gern geschehen« sagte der Direktor.
Ich verabschiedete mich von ihnen und verließ das Zelt. Die Umgebung war mir nicht bekannt, ich spazierte ziellos durch die Gegend. Mir gefiel der Flair dieser Kleinstadt, die engen Straßen und leichten Hügel verliehen ihr etwas Einzigartiges. Links und rechts neben mir zogen sich kleine Wohnhäuser. Sie waren entweder weiß oder beigefarben, hinter den dunkelroten Fenstern hingen Vorhänge mit Stickmustern. Das Einzige, was mich störte, war diese komische Leere. Die Stadt schien ausgestorben zu sein, nirgendwo waren Menschen, Tiere oder Autos zu sehen. Als würde hier niemand wohnen… Es war eine Geisterstadt.