Nach der Untersuchung befreite sie mich aus den Handschellen und schickte mich zu einem komischen Gerät, das sich als Röntgenmaschine entpuppte. Danach musste ich mich vor eine aufgespannte weiße Leinwand stellen und das Shirt ausziehen, damit ein unbekannter Mann meine Flügel in verschiedenen Einstellungen ablichten konnte.
Dr. Clear bedankte sich für meine Mitarbeit und ich dachte schon, dass es vorbei ist, doch sie zupfte eine Feder aus meinem Flügel.
»Autsch!« schrie ich, eine Träne rollte über mein Gesicht.
Sie entschuldigte sich und schob die Feder vorsichtig in ein Röhrchen. Mein rechter Flügel brannte an der Stelle, wo sie die Feder ausgerissen hatte.
In derselben Formation, natürlich mit Handschellen, damit ich nicht auf die Idee kam, wegzulaufen, führten sie mich zurück in mein Zimmer. Vor der Tür nahmen sie das Stück Metall von meinen aufgescheuerten Handgelenken. Ich spazierte beleidigt zum Bett, doch mein Zorn war schnell wieder weg, als ich die dampfenden Würstchen auf dem Teller entdeckte. Ich beschleunigte meine Schritte und stürzte mich auf die zwei großen Würstchen. Auf dem Teller war noch Ketchup und Senf. Ich fühlte mich verwöhnt, wenn ich in Betracht zog, dass ich in einer Art Gefängnis war.
Ich genoss jeden Bissen vom Essen. Als es später an der Tür klopfte, hatte ich gehofft, dass es Dr.Clear war, damit ich sie bitten konnte, mir ein Buch oder Rätselheft mit ganz viel Sudoku mitzubringen. Doch die Person, die reinkam um meinen Teller abzuholen, war nicht Dr.Clear. Es war ein Mann, der so beängstigend wirkte, dass ich lieber still blieb und nichts sagte.
Ich war müde, aber meine Augen ließen sich nicht schließen. Ich drehte mich auf die Seite und starrte die dunkle Glaswand an. Was könnte wohl dahinter sein? Ein Zimmer wie meins mit einem Wesen wie ich? Ich sah nur mein Spiegelbild und malte mir aus, wie schön es wäre, das Glas zu zerbrechen und wegzufliegen.
Am nächsten Morgen weckte mich das Frühstück, das ins Zimmer gebracht wurde. Zumindest vermutete ich, dass es das Frühstück war – zu Mittag gibt es normalerweise keine Hörnchen mit Milch. Ich setzte mich auf und schaute dem Frühstücklieferanten nach. Er sperrte von außen die Tür ab.
Ich war zu faul, um aufzustehen und nahm deshalb den Teller zu mir. Mein Magen gab sich mit dem Hörnchen zufrieden, ich war nicht mehr so ausgehungert wie die letzten Tage. Die Nacht verlief auch ruhig, mich quälten keine Alpträume mehr. Zum ersten Mal, seit ich hier war, konnte ich ruhig schlafen.
Ich wartete den ganzen Vormittag auf Dr. Clear. Als sie endlich kam, überfiel ich sie mit meinen vorformulierten Fragen. Ihre Antworten verstand ich nicht ganz, hoffte aber, dass sie für mich etwas tun würde. Sie bat mich wieder, ihr zu folgen. Ich dachte, dass sie mich zum Duschraum bringen würde, doch draußen warteten schon die zwei anderen Professoren. Der alte Arzt schloss die Handschellen um meine Handgelenke, genau wie letztes Mal. Ich hatte langsam die Nase voll von den Handschellen…
Diesmal erreichten wir rasch das Ziel, es war eine dunkle Tür. Ich war verwundert, wieso sie nicht weiß war, wie alles andere hier. Oben in der Mitte befand sich ein undurchsichtiges Glasfenster. Der Raum, der mir wie ein Operationssaal vorkam, war voll. Mir fiel sofort das dünne Bett auf, dessen Höhe einstellbar zu sein schien. Dahinter Unmengen von verschiedenen Geräten, die ich nicht benennen konnte. Mein Herz wollte vor Angst aus meiner Kehle springen, jeder Versuch, mich selbst zu beruhigen, scheiterte. Ich atmete schnell, die Umgebung wurde immer dunkler. Meine Augen schwenkten von der einen Seite des Raumes zu der anderen. Zwei… Vier… Sechs… Sieben. Sieben gleiche Ärzte standen vor mir. Jeder von Kopf bis Fuß weiß gekleidet. Das grelle Weiß empfand mein Gehirn als schwarz, nur ihre Gummihandschuhe stachen heraus. Was hatten sie vor? Würden sie meine Flügel wegschneiden…?
»Neeein!« kreischte ich laut, doch es war schon zu spät. Sie zerrten mich zur Tragbahre und banden mich fest. Meine Gedanken wirbelten wild herum und suchten nach einem Ausweg. Mein Blick sprang stürmisch von einem unbekannten Gesicht zum nächsten beängstigenden Gesicht. Ich kreischte, als die Nadel zwischen meinen Flügel in den Rücken drang. Eine zweite Nadel bohrte sich in meinen Arm, dann wurde alles dunkel. Das letzte was ich wahrnahm, war ein stummer Schrei, der es aus meiner Kehle nicht mehr ganz nach draußen schaffte.
Es schüttete stark. Ich stand vor dem Fenster und starrte die riesigen Regentropfen an, die zu Boden fielen. Der Regen wurde mit jeder Sekunde stärker, auf der Straße hatte sich schon eine dünne Wasserschicht gebildet.
»Wieso regnet es ständig?« fragte ich meinen Bruder gleichgültig.
Lucas saß hinter mir auf dem Bett. Ich stützte mich gegen den Schreibtisch und betete, dass der Regen bald aufhörte.
»Es regnet, weil die Erde weint.«
»Dann müsste sie jetzt ziemlich bedrückt sein« ich drehte mich um, setzte mich auf den Schreibtisch und betrachtete Lucas. »Warum weint die Erde? Was ist passiert?« wollte ich wissen.
»Etwas Schlimmes. Etwas sehr Schlimmes. Sie tröstet sich, indem sie weint.«
»Oder sie freut sich. Wer weiß, vielleicht sind es Freudentränen?«
»Nein, hör nur« sagte mein Bruder. »Hör genau hin.«
Ich ließ meine Beine pendeln und hörte dem Regen zu. Es war ein unregelmäßiges Rauschen. Heiter klang anders.
»Jeder einzelne Regentropfen« führte Lucas fort, »ist ein Opfer. Ein unschuldiges Opfer, das gegen den Asphalt prallt, sich auflöst oder verdampft, um aufs Neue fallen gelassen zu werden.«
»Und was ist mit dem Regen, der die Pflanzen und Tiere ernährt?« wollte ich wissen.
»Die Freudentränen der Natur, ja. Ein auffrischendes Geschenk für ihre Kinder. Doch das hier« er zeigte aus dem Fenster, »frischt nicht auf, sondern zerstört. Die Erde ist sehr, sehr traurig. Etwas sehr Schlimmes ist passiert.«
»Was könnte das sein? Ist es global?«
»Nicht unbedingt« Lucas breitete sich auf meinem Bett aus.
»Was dann?«
»Es könnte alles sein, was falsch ist. Krieg, Quälerei, Betrug, Ausbeutung. Oder Reue. Das ist es, wir haben die Ursache gefunden.«
»Wer hat wen verletzt? Die Erde weint doch nicht, wenn ich jemanden gedanklich in eine andere Galaxie befördere?«
»Tut sie nicht, solange der, den du beförderst, sich dadurch nicht verletzt fühlt. Es kann sogar zu Überflutungen führen, wenn der Verletzende seine Tat zutiefst bereut. Wenn die Erde weint, tut das der Natur gut. Das Gute ist das Gegengewicht zur falschen Tat. Doch das was du siehst, ist die Bestrafung, die alles vernichtet. Schau doch mal raus, Blanka. Siehst du die Flutwelle?«
Ich schaute aus dem Fenster. Das Wasser stieg stetig an, im Garten waren großflächige Pfützen.
»Was machen wir, wenn der Keller überflutet wird?« ich schüttelte besorgt den Kopf.
»Weder die Erde, noch der Regen beschäftigt sich mit solchen Alltagsproblemen. Erst die Sonne, die Wärme der hellen Wiedergeburt wird die Tränen der Erde im Keller trocknen.«
»Klar.«
Der Wasserspiegel stieg zu schnell an. Der Regen war schon so stark, dass ich das gegenüberliegende Haus nicht mehr erkennen konnte.
»Ich verstehe nicht, wie die Erde so traurig sein kann, dass innerhalb von einigen Minuten die Straßen unter Wasser stehen. Jemand hat jemanden verletzt, sagst du. Ich glaube nicht, dass das der Grund ist.«
»Doch. Denk nach, Schwesterherz! Wer kann dich am schwersten verletzen? Wer ist es, dessen falsche Worte dir wie ein Dolch ins Herz stechen? Ist es nicht der, den du am meisten liebst?« fragte Lucas.
Ich wandte mich zu ihm und musterte seine Augen.
»Vielleicht. Ja. Weil ich ihn liebe und ihn nicht verlieren will. Weil mir jedes seiner eisigen Worte klarmacht, dass es frühzeitig aus sein könnte. Dass ich mir nicht allzu große Hoffnungen machen sollte.«
Lucas machte mir Platz auf dem Bett. Ich stieg aus meinen Pantoffeln und legte mich neben ihn.
»Manchmal hassen wir den Menschen am meisten, für den wir am stärksten empfinden« sagte er.
»Womöglich« stimmte ich ihm zu. »Hass ist doch auch eine Form von Liebe.«
»Wie du sagst.« Lucas erstarrte. »Ich habe das Gefühl, dass der Regen unser Haus erreicht hat.«
»Gibt’s gleich eine Überschwemmung?« fragte ich überrascht.
»Schaut so aus. Wir müssten nachschauen.«
»Hat Zeit« ich lächelte und knüllte das Kissen unter meinen Kopf. »Wir können doch schwimmen, nicht?«
»In der Traurigkeit zu schwimmen ist nicht schön, Blanka« meinte Lucas gleichgültig und setzte sich auf. »Ich würde um mein Leben rennen, wenn es nicht schon zu spät wäre.«
Ich schloss die Augenlider und hörte dem wilden Regen zu. Mein Bruder sagte nichts mehr. Das Klopfen am Dach war aggressiv, doch irgendwo tropfte es leise. Als würde das Geräusch aus dem Zimmer kommen. Als würde das Zimmer schon unter Wasser stehen… Ich sprang auf und sah zum Fenster. Der Wasserspiegel hatte den Fensterrand erreicht und drang in dünnen Streifen zwischen Rahmen und Wand in mein Zimmer, benässte Boden und Schreibtisch.
»Verdammt! Was sollen wir jetzt unternehmen?« schrie ich panisch.
»Du könntest noch wegfliegen… Wenn du Flügel hättest. Doch ohne sie kannst du nicht entkommen. Tut mir leid, Blanka. Das war’s für uns beide« sagte Lucas.
Ich griff zu meinen Flügeln, fand aber nichts. Nichts war da, was ich spüren oder bewegen konnte. Wo waren sie? Wer hatte sie mir weggenommen? Wer hatte mich zu Tode verurteilt?
»Das war’s« wiederholte ich leise, mein Blick erstarrte.
»Es ist schon zu spät« sagte er wieder. In dem Moment zersprang das Fensterglas und die heftige Flutwelle strömte in mein Zimmer, riss die ganze Wand mit sich.