Ich trabte zum Schreibtisch und schob das Handy aus seiner Hülle. Zu meiner großen Enttäuschung stand nicht Alex’ Name auf dem Display. Es war Raimund. Ich nahm den Anruf trotzdem entgegen.
»Hallo?«
»Hallo meine Liebe« begrüßte er mich.
»Hi.«
»Stör ich dich?« fragte er. Ich hoffte, dass er den Mangel an Begeisterung in meiner Stimme nicht bemerkt hatte.
»Nein, tust du nicht. Gibt’s was Neues?« Raimund ruft sicher an, um einen Treffen auszumachen.
»Hast du heute Lust, ein Eis zu essen?« ertönte seine erwartungsvolle Stimme.
Ich hatte es gewusst.
»Nein, tut mir leid, ich bin krank« antwortete ich und hustete, damit es glaubwürdiger klingt. »Ich war seit drei Tagen nicht in der Schule.«
Er schien kurz zu überlegen.
»Du Arme. Was hast du denn?«
»Ich habe mich erkältet. Kopfweh, Halsweh, Schnupfen und Fieber« ich stellte das ganze viel dramatischer dar, als es eigentlich war. Genauso, wie meine Mutter beim Hausarzt, der ihr dann eine Krankenbescheinigung für die ganze Woche überreicht hatte. Aber mittlerweile fühlte ich mich schon viel besser.
»Hört sich schlimm an« meinte Raimund. »Und wenn es dir wieder besser geht?«
Wieso war das Leben so schwer?
»Ich weiß noch nicht. Ich werde eine Weile kalte Sachen meiden müssen. So auch Eis.«
»Wir könnten auch ein Hotdog essen gehen« schlug er vor.
»Ich hab sehr viel zu tun, ich muss alle Hausaufgaben und Lektionen nachholen« seufzte ich, obwohl ich alles schon längst fertig hatte. Nur Alex interessierte mich, kein anderer Junge. Ich wollte mich mit Raimund nicht treffen.
»Kino vielleicht?« versuchte er.
»Mal sehen« sagte ich dann, um vom Thema loszukommen.
»Sag mir Bescheid, wenn du wieder gesund bist« bat er.
»Klar.«
»Ich ruf dich an.«
»Okay. Bis dann« verabschiedete ich mich. Ich musste mich beeilen, unter meinen Füßen hatte sich schon eine riesige Wasserpfütze gesammelt und das Wasser tropfte unaufhörlich aus beiden Flügeln.
»Gute Besserung!« sagte Raimund noch.
»Danke.«
»Bis bald« sagte er und legte auf. Ich rannte zum Kleiderschrank, nahm zwei riesige Handtücher hervor, wickelte das eine um meine Flügel, das andere warf ich auf den Wasserfleck am Boden.
Mit dem Hochleistungsföhn trocknete ich meine Flügel langsam von innen nach außen und massierte sie dabei mit dem Babykamm. Anschließend trocknete ich auch meine Haare. Zum Schluss ließ ich kalte Luft durch die Feder strömen, um sie weich und geschmeidig zu zaubern.
Der halbe Nachmittag verging mit diversen Pflegekuren. Nachdem ich fertig war, schrieb ich Stella, sie solle mir die Hausaufgaben schicken. Dann klappte ich den Laptop zu und ging in die Küche. Ich kochte einen Tee, setzte mich hin und trank ihn. Um gelbe Zähne zu vermeiden, bürstete ich sie durch und setzte mich dann wieder zum Küchentisch. Da es mir von Stunde zu Stunde besser ging, merkte ich plötzlich, dass mir das Training fehlte. Ich hatte Lust, laufen oder fliegen zu gehen. Egal was, Hauptsache Bewegung.
Zuerst kam meine Mutter nach Hause, dann mein Vater. Mein Bruder setzte seinen Weg zu seinen Freunden fort, nachdem er kurz „Hallo“ sagte. Ich konnte meine Eltern davon überzeugen, dass es mir für einen Spaziergang gut genug ging. Nach drei Tage langem Nichtstun tat es gut, meine Muskeln wieder zu benutzen, bevor sie begannen, sich zurückzubilden.
Die Luft war frisch. Am Vortag hatte es noch geregnet, doch heute war das Wetter wundervoll. Die Bäume blühten in allen Grüntönen, als wäre der Frühling erst erwacht. Doch es war schon fast Sommer. Das Klassenlager stand vor der Tür, gefolgt von den Sommerferien.
Ich hatte keinen großen Spaziergang geplant, doch letztendlich durchlief ich die halbe Stadt. Ich war hungrig auf noch eine Runde, aber meine Eltern warteten schon auf mich, ich musste heim. Den Weg nach Hause nutzte ich, um die letzten Strahlen der untergehenden Sonne zu empfangen.
Daheim hatte ich nicht viel zu tun und schaute deshalb auf Skype. Alex war nicht online und würde es am Abend wahrscheinlich auch nicht mehr sein. Stella hatte mir schon die Hausaufgaben geschickt, doch als ich sie mir genauer anschaute, beschloss ich, heute nichts mehr für die Schule zu tun. Ich ging zum Fenster, lehnte mich an die Fensterbank und beobachtete die Straße.
Ich starrte lange die Nachbarhäuser an, betrachtete die streunenden Hunde und Katzen, die spielenden Kinder. In meinem Blickfeld erschien ein sich bewegender Punkt, dem ich nicht viel Aufmerksamkeit schenkte. Das regelmäßige auf und ab kam mir nach einer Weile aber bekannt vor. Als ich genauer hinschaute, erkannte ich ihn. Es war Alex, der sich laufend unserem Haus näherte. Blonde Haare, sportlich gekleidet – er war nicht zu übersehen. Ich riss das Fenster auf und rief seinen Namen, als er vor unserer Haustüre vorbeilief. Erst verlangsamte er seine Schritte und blickte sich verwirrt um, dann bemerkte er mich und blieb vor meinem Fenster stehen.
»Hey!« rief ich überglücklich.
Sein Mund verzog sich, wie immer, zu einem herzhaften Lächeln. Ich hatte das Gefühl, dass alle Symptome meiner Erkältung auf einmal verschwanden. Sein Lächeln bewirkte Wunder. Es hatte mir in den letzten Tagen so sehr gefehlt… Alex spazierte näher zum Haus und blickte zum Fenster rauf.
»Hey Blanka! Was für ein Zufall!« sagte er.
»Ich wohne hier« lachte ich. »Hast du’s nicht gewusst?«
»Nein, nicht die genaue Adresse« grinste er.
»Stimmt!« meine Laune tanzte von Alex’ Anwesenheit.
»Magst du ein wenig runterkommen?« fragte er. »Dann müssen wir nicht schreien.«
»Klar, wart kurz!« rief ich und machte das Fenster zu. Ich eilte die Treppe runter, vorbei an meinem Vater, der gerade eine Zeitung las, kurz aufschaute aber nichts sagte. Die Haustür schloss ich hinter mir zu, damit mich meine Eltern nicht ausspionieren konnten und umarmte Alex. Als er mich ebenfalls umarmte, fiel mir ein, dass ich das Korsett nicht anhatte und befreite mich aus seiner Umarmung.
»Ich bin verschwitzt, Blanka« lachte Alex.
Hoffentlich hatte er nichts bemerkt.
»Ist mir egal« betonte ich.
»Aber du bist frisch geduscht, nicht wahr? Dein Shampoo duftet herrlich« sagte er.
Ich lachte, weil ich unglaublich glücklich war, ihn wieder zu sehen. Und weil er mir gerade ein Kompliment gemacht hat.
»Ja, ich hab vorhin geduscht. Was machst du hier?«
Es war nicht schwierig zu erraten, dass Alex laufen war.
»Ich trainiere für den kommenden Lauf. Bist du schon gesund?« er schaute mich neugierig an.
»Ich muss bis Sonntag noch Medikamente nehmen, aber ansonsten geht es mir ausgezeichnet. Viel besser als am Mittwoch« prahlte ich.
»Das freut mich sehr. Was machst du am Sonntag?«
»Ich habe noch nichts vor. Wieso?«
»Hättest du Lust, eine Radtour zu machen?« Alex nickte den Kopf zur Seite.
»Sehr gerne! Mir mangelt es schon an Bewegung« antwortete ich begeistert. Am liebsten wäre ich vor Aufregung und Freude ein paar Runden ums Haus geflogen. »Wohin geht’s?«
»Ich werd mir was ausdenken. Um zwei am Nachmittag?«
»Super« ich schenkte ihm mein schönstes Lächeln. »Wo?«
»Ich schicke dir noch eine Nachricht« antwortete Alex.
»Okay.«
»Wenn du mir nicht böse bist, würde ich jetzt gern weiterlaufen, bevor ich aus dem Rhythmus komme« sagte er.
»Klar, lauf nur. Dann am Sonntag, ich freu mich schon!« Ich strahlte mit der Sonne um die Wette.
»Ich schreibe dir.«
»Bist du heute online?« Ich wollte wissen, ob es sich lohnt, den Abend vor dem Laptop zu verbringen.
»Eher nicht, ich hab noch einiges zu erledigen« seine Antwort war zu erwarten, änderte aber nichts an meiner guten Laune. Am Sonntag würden wir uns ohnehin wiedersehen.
»Gut, dann bis Sonntag« sagte ich.
»Bis dann, Blanka. Ciao« Alex umarmte mich noch kurz und lief dann los.
Er drehte sich noch einmal um und winkte, ehe er die Straße verließ. Ich schaute ihm noch lange nach, dann ging ich singend zurück ins Haus. Ich hatte ganz vergessen, dass mein Vater in der Küche saß und die Zeitung las. Er schaute wieder auf, doch diesmal ließ er mich nicht ohne Bemerkung gehen.
»Was war das?« fragte er neugierig auf meinen stürmischen Treppenlauf deutend.
»Nichts« sagte ich flüchtig. Er hielt mich mit seinem Blick fest. »Ich hab nur einen Bekannten gesehen und kurz mit ihm gequatscht.«
Und ein Treffen ausgemacht, aber das ging meinen Vater zurzeit nichts an.
»Warum hast du den Bekannten nicht reingerufen? Auf einen Tee?«
»Er hat’s eilig, er trainiert für einen Lauf. Und außerdem ist das Haus voll mit Krankheitserregern, ich will nicht, dass er erkrankt.«
»Wie du meinst« sagte er und versank wieder in der Tageszeitung.
Ich wollte vermeiden, dass meine Eltern unangenehme Fragen stellen. Ohne einen Vorbereitungskurs kommt Alex nicht ins Haus.
»Nächstes Mal« flüsterte ich und beendete damit die Konversation.
Ich rannte fröhlich in mein Zimmer und rief Stella an. Sie versprach mir, morgen vorbeizuschauen. Wir würden eine Mädchenparty schmeißen und den ganzen Nachmittag DVDs schauen.
Am Samstagmorgen schüttete es draußen. Ich war nervös und hoffte, dass der Regen bald wieder weg sein würde. Am Nachmittag lösten sich die Wolken auf und als Stella an der Haustür klopfte, schien wieder die Sonne. Wir bauten mein Zimmer um, bis es die Stimmung eines Kinosaales hatte. Die Vorhänge wurden zugezogen, alle Kissen auf das Bett geworfen und der Riesenfernseher meines Bruders in mein Zimmer gestellt. Mit zwei Riesenportionen Popcorn schauten wir uns die DVDs an, die Stella mitgebracht hatte.
Nachdem uns die Filme auf Dauer langweilig wurden, zeigte ich ihr mein nächstes Flugziel auf der Landkarte. Dann begleitete ich sie ein Stück nach Hause, während ich ihr vom morgigen Treffen erzählte. Ich fühlte mich lebendiger denn je. Ich war aufgeregt und konnte nur noch an das Treffen mit Alex denken.
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Zur Info: Die Geschichte geht weiter mit Kapitel 8 Teil 1 ;)