Während in seinem Haus das Schicksal seinen Lauf nahm, saß der Jarl Ragnar Loðbrók gemeinsam mit seinen engsten Beratern und Freunden in der Schildhalle und hielt Rat.
Es waren mehrere hervorragende Eigenschaften, die aus dem einfachen Bauernsohn Ragnar einen gefürchteten Krieger und Anführer gemacht hatten. Egal wie mächtig seine Feinde erschienen, den Mann, den man jetzt in Straumfjorður als Jarl akzeptierte, verließ niemals sein Mut und sein kühler Verstand. Ja, er nutzte seine beängstigende Ruhe im Kampf ganz bewusst, um auch noch bei scheinbar überragenden Gegnern deren Schwachstellen auszumachen und gnadenlos auszunutzen. Dabei kämpfte er nicht hinterhältig oder mit versteckten Waffen. Er nutzte lediglich seine gute Beobachtungsgabe und den ihm fehlenden Rausch der Schlacht, der die meisten seiner Krieger nach dem ersten vergossenen Blut überkam. Dann waren sie oft unberechenbar und blind für drohende Gefahren.
Er aber, Ragnar Loðbrók, überblickte in der Schlacht mehr als nur seinen eigenen Kampf. Und es war gerade diese Gabe, die in den vergangenen Jahren viele seiner Männer gerettet hatte, wenn er den Ruf "Schildwall" laut werden ließ oder den Rückzug befahl. Hatten sie am Anfang seiner Herrschaft noch hin uns wieder gezögert, so folgten sie inzwischen seinen Befehlen während des Kampfes blind. Und sie verehrten ihn, weil er ihnen zu Ansehen und Reichtum verhalf, weil er ihnen die ersehnten Schlachten und das Abenteuer der Eroberung bot.
Dennoch war der heutige Rat anders als alles, was sie bisher kannten. Ragnar mochte ein großer Stratege sein, doch es gab etwas, was er für den Tod nicht ausstehen konnte - Gefahr auf dem eigenen Grund und Boden. Wenn er in den Kampf zog, und das wussten seine Männer, brauchte er die Gewissheit, seinen Schatz, sein Kleinod, seine Siedlung Straumfjorður beschützt und in Sicherheit zurückzulassen. Anders als die Anführer der umliegenden Besitzungen ließ Ragnar seinen Grund und Boden nie völlig entblößt von Kämpfern zurück. Meist waren es die Schildmaiden, denen er die Sicherheit der Zurückbleibenden anvertraute und Lathgertha, die sich in seiner Abwesenheit um die Führung der Gemeinschaft sorgte.
Doch das Wissen um Arngrims geplanten Angriff zu einer Zeit, wo ihn die Leidang für seinen König unerbittlich ins Feld rief, trieb den Zorn des Jarls in ungeahnte Höhen. Ja, er wusste, dass er in Thorstein einen guten Stellvertreter haben würde, der das Wohl Straumfjorðurs mit Sicherheit über sein eigenes Leben stellte. Und dennoch! Es blieben nur so wenige Männer, um ihren sicheren Rückzugsort zu schützen! Es war zum aus-der-Haut-fahren!
Wieder und wieder brachten seine Berater Ideen vor, diskutierten Strategien und überlegten, wie es ihnen gelingen könnte, den einen oder anderen Krieger mehr von der Leidang freizustellen. Aodh schlug vor, einem Teil der waffenfähigen Sklaven auf den Feldzug Horiks mitzunehmen und ihnen als Lohn für einen guten Kampf Freiheit, Beute und Land zuzusagen.
Traf seine Idee bei manchen der Grundbesitzer auf Widerstand, so sah Ragnar selbst schnell das Potential eines solchen Vorschlags. Ja mehr noch! Man musste nicht einmal jeden der kampftauglichen Sklaven mit auf die Boote holen. Viel eher würden jene doch direkt um den ihnen versprochenen Grund und Boden kämpfen, würden ihre Frauen und Kinder, ihr bisschen Leben verteidigen, wenn sie angegriffen würden.
Mit Geschick und Geduld lenkte der Jarl seine Berater in jene Richtung, die ihm vorschwebte und als der Abend schon fortgeschritten war, kamen sie überein, dass jeder von ihnen unter seinen Leuten zuverlässige, starke Männer auswählen würde, denen man ein nicht ausschlagbares Angebot machen würde - Freiheit und Land für eine Schwerthand.
Das Wissen um die unerwartete Verstärkung von Thorsteins Kampfkraft gefiel dem Jarl und so kam es, dass er bereits ruhiger und gelassener wurde, als es galt, die Feinheiten der kommenden Leidang zu besprechen. Die Anzahl der Männer, Waffen und Vorräte wurde diskutiert und auch die Seewege, die sie hinter sich bringen mussten, wenn sie mit Horik gen Haithabu zogen. Ragnar nahm an, dass der schlaue König nicht den direkten Weg an der Ostküste entlang nehmen würde. Viel zu auffällig wäre ein solches Vorgehen. Wenn er recht vermutete, würde Horik andeuten, sich Richtung Festland zu wenden und dabei weiter östlich segeln, vielleicht sogar bis vor die Küste der Franken. Ein solcher Umweg aber musste ebenso gut bedacht werden wie die Schlacht selbst. Vier oder fünf weitere Segeltage kosteten reichlich Vorräte, die eingeplant werden mussten.
Also sprachen sie, tranken und diskutierten, bis der Mond schon hoch stand. Ragnar ließ den Rat ausklingen und stieß ein paar Mal mit seinen Männern an. Dann, als sich die Älteren schon auf den Heimweg machten und die Krieger auch gut ohne ihn auskamen, verließ er die Schildhalle. Heute gelüstete es ihn nicht mehr nach Met oder einem fremden Frauenschoß. Zu viel gab es zu bedenken, als dass er sich sinnlos vergnügen wollte.
Ragnar hüllte sich in seinen dicken Pelz und spazierte langsam durch den nächtlichen Ort. Am Hafen flackerte das Feuer der Wachen und der Jarl fand sich wenig später auf dem Anlegesteg seines Bootes wieder. Der Platz war verlassen - die Ragnarsúð ruhte sicher unter ihrem Winterverhau - dennoch hatte der Ort etwas Magisches, Vertrautes für den Krieger. Der Jarl sah den kleinen Wellen zu, die sich an den dicken vereisten Holzbohlen brachen und dabei das Licht des Mondes in dutzende kleine Lichter zerrissen. Würde er auch im kommenden Winter friedlich hier sitzen können?
Ragnar wusste es nicht und die Unsicherheit der kommenden Unternehmungen störte ihn viel mehr als sonst. So viel stand auf dem Spiel! Männer würden aus Haithabu nicht mehr zurückkehren, Frauen würden um ihre Gefährten weinen. Doch so war das Leben nun einmal und es war ehrenhaft, im Kampf nach Walhalla gerufen zu werden. Doch auch für jene, die zurückkehren würden war nicht sicher, was sie bei ihrer Ankunft hier am Hafen vorfinden würden. Und das war neu!
Am liebsten wäre der Jarl selbst zurückgeblieben, um sein geliebtes Straumfjorður und die Menschen, die ihm wichtig waren zu verteidigen. Dies aber verbot ihm seine Stellung! Zum ersten Mal zweifelte Ragnar, ob die Ehre, Jarl zu sein, wirklich jede seiner Pflichten und seiner Entscheidungen rechtfertigte. Doch es gab auch keinen Ausweg. Es war so, wie er es seinem Bruder einmal in einem Anflug von Ohnmacht und Zorn ins Gesicht geschleudert hatte, als dieser ihn mit seinem Neid und seiner Besserwisserei aus der Reserve gelockt hatte: 'Wer nach großer Macht greifen will, muss sich dazu auch tief beugen.'
Damals hatte er mit diesen Worten seine Pflichten Horik gegenüber gemeint, doch inzwischen war ihm klargeworden, dass es das Amt selbst war, dem er sich beugen musste. Und so würde es auch dieses Mal wieder sein.
Die Gedanken des Jarl schweiften ab, von Rollo zu seinem Sohn Björn und von dort zu jenen ungeborenen Kindern, auf die er so sehr hoffte, um das, was er erreicht hatte, auch in künftigen Generationen fortgeführt und vermehrt zu wissen.
Ja, er hatte heute den verletzten Blick Lathgerthas durchaus gesehen, als sie ihm von Lævas Übergriff auf die kleine Sædís berichtet hatte. Er hatte sich keinen Gefallen getan, als er die beiden bestieg. Das war ihm inzwischen klar. Læva war ein kleines berechnendes Biest, das seine Zuwendung gern ausnutzen wollte. Und Sædís … Nun ja. So gut ihm ihre Schüchternheit und ihre Unerfahrenheit auch gefiel. Es war viel besser eine Frau auf dem Schoß zu haben, die es genoss, sich ihm hinzugeben, eine Frau wie Lathgertha, die leidenschaftlich und fordernd war, wild wie der Wind auf See, wenn er sie nahm und sanft wie eine kühle Welle nach dem Sturm, wenn er sie im Arm hielt, nachdem sie sich einander hingegeben hatten.
Gertha war für ihn noch immer die ungezähmte Schildmaid, die er damals, als ganz junger, unerfahrener Mann so faszinierend und begehrenswert gefunden hatte. Sie war es, die mit ihm alle Höhen und Tiefen ihres Lebens geteilt hatte. Sie hielt ihm den Rücken frei, damit er zu seinen geliebten Raubzügen und Abenteuern aufbrechen konnte und wenn es irgend ging, stand sie dabei sogar an seiner Seite. Vielleicht sollte er sich doch wieder mehr dem zuwenden, was er hatte? Ja, Ragnar wurde sich in dieser Nacht sicher! Er würde Lathgertha zurückerobern, die nach wie vor von ihm enttäuscht schien, auch wenn sie inzwischen das Lager wieder miteinander geteilt hatten.
Und er würde nicht mehr so leichtfertig jedem Frauenrock nachgehen, der ihm gefiel. Der Ärger mit den aufdringlichen Weibern war zu unwägbar. Man sah ja, wozu sie sich verleiten ließen … Um eine Zweitfrau zu wählen, würde er mehr Geduld und Aufmerksamkeit aufbringen müssen, als er bisher gedacht hatte. Bevor er aber nach einer solchen Ausschau hielt, würde er Ordnung in sein Haus bringen! Er würde Læva in die Schranken weisen - wenn nötig, konnte er ihr sogar ein paar Hieb mit der Peitsche verpassen lassen. Das würde ihr wildes Gemüt schon beruhigen!
Und die kleine Sædís, die ihn ja mehr langweilte als begeisterte, würde er einfach in Ruhe lassen. Sicher würde das schüchterne Mädchen zufrieden sein, wenn er sie nicht weiter begehrte. Und sollte er doch mit ihr ein Kind gezeugt haben … nun gut. Dann gab es schlimmere Weiber, die er zur Zweitgefährtin haben konnte.
Siedelnd heiß fiel ihm ein, dass ja auch Læva … Aber dann dachte er sich, dass diese schon wissen würde, welche Kräuter sie benutzen musste, um kein ungewolltes Kind zu empfangen.
Ragnar erhob sich. Es war aber auch kalt wie in Jötunheim. Er aber war keiner der Hrimthursen und so würde er jetzt die Wärme und das Feuer in seinem Haus genießen - und Lathgertha auf seinem Lager. Entspannt und zufrieden schritt der Jarl nun zügig aus, um zu nach Hause zu gelangen.
Doch schon, als er die Tür noch nicht ganz hinter sich geschlossenen hatte, wurde ihm klar, dass es mit dem gemütlichem Lager heute wohl nichts mehr werden würde. Mitten im Raum stand eine der Bänke, auf der eine verhüllte Gestalt ruhte. Daneben saßen Jorunn und Lathgertha und sangen leise eine alte Trauerhymne, die die Verstorbenen sicher in die Anderwelt bringen sollte.
Gertha sah auf und Ragnar erkannte die Verwirrung und die leise Trauer in ihrem Gesicht. Wer lag dort, dass es seine Gefährtin so berührte? Niemand in seinem Haus war ernsthaft erkrankt oder alt genug, um zu Hel zu gehen … Was war hier los?
Unruhig trat der Jarl ein wenig näher. Dann zog Jorunn das Gesichtstuch des Toten ein wenig zu Seite und Ragnar starrte verständnislos in das blasse Gesicht der kleinen Sædís. Hatte Læva so sehr gewütet, dass sie an ihren Verletzungen gestorben war? Gertha hatte aber doch gesagt …
Jorunn erhob sich und zog den Jarl ein wenig zur Seite. "Sie hatte eine Fehlgeburt, Ragnar", ließ die Völva ihn nun wissen, "und ist daran verblutet, noch bevor ich hier sein konnte. Es tut mir herzlich leid um das junge Mädchen!", gab sie zu. "Doch manchmal wollen die Nornen es anders als wir."
Nachdenklich sah sie zu dem verhüllten Leichnam, neben dem Lathgertha weiter die Totenwache hielt und leise Gebete flüsterte. "Du solltest dich eine Weile zu uns setzen", schlug sie dem Jarl dann vor. "Es war doch dein Kind, oder etwa nicht?"
Ragnar nickte. Ja, er war es gewesen, der die kleine schüchterne Sædís zur Frau gemacht hatte und er hatte sich nicht viel dabei gedacht. Es hatte Spaß gemacht, sie zu besteigen, auch wenn es ihr wohl weniger gefallen hatte. Das war ihm egal gewesen. Ja, wenn er ehrlich war, hatte ihn ihre versteckte Abneigung noch angestachelt und er war härter mit ihr umgegangen, als es nötig gewesen wäre.
Nun aber lag sie hier. Und wenn er ganz ehrlich war, so lag auch ein Teil der Schuld an ihrem Tod bei ihm. Ja, Læva hatte sie geprügelt! Doch für das Kind, das nun ihr Leben gefordert hatte, war er verantwortlich.
Sorgsam deckte der Jarl das dünne weiße Tuch wieder über das fahle Gesicht mit den geschlossenen Augen. Dann nahm er neben seiner Gefährtin Platz und ergriff deren Hand. Als sich Gertha ihm fragend zuwandte, drückte er nur leicht deren Finger. Dann richtete er den Blick auf die verhüllte Tote und begann seinerseits einen neuen Gesang:
" Schwarz wird die Sonne, die Erde sinkt ins Meer,
Vom Himmel schwinden die heitern Sterne.
Glutwirbel umwühlen den allnährenden Weltbaum,
Die heiße Lohe beleckt den Himmel.
Da seh ich auftauchen zum andernmale
Aus dem Waßer die Erde und wieder grünen.
Die Fluten fallen, darüber fliegt der Aar,
Der auf dem Felsen nach Fischen weidet.
Die Asen einen sich auf dem Idafelde,
Ueber den Weltumspanner zu sprechen, den großen.
Uralter Sprüche sind sie da eingedenk,
Von Fimbultyr gefundner Runen.
Da werden sich wieder die wundersamen
Goldenen Bälle im Grase finden,
Die in Urzeiten die Asen hatten,
Der Fürst der Götter und Fiölnirs Geschlecht.
Da werden unbesät die Aecker tragen,
Alles Böse beßert sich, Baldur kehrt wieder.
In Heervaters Himmel wohnen Hödur und Baldur,
Die walweisen Götter. Wißt ihr was das bedeutet?
Da kann Hönir selbst sein Looß sich kiesen,
Und beider Brüder Söhne bebauen
Das weite Windheim. Wißt ihr was das bedeutet?
Einen Saal seh ich heller als die Sonne,
Mit Gold bedeckt auf Gimils Höhn:
Da werden bewährte Leute wohnen
Und ohne Ende der Ehren genießen. (1)"
(1) Die Ältere Edda, "Völuspa" Verse 56 - 62,
Die alte Schreibweise Karl Simrocks habe ich beibehalten. Wobei auch schon der Übersetzer genannt ist. Quelle: Projekt Gutenberg
Das, was die Völva hier weissagt, ist der Beginn des Gimlé (Ginle, Gimli) nach der letztes Schlacht Ragnarök, eine Art neue Welt, in die die Überlebenden kommen. Er ist in der Prosa-Edda und im Völuspá erwähnt. Er gilt dort als der schönste Ort im Asgard und sogar schöner als die Sonne.
(Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Gimle_%28Mythologie%29 (dürftig!!)
Andere Interpretationen nehmen allerdings an, dass es sich hier um eine Art Neubeginn der Welt handelt, die dann wieder irgendwann später in einem erneuten Ragnarök endet und somit den endlosen Kreislauf der Zeit widerspiegelt.