Keeda rang mit den Händen und sah von Harbek zu Alice, die ihr aufmunternd zunickte, sie musste sie nicht mehr überzeugen. Neverembers Feindseligkeit gegenüber Keeda, seine Furcht vor der Krone und seine gnadenlose Brutalität gegenüber seinen Feinden, waren für sie genug Anlass dem Lord zu misstrauen.
„Eines Abends … “, begann sie und runzelte grübelnd die dunkle Stirn, „Eines Abends wurde ein Fest gefeiert, das geschieht nicht oft in Unterreich. Loths Statuen wurden poliert, die Schlachttrommel erklang durch die Tunnel, doch man zog in keinen Kampf. Ich war noch zu jung, um am Tisch mit den Kriegern zu sitzen und ihren Geschichten zu lauschen, aber selbstverständlich habe ich mich mit meinen Geschwistern in ihrer Nähe versteckt und ihnen gelauscht.
Sie erzählten von einer Dunkelheit die von Süden kam und nach und nach die Menschenreiche eroberte und die Ungläubigen zu Rechenschaft zog. Loth hätte ihren großen Feldzug gegen die erleuchteten Völker begonnen und würde den Drow eine neue Welt zu Füßen legen.“
„Ich erinnere mich an die Zeit, überall in Neverwinter herrschte Angst und Schrecken. Königreiche fielen wie Schachfiguren und der Tod rückte immer näher an die Grenzen Neverwinters“, unterbrach Harbek sie tief in Gedanken und ergänzte, als Alice ihn verwundert ansah, „Ich bin nicht so blutjung wie ich aussehe junges Menschenkind.“
„Die Krieger erzählten von einer neuen Macht die Loth in die Welt gesetzt, und der sie die Macht über die Gefallen gegeben hatte, die einst nicht stark genug für den Weg in ihre dunkle Hallen gewesen waren und sich nun erneut beweisen könnten“, erzählte Keeda weiter, wurde aber von Alice aufgeregter Stimmer unterbrochen.
„Das muss Valindra gewesen sein! Verzeihung …“
Keeda warf ihr einen abschätzigen Blick zu, bevor sie erneut begann: „Ich konnte es damals selbst kaum glauben, aber die Krieger hatten keine Zeit verloren und der neuen Macht ihre Unterstützung zugesichert. Stolz haben die Männer auf dem Fest darüber gesprochen, wie sie die Sonnen und Mondelfen in diesen finsteren Tagen überfallen haben, und nach unzählbar langer Zeit wieder das Land zurück erobert hätten.“
„Der Beginn der Elfenkriege“, murmelte Harbek und sah traurig nach oben, wo er die Sonne durch das durchlöcherte Dach untergehen sehen konnte. Keeda überging seine Bemerkung und sprach unbeeindruckt, jedoch mit tief bedrückter Stimmer weiter.
„Als das Fest zu Ende ging, waren alle Dunkelelfen in Aufbruchsstimmung. Sie bereiteten weitere Angriffe auf die lichten Elfen vor und trafen sich, wie ich vermute, mit Gesandten der neuen Macht. Es liefen schon die Vorbereitungen für einen direkten Angriff, als uns eine Nachricht erreichte. Der Grund warum ich überhaupt von ihr erfahren habe, ist, dass ich, wie immer, in Loths Tempel war, um zu beten, als die Botschaft bei den Priestern eintraf.
König Ahren von Neverwinter hatte Bedingungen für seine Kapitulation geschickt.“
„Was?!“, wutschnaubend sprang Harbek auf und funkelte Keeda an, „König Ahren hätte nie kapituliert! Bis zu seinem Tod hat er alles Erdenkliche getan, um Neverwinter zu verteidigen.“
Keeda zuckte mit den Schultern, „Als ich ein paar Tage später meinen Vater fragte, weshalb er sich noch immer mit den Kriegern auf den Angriff vorbereitet, obwohl Neverwinter aufgab, bestritt er wie du, dass der König kapitulieren wollte. Er sei, wie es ihm gebührte, ehrlos und allein gestorben und hätte die Krone verwaist zurück gelassen.
Doch ich schwöre, dass ich die Nachricht mit den Kapitulationsbedingungen gesehen habe, mitsamt Siegel, Unterschrift und königlichem Band. Bis zu meiner Ankunft in der Enclace konnte ich es mir nicht erklären, doch nun, da ich die Zustände in Neverwinter von der anderen Seite sehe und mit dem Lord gesprochen habe, kommt es mir umso unwahrscheinlicher vor, dass ich mich damals geirrt habe.“
Harbek sah sie mit weit aufgerissenen Augen an und ein Kaleidoskop von Gefühlen spiegelte sich in seinen Zügen. Wut darüber mit einem Drow verglichen zu werden, Unglaube über Keedas Worte, unverhohlener Zorn, Bestürzung und Besinnung, bis sich seine Falten glätteten und eine tiefe Ruhe über seiner Miene lag. Wie erstarrt blickte er Keeda in die Augen und faltete bedächtig die Hände vor der breiten Brust.
„Du willst andeuten, dass Lord Neverember eine Kapitulation verhindert hat.“ stellte er sachlich fest und sah von Keeda zu Alice, die seit einiger Zeit in ihrer tiefen Bestürzung versunken war und um Fassung rang.
„Sie will andeuten, dass die Geschehnisse perfekt ineinander greifen, wenn man auch ihre Seite der Geschichte kennt. Die Welt wird durch Valindra bedroht, Menschen und Elfen sterben in Scharen, Königreiche fallen und in all dem Irrsinn versucht König Ahren die Kontrolle zu behalten und das Leben seiner Bürger zu beschützen. Er möchte kapitulieren, um zwecklose Verluste zu vermeiden und zweifellos wollte er im Gegenzug die Sicherheit seiner Untertanen garantiert sehen.
Doch wie durch Zauberhand verstirbt der König, bevor er seinen Plan in die Tat umsetzten oder jemanden davon erzählen kann. Und wer sitzt genau so plötzlich auf dem Thron, mit dem festen Entschluss diesen Krieg zu gewinnen? Lord Neverember. Der Mann, der erst durch den Tod des Königs zu Macht kam … “
„Und der sie durch das Ende des Krieges verlieren würde“, ergänzte Keeda, Harbeks nun fassungslose Miene ignorierend.
„Einer der wenigen, der, durch seine vorherige Position als Berater, von den Plänen des Königs gewusst haben könnte … “
„Und Angst hat, sich gegenüber der Krone nicht als würdig zu erweisen und zu stolz oder stur ist, sich geschlagen zu geben.“
„Bei den Göttern!“, rief Harbek plötzlich aus, „Hört ihr euch eigentlich zu? Wir sprechen über den Lord der Stadt!“
„Hörst du uns zu? Du musst zugeben, es passt zu perfekt, um lediglich ein Zufall zu sein“, entgegnete Alice eindringlich und kaute gedankenverloren an ihren Nägeln. Harbek raufte sich die kurzen Haare und stöhnte frustriert auf.
„Na und? Selbst wenn Neverember den König ermordet hat, muss er kein Schurke sein. Er wollte sicher nur die Stadt verteidigen, so wie er es bis heute tut. Wer kann es ihm verdenken, dass er Valindras Versprechungen nicht vertraut hat, die Hexe wäre in diese Stadt gezogen und hätte sie niedergebrannt, ganz gleich was für Bedingungen gestellt wurden.“
„Du sprichst über ein Menschenleben“, warf Alice bestürzt ein, doch Harbek zuckte nur ratlos die Achseln.
„Als hätte einer von uns, noch nie jemanden ermordet."
Alice sah ihn auf eine verständnisvolle Weise traurig an und legte ihm eine Hand auf die Schulter, die er jedoch widerwillig abschüttelte.
„Wir wissen überhaupt nichts, das einzige was wir haben sind Vermutungen, das reicht nicht“, brummte Harbek unglücklich und rieb sich das stoppelige Kinn. Keeda sprang aufgebracht einen Schritt in seine Richtung und beugte sich eindringlich zu ihm hinüber, doch er schnitt ihr mit einer Handbewegung das Wort ab.
„Lass mich aussprechen, bevor du mir noch ein Ständchen bringst. Vermutungen reichen nicht, wir müssen mehr über diese Geschichte in Erfahrung bringen, um die Wahrheit zu finden.“
Alice lachte erleichtert auf und legte ihm abermals die Hand auf die Schulter. Dieses Mal ließ er sie gewähren und erwiderte ihr Lächeln grimmig, sie wollte ihn und Keeda schon in eine Umarmung ziehen, als er sich von ihr befreite und einen prüfenden Blick zur Decke warf, um sein Grinsen zu verbergen.
„Lasst uns hier verschwinden, bevor uns die Decke auf den Kopf fällt. Weshalb du diese Bruchbude überhaupt kennst, will ich gar nicht wissen.“