Narzissa Malfoy bebte vor Zorn. Den dritten Tag in Folge musste sie mit ansehen, wie ihr Mann nach dem Frühstück mit dem Schlammblut in der Bibliothek verschwand und nur zum Mittagessen wieder hervorkam. Was trieb er dort mit der Sklavin? Seit Generationen wurde die Familienbibliothek der Malfoys in höchsten Ehren gehalten, schon als sie noch eine Tochter des Hauses Black war, hatte sie von ihr gehört. Und jetzt war es ausgerechnet ihr Ehemann, der dieses Andenken beschmutzte und ein Schlammblut einließ?
Sie konnte nicht verstehen, wieso alle Männer um sie herum plötzlich so besessen waren von Hermine Granger. Warum hatte ihr Mann ausgerechnet diese Sklavin ausgewählt? Was wollte er mit einer jungen Frau, wo er doch sie hatte, seine loyale, ergebene Ehefrau. Ich würde alles opfern für meine Familie, dachte sie verbittert, aber wie dankt man es mir? Lucius redet kaum noch ein Wort mit mir und vergnügt sich lieber mit der Sklavin … und Draco … Draco scheint mit überhaupt gar keinem mehr zu reden!
Wütend ballte sie ihre Fäuste. Wie so oft in letzter Zeit saß sie alleine im Musikzimmer in einem Sessel vor dem Kamin, ein angefangenes Buch auf dem Beistelltisch achtlos zur Seite gelegt und den Blick abwesend auf den großen Flügel am anderen Ende des Raumes gerichtet. Seit dem Sieg Voldemorts war es still geworden in ihrem Haus. Hatte es zuvor lange Wochen als eine Art Hauptquartier gedient, schienen die anderen Todesser jetzt kein Interesse mehr an dem Anwesen zu haben – Besuch war rar. Sogar ihre eigene Schwester, Bellatrix, war sei dem denkwürdigen Tag des Sieges kein einziges Mal vorbei gekommen. Nicht, dass sie sie wirklich vermisste. Der Wahnsinn ihrer älteren Schwester beunruhigte und ängstigte Narzissa Malfoy. Und doch – jede Gesellschaft war ihr lieber als keine. Alles war besser, als ohne Ablenkung darüber brüten zu müssen, ob sich ihr Mann mit einem Schlammblut vergnügt oder nicht.
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Nur das leise Kratzen ihrer Feder auf der Karteikarte durchbrach die perfekte Stille in der großen Bibliothek. Den dritten Tag in Folge saß Hermine hier, arbeitete ohne Störung vor sich hin und drängte die Anwesenheit von Lucius Malfoy so weit es ging an den Rand ihres Bewusstseins. Oder versuchte es zumindest. Die Geschehnisse des gestrigen Tages hingen noch immer schwer in ihren Gedanken. Sie hatte ihren Emotionen freien Lauf gelassen und Schwäche gezeigt, hatte offenbart, wie extrem sie unter den Handlungen von Snape litt – aber ihre Befürchtungen hatten sich nicht bewahrheitet. Im Gegenteil, wenn überhaupt, so schien Lucius Malfoy derjenige zu sein, der geschwächt aus der Situation hervorgegangen war. Als er sie heute Morgen nach dem Frühstück abgeholt hatte, hatte sie eine Zurückhaltung wahrgenommen, die sie nie zuvor bemerkt hatte.
Was geht nur in diesem Mann vor sich?, frage Hermine sich seufzend, Ich habe das Gefühl, er behandelt mich wie ein scheues Reh, das er nicht verscheuchen will. Wenn sie wenigstens Absicht oder List in seinem Handeln hätte entdecken können, dann hätte sie das alles einem perfiden Plan zuschreiben können. Stattdessen entdeckte sie nur Unsicherheit. Hat er Angst davor, dass ich wieder anfange zu weinen?, schoss ihr durch den Kopf, doch der Gedanke war so abstrus, dass sie ihn augenblicklich mit einem Lachen wieder zurück wies.
„Was ist so amüsant?“
Erschrocken drehte Hermine sich um. Das Objekt ihrer Gedanken hatte ihr leises Kichern offensichtlich bemerkt und warf ihr nun einen skeptischen Blick zu. Errötend blickte sie zu Boden.
„Ich reiß dir schon nicht den Kopf ab, Granger!“, sagte Malfoy trocken, als er keine Antwort bekam, „Es ist nur das erste Mal, dass ich dich ernsthaft Lachen gehört habe, seit du hier bist – und da will ich doch ganz gerne wissen, was dich so amüsiert hat.“
Kurz starrte Hermine ihren Besitzer an. Seine offene Art mit ihr zu reden verwirrte sie nur noch mehr. Wo war der Lucius Malfoy, der sich ihrer so herablassend bemächtigt hatte, der schamlos ihre Jungfräulichkeit erst entdeckt und dann verkauft hatte? Der Lucius Malfoy, der vor Jahren Ginny Weasley dem unheilvollen Einfluss von Tom Riddle ausgesetzt hatte? Alles, was sie hier sah, war ein Mann, der sich mit ihr unterhielt, als sei sie ihm ebenbürtig. Und so beschloss Hermine, ihr Glück zu provozieren.
„Ihr.“
Lucius Malfoy verschluckte sich beinah an seinem eigenen Speichel.
„Bitte?“
„Ihr habt mich zum Lachen gebracht.“
„Wie darf ich das verstehen?“, fragte Malfoy säuerlich. Da er noch immer keine Anstalten machte, ihr zu drohen oder auf sonst irgendeine Art eine Gefahr zu darzustellen, trieb Hermine das Spielchen weiter.
„Ich dachte gerade darüber nach, wieso Ihr heute so zurückhaltend, ja beinah höflich zu mir seid. Und die erste Antwort, die mir in den Sinn kam, war, dass Euch das Ereignis gestern stark mitgenommen hat.“
Verblüfft schaute der blonde Mann die Frau vor sich an. Konnte dieses Schlammblut Gedanken lesen? Hatte sie mitbekommen, wie stark er allen Hausbewohnern misstraute – allen, außer ihr? Ahnte sie, dass er ihre Gegenwart genoss, weil er keine Angst vor Spionage und Lügen haben musste?
„Es wäre sehr freundlich von dir, wenn du das etwas genauer ausführen könntest.“
Nun war es an Hermine, überrascht zu reagieren – spätestens jetzt hätte sie mit Wut und Gewalt seinerseits gerechnet. Und wieder bekam sie nur eine ernsthafte, ehrlich interessierte Antwort. Was geht hier vor sich?
„Es ist wirklich ein lächerlicher Gedanke von mir gewesen … ich fragte mich nur, ob Ihr einer der Männer seid, die Frauen nicht weinen sehen können … und darum aus Angst davor, dass ich nochmal weinen könnte, beschlossen habt, mich wie ein rohes Ei zu behandeln.“
Kurz stockte Malfoy, dann brach er in ein erleichtertes Lachen aus. Gedankenlesen, ja sicher!, schalt er sich innerlich. Als ob ausgerechnet ein Schlammblut, eine Sklavin, ihn verstehen würde. Doch die Erleichterung wich sehr schnell und machte einem undefinierbaren Gefühl von Wut und Einsamkeit Platz. Er unterbrach sich selbst, zwang einen neutralen Ausdruck auf sein Gesicht und blickte dann direkt zu seiner Sklavin.
„Das ist in der Tat ein lächerlicher Gedanke, Granger. Ich hatte noch nie Probleme mit weinenden Frauen. Ich weiß, wie man Weiber tröstet!“
„Oh, ja, kein Zweifel“, erwiderte Hermine ironisch, „die Malfoys haben sicher alle sehr viel Ahnung davon, wie man Frauen tröstet.“
Die Ironie in ihrer Stimme machte Lucius Malfoy noch wütender. Was wollte sie damit andeuten? Dass er Frauen quälte?
„Nur Arschlöcher quälen Frauen!“, entfuhr es ihm unwillkürlich. Sofort bereute er seine Worte, als er sah, wie Hermine zurückzuckte. Der nachdenkliche Ausdruck, der kurz über ihr Gesicht huschte, machte ihn wahnsinnig. Was zur Hölle denkt sie die ganze Zeit?
„Stimmt, Ihr habt natürlich noch nie eine Frau gequält …“, kommentierte Hermine gedehnt, während sie sich auf ihrem Stuhl umdrehte, um sich wieder ihrer Arbeit zu widmen. Bei diesen Worten ging Malfoy ein Licht auf – natürlich hatte er sie gequält und erniedrigt.
„Das ist etwas anderes!“, setzte er zu seiner Verteidigung an, „Du bist …“
Mit vor Wut blitzenden Augen wandte sich die junge Frau ruckartig erneut um: „Ja, was bin ich?“
Wieder loderte der Zorn in Malfoy auf. Sie wusste genau, was er sagen wollte, warum fragte sie? Sie war ein Schlammblut und fiel damit aus der Kategorie der Frauen, die er mit Respekte behandelte, raus. Wollte sie wirklich, dass er ihr das ins Gesicht sagte? Warum provozierte sie, dass er zum Arschloch wurde? Nur mühsam hielt er seinen Ärger unter Kontrolle. Diese junge, attraktive Frau vor ihm, die gestern noch so viel Zärtlichkeit in ihm hervorgerufen hatte, brachte ihn heute beinah zur Weißglut. Gestern erst hatte er sich eingestanden, dass er ihr nichts Böses mehr wollte, dass er beinahe dankbar war für ihre Anwesenheit – wieso musste sie ihn heute so behandeln?
Fast wäre ihm entgangen, dass Hermine sich inzwischen wieder umgedreht hatte. Die Ignoranz, die ihm entgegenschlug, brachte das Fass zum Überlaufen. Rasend vor Wut sprang Lucius Malfoy von seinem Sessel auf, überbrückte mit zwei Schritten die Distanz zum Schreibtisch und zerrte die überraschte Gryffindor aus ihrem Stuhl.
„Du solltest dir ganz genau überlegen, mit wem du hier redest!“, zischte er, während er seine Hände links und rechts von ihr auf dem Tisch abstützte. Hermine war deutlich kleiner als er und unter dem kalten Blick schrumpfte sie noch weiter in sich zusammen. Doch sie würde nicht klein beigeben. Sie hatte sich selbst in diese Situation gebracht und realistisch betrachtet gab es nichts, was er ihr antun konnte, was schlimmer war als die bisher erlebten Dinge. Und so sammelte sie all ihren Mut und schaute ihm herausfordernd in die Augen.
Das unbeeindruckte Starren der kleinen Frau vor ihm machte Malfoy nur noch wütender. Schwer atmend blickte er auf sie herab, starrte in die braunen Augen, bemerkte die ihrerseits vor Zorn und Nervosität geröteten Wangen – und blieb schließlich mit seinem Blick an ihren Lippen hängen.
Hermine entging nicht, wohin der Mann vor ihr schaute, und auch nicht, dass sein Atmen plötzlich schwerer wurde. Entsetzt registrierte sie, wie er eine Hand vom Tisch nahm, in ihr Haar griff und ihr Gesicht näher an seines führte.
Ohne darüber nachzudenken, was er tat, presste Lucius Malfoy seine Lippen auf Hermines. Das überraschte Keuchen, das seiner Sklavin erfuhr, und die kleinen Hände, die sich in seine Brust bohrten bei dem Versuch, ihn von sich zu schieben, verstärkten nur die Gier nach mehr. Mit einem schnellen Griff fasste er beide Handgelenke und zwang Hermine, ihre Arme runter zu nehmen. Gleichzeitig packte er ihren wilden Haarschopf fester und intensivierte den Kuss. Ein Stöhnen entfuhr ihm und er ließ kurz von ihr ab, um nach Luft zu ringen. Getrieben von einem plötzlich in ihm aufsteigenden Verlangen vergrub er seine Zähne in ihrem Nacken, platzierte hungrige Küsse auf ihrem Hals, fuhr mit seiner freien Hand ihren Rücken hinab und drängte sich so eng er konnte an sie.
„Mr. Malfoy… stopp! Bitte … stopp!“
Die schluchzend geflüsterten Worte von Hermine rissen den blonden Mann abrupt in die Realität zurück. Wie schon am Vortag fragte er sich, was zur Hölle er gerade tat. Entsetzt über sich selbst ließ er von seiner Sklavin ab und trat einen Schritt zurück. Wie konnte er sich nur zwei Mal hintereinander so in Hermine Granger verlieren? Was hatte dieses Schlammblut an sich, dass er in ihrer Gegenwart alles vergaß und …
„Danke“
Das leise Flüstern war beinah unhörbar, und doch erschien es Lucius Malfoy unendlich laut. Mit weit aufgerissenen Augen schaute er Hermine an.
„Danke, dass Ihr … aufgehört habt.“ führte sie aus, „Ich … ich hatte nicht erwartet, dass meine Worte etwas bewirken. Das haben sie vorher nämlich nie. Weder bei Snape … noch bei Draco … darum … Danke!“
Sekundenlang konnte Malfoy sie nur weiter anstarren. Er hatte sich gerade vergessen, hatte ihre Schwäche ausgenutzt, sich seiner Wut hingegeben und all den angestauten Zorn an ihr auslassen wollen – und sie bedankte sich, dass er ihr Flehen erhört hatte? Das ist alles so lächerlich, so verdreht.
Einem Impuls folgend trat er wieder an sie heran und zog sie in seine Arme. Er spürte, dass sie erstarrte, doch als er nichts weiter tat als sie festzuhalten, entspannte sie sich. Sie erwiderte die Umarmung nicht, sie fing auch nicht wie am Vortag an zu weinen. Aber sie wehrte sich auch nicht. Und dieses Gefühl genoss Lucius Malfoy. Das Gefühl, dass jemand ihn gewähren ließ, ohne sich zu wehren oder eine geheuchelte Erwiderung zu zeigen. Das Gefühl, dass in seinem Haus tatsächlich jemand lebte, der ihn nicht anlog. Er wollte gar nicht, das Hermine seine Zärtlichkeit erwiderte, denn er wusste, dass sie ihm keine solchen Gefühle entgegen brachte. Es reichte ihm aus, dass sie sein Verlangen nach menschlicher Wärme erkannte, akzeptierte und zuließ, dass er sie umarmte.
Warum auch immer sie das tat.