Lange sah der Jarl seinen Freund nachdenklich an. So einfach, wie es sich Thorstein vorstellte, war es nicht, eine Sklavin freizugeben. Sicher hatte er schon des Öfteren Sklaven in den Stand eines Freien erhoben, wenn sich diese auf eine außergewöhnliche oder heldenhafte Weise vor ihm bewährt hatten. Und natürlich war es gang und gäbe, Sklaven untereinander zu verkaufen oder zu versteigern. Doch eine Sklavin ohne guten Grund freizugeben und noch dazu im Gegenzug ein Geschenk anzunehmen, das den Wert der jungen Frau sicherlich mehrmals aufwog, kam einem Verrat an seinen Werten und an seiner Ehre als Jarl gleich.
Bedächtig schlug Ragnar das Leinen und das Leder wieder um den Sonnenstein und schob ihn zurück auf Thorsteins Tischseite. Dabei entging ihm nicht der entsetzte Blick des Freundes, als dieser verstand, dass sein Angebot abgelehnt wurde.
"Ich kann das nicht machen, Thorstein", versuchte Ragnar es seinem Freund zu erklären. "Nicht so und nicht mit einer Gegenleistung, die den Wert dieser Frau um ein Vielfaches übersteigt."
Der Jarl bemerkte, wie sich nun nicht nur Thorstein merklich vor ihm verschloss, sondern dass sich auch Lathgertha neben ihm aufrichtete und versteifte. Wenn er sie nicht sofort bremste, würde sich auch seine Gefährtin zu Wort melden und das Gespräch konnte dann eine harte Wendung nehmen, mit der keinem von ihnen geholfen wäre.
Entschlossen sah Ragnar dem Freund in die Augen.
"Ich verstehe deinen Wunsch und werde darüber nachdenken, auf welchem Weg er sich erfüllen lässt", nahm er seinen vorangegangenen Worten ein wenig die Schärfe und Lathgertha den Wunsch, ihm zu widersprechen. "Doch wir müssen bei all deiner Zuneigung für Rúna und trotz unserer Freundschaft auch die Regeln unseres Volkes beachten. Gebe ich heute Rúna gegen ein Entgelt frei, so würde das meine Position als Jarl erheblich schwächen, weil andere, mir weniger wohlgesonnene Krieger annehmen möchten, dass ich käuflich wäre."
Ragnar beobachtete mit einem inneren Lächeln, wie sich Thorsteins Wangen leicht rosig färbten. Nein, es war ihm nicht entgangen, dass auch der Freund probiert hatte, ihn ein wenig zu bestechen, auch, wenn dieser Versuch sicher von ihm nicht bösartig geplant oder auch nur dahingehend durchdacht war und eigentlich gut gemeint. Doch er musste seinem Steuermann klarmachen, dass sie auf dem vorgeschlagenen Weg nicht weiterkamen.
"Gäbe ich Rúna aber frei, ohne, dass sie diese Freiheit als Lohn für ihre Arbeit erhielte oder als Preis für eine besondere Tat, so könnte ich mich vor dem Geschrei meiner anderen Sklavinnen nicht mehr retten." Ragnar grinste. "Mag sein, sie würden dann nur noch arbeiten und den Männern beiliegen, wenn sie dafür baldigst einen Freibrief bekämen."
Der Jarl klopfte seinem Freund, der nun offensichtlich tief betrübt den Sonnenstein wieder einsteckte, auf die Schulter.
"Wir werden einen Weg finden mein Freund", versicherte er dem enttäuschten Mann. "Einen Weg, der vielleicht ein wenig raffinierter versteckt, aus welchem Grund wir Rúna freigeben." Er drückte seinem Steuermann Mut machend die Schulter.
"Ich verspreche dir, bevor wir segeln, werde ich eine Lösung des Problems gefunden haben. Doch bis dahin solltest du die Zeit nutzen, um sie doch noch davon zu überzeugen, dass sie in dir einen guten Gefährten hätte."
Der Steuermann sah erstaunt, wie nun auch Lathgertha lächelte. Dass gerade die Frau des Jarls diesem darin zustimmte, dass er, Thorstein, gut für Rúna sein könnte, irritierte ihn. Doch die Schildmaid fand den Gedanken nicht abwegig, dass zwischen dem Krieger und der jungen Frau mehr sein könnte als ein Herren-Sklaven-Verhältnis. Aufmunternd nickte sie Thorstein zu.
"Dass dir Rúna eine Menge bedeutet, kannst du nach diesem Gespräch wohl kaum verleugnen, Thorstein", stellte sie nüchtern fest. "Doch auch Rúna war sehr enttäuscht, als sie den Moorseehof verlassen musste. Und sie ist immer noch sehr still und nachdenklich, obwohl es ihr bei Jorunn wirklich an nichts fehlt und sie keinerlei Angst vor einer von uns haben muss. Sie hat nicht viel von ihrer Zeit bei dir erzählt, doch wenn sie von dir sprach, dann nie im Zorn oder Hass. Ich glaube, wenn du ihr die Gelegenheit gibst, dir wieder näher zu kommen, wird sie dir gern zurück auf den Moorseehof folgen, sobald die Zeit gekommen ist."
Die Freunde saßen noch lange zusammen und überlegten, welche Möglichkeiten Ragnar und Thorstein hatten, um den Wünschen des Steuermannes so schnell wie möglich Gestalt zu geben. Später am Abend, als Lathgertha mit einem Essenskorb zu Jorunn ging, um den Abend bei den beiden Frauen zu verbringen, überlegte sie, ob es nicht gut wäre, auch die Völva in Thorsteins Wünsche einzuweihen. Es war sicher richtig, wenn die alte Heilerin wusste, dass der Krieger Rúna nicht leichtfertig hatte gehen lassen. Ja, wenn sie es sich genau überlegte, so lag in Thorsteins Sicht auf die Dinge sogar eine gewisse Heldenhaftigkeit. Dass er seine Wünsche hintenan stellte, um einer Sklavin ein besseres Leben zu ermöglichen, war mehr, als man von den meisten Kriegern erwarten konnte. Für diese lag der Daseinssinn der Frauen meist nur darin, ihnen Lust zu bereiten und den Haushalt zu bestellen. Kam dann noch eine warme Mahlzeit auf den Tisch, hatte das Weib seine Pflicht getan, von den Sklavinnen ganz zu schweigen. Deren Wert wurde in ihrer Arbeitskraft und der Größe des Busens aufgewogen. Dass Thorstein in Bezug auf Rúna ganz anders dachte, gefiel Lathgertha.
Während nun die Frauen aßen und dann mit ihren Handarbeiten zusammensaßen, versuchte Lathgertha Rúna ein wenig darüber auszuhorchen, wie die junge Frau zu ihrem Herrn auf dem Moorseehof stand. Viel Neues bekam sie allerdings auch jetzt nicht zu hören. Die stille Sklavin war auf eine Art und Weise gegenüber ihren Besitzern loyal, dass es die Schildmaid fast erschreckte. Selbst über Ári, Rúnas ersten Herrn, hatte sie nur nach und nach mehr als das Offensichtliche erfahren. So war Lathgertha froh, als Rúna irgendwann das Grubenhaus verließ, um die zum Trocknen aufgehängten Kräuter vor dem Tau unter das Dach zu hängen. Sie nutzte die kurze Zeit, um Jorunn von ihrem unverhofften Besuch und dessen Folgen zu berichten. Gemeinsam beschlossen die beiden Frauen, Thorstein ein wenig bei seiner Mission, Rúna für sich zu gewinnen, zu unterstützen.
Zur gleichen Zeit lud Ragnar seinen Steuermann ein, gleich in der Siedlung zu bleiben und mit dem Einwintern der Kriegsschiffe zu beginnen. In dem Wissen, dass sie im kommenden Frühling in den Krieg ziehen wollten, mussten die Boote in einen einwandfreien Zustand gebracht werden. Gerade an der Ragnarsúð, dem Flaggschiff des Jarls, waren in den letzten zwei Jahren kaum Planken gewechselt worden, etwas, das sich Thorstein für diesen Herbst bereits ausgebeten hatte. Die dazu erforderlichen Hölzer waren im vergangenen Winter geschlagen und zugeschnitten worden. Nun ruhten die Bretter unter der freistehenden Überdachung, unter der später die Ragnarsúð den Winter unversehrt überdauern sollte.
So planten die beiden Krieger und zu später Stunde rollte sich Thorstein zufrieden an Ragnars Feuer zusammen. Ab morgen würde er das kleine benachbarte Grubenhaus beziehen, in dem er immer wohnte, wenn er in Straumfjorður war. Doch heute durfte er die Gastlichkeit im Haus seines Freundes genießen. Dieser hatte ihm geraten, Rúna nicht zu viel von seiner Unsicherheit zu zeigen und so normal wie möglich mit ihr umzugehen. Immerhin war die junge Frau nach dem Gesetz sein Besitz, um den er sich auch kümmern musste.
Also beschloss Thorstein, am nächsten Tag Jorunn zu besuchen um sich nach Rúnas Befinden zu erkundigen. Obwohl er von Lathgertha längst wusste, dass sie sich inzwischen gut erholt hatte, durfte er sich doch sicher selbst davon ein Bild machen. Dabei, so hatte Ragnar vorgeschlagen, mochte ihm auffallen, dass Rúnas Kleider nicht für die kommende kalte Jahreszeit taugten und so ergab sich eine gute Gelegenheit, mit Rúna den Markt zu besuchen, um ihr einen warmen Umhang und vielleicht ein paar einfache Schuhe zu besorgen. Mit ein wenig Glück, so dachte sich Thorstein, ließ sich diese gemeinsame Zeit dann um ein kleines Mahl verlängern und es sollte doch zu machen sein, dabei ein wenig Rúnas Vertrauen zurückzugewinnen. Keiner von jenen, die an diesem Abend so unbedarft Zukunftspläne schmiedeten, ahnte, dass der kommende Tag ganz Anderes von ihnen fordern würde.