Linda wollte eigentlich entgegnen, dass es Situationen gab, in denen Kuchen nicht half. Zum Beispiel bei schreienden Kindern und schmollenden Teenagern, die ihr Dasein fortan in ihrem Bett fristen wollten. Aber sie riss sich zusammen, weil sie so tief berührt von Annies Geste war.
"Danke, Annie." Linda schenkte ihrer besten Freundin ein Lächeln, dass von Herzen kam.
"Ach, kein Problem, Linnymaus.", Ann strich sich verlegen eine Haarsträhne hinters Ohr und warf einen schnellen, hungrigen Blick zu dem Stück Apfelkuchen vor ihr. Mit einigem Widerwillen streckte sie die Hand nach dem Teller aus und gab ihm einen kleinen Schubs in Linda's Richtung. "Lass es dir schmecken!"
"Klar, auf einmal habe ich einen Bärenhunger!", meinte diese. Linda griff nach der Gabel und zog das Stück Kuchen näher zu sich. Dabei beobachtete sie verstohlen den leidenden Gesichtsausdruck ihrer Freundin. "Aber weißt du was?"
"Was ist denn Lin?" Annie sah hoffnungsvoll auf den Apfelkuchen.
"Hmmm...ich weiß auch nicht genau..." Linda steckte die kleine Gabel tief in den Kuchen und sah wie die Hoffnung aus dem Gesicht ihrer Freundin wich. "Eigentlich..."
"Ja?" Annies Stimme war kaum mehr ein Flüstern.
Linda teilte das Stück mit der Gabel in zwei Hälften. "Eigentlich schmeckt es doch viel besser, wenn man teilt, oder nicht?", Linda warf Annie einen fragenden Blick zu.
"Ja, ja, aber natürlich tut es das! Aber...kann ich das wirklich annehmen?" Ann kämpfte sichtbar mit sich.
"Ich denke schon."
"Okay, überzeugt!" Mit leuchtenden Augen zog Annie den Teller in die Mitte. Linda nippte belustigt an ihrem Latte. Ihre Freundin war die größte Naschkatze, die sie kannte.
Die beiden unterhielten sich noch eine Weile über dies und das und jenes, bis Linda einen schnellen Blick auf die Uhr warf und gehetzt verkündete, dass sie wieder losmusste. Ewig konnte ihre Mutter leider auch nicht, auf die Kinder aufpassen.
Ann seufzte gespielt und wünschte ihr noch einen schönen Abend. "Richte den Kleinen alles Gute von mir aus. Tante Annie freut sich schon auf ihren Besuch!" Sie zwinkerte Linda zu.
"Ja, das mache ich. Ich bin dir zu unendlichem Dank verschuldet." Linda grinste und warf nochmals einen Blick auf ihre Armbanduhr. "Ups, jetzt wird es aber wirklich Zeit!" Sie knallte einen Zehner auf den Tisch. "Bis bald!"
"Hey, das geht doch nicht! Ich bin dran mit einladen!", beschwerte sich die kleine Dame, aber da war Linda schon entwischt.
"Tschüss!", rief Annie ihr noch hinterher und sah ihr kopfschüttelnd nach. Linda war manchmal wirklich schlimm.
Im Vorbeigehen warf Linda noch einen Blick hinter die Theke. Emilio war nirgends zu sehen. An der Garderobe angekommen, zog sie die Jacke vom Kleiderbügel und wollte gerade in den Ärmel schlüpfen, als jemand von hinten ihren Mantel anhob.
"Darf ich ihnen behilflich sein, Signora?" Deutsch mit leichtem italienischem Akzent.
"Ähm, ja...gerne.", brachte Linda stotternd hervor. Sie war froh mit dem Rücken zu Emilio zu stehen, weil ihr Wangen bestimmt scharlachrot waren.
Fürsorglich hielt er ihr den Mantel hin und Linda ließ ihre Hände in die Ärmel gleiten. Ihr Rücken kribbelte. Sie drehte sich kurz um. "Vielen Dank."
"Kein Problem.", entgegnete Emilio höflich und sah ihr direkt in die Augen. So musste es sich wohl anfühlen in Schokolade zu ertrinken. Linda bekam weiche Knie. "Ich wünsche ihnen noch einen schönen Abend. Passen sie auf sich auf."
"Danke, das werde ich schon irgendwie schaffen.", meinte Linda lächelnd. Sie lächelte eigentlich schon die ganze Zeit. Emilio auch. Er sah ihr immer noch in die Augen. Linda war bewegungsunfähig.
Plötzlich schallte ein lautes Klirren durch das Café. In der Küche fluchte jemand auf italienisch. Irgendetwas Großes aus Porzellan musste gerade sein Dasein gesegnet haben. Kurze Stille. Erneut drangen Rufe aus der Küche. Linda war nicht sehr gut in Italienisch, aber dem Tonfall entnahm sie, dass der Rufende nicht gerade in guter Stimmung war. Und das Emilio am Ende bedeutete vermutlich, dass der gutaussehende Mann vor ihr, gleich verschwinden würde...
"Entschuldigen sie, Signora. Aber wie sie vermutlich gehört haben, werde ich gebraucht." .
Die Stimme aus der Küche schallte wieder durchs Café. Emilio seufzte. Sein Blick verdunkelte sich ein wenig, aber als er sie ansah leuchteten seine Augen wieder "Bis bald." Er ließ ihre Hand los.
"Bis bald.", entgegnete Linda ihm grinsend.
Emilio schenkte ihr ein letztes Lächeln, bevor er sich umdrehte und hinter der Theke verschwand.
Mit leuchtend roten Wangen verließ Linda das Café Albarello und schloss die Tür hinter sich. Einen Augenblick blieb sie noch stehen, sie fühlte Emilios Händedruck noch immer ein wenig in ihrer Handfläche.
Moment mal! Wann hatte er ihre Hand genommen?!