Im Laufe der Zeit war in Decadence ein Gedanke gekeimt, den selbst sie kaum zu denken wagte. Längst war es ihr zu mühseelig geworden, einzelne Männer und Frauen zu Sünde und Lastern zu verleiten. Die Willenskraft der Sterblichen war doch sehr begrenzt, und Decadence war mittlerweile ausgesprochen geübt darin mit der Begierde der Menschen zu spielen, sie nach ihren Wünschen zu formen und selbst die Tugendhaftigsten schwach werden zu lassen. Sie hatte ihren Blick stattdessen heimlich auf eine weit würdigere Beute gerichtet - selbstverständlich nur als Gedankenspiel.
Die meisten Tage verbrachte sie inzwischen nur noch damit, lustlos ihre eigenen Begierden zu stillen, sich zweifelhaften Fantasien hinzugeben oder einfach wochenlang zu schlafen. Das Handeln und Treiben der Menschen war für sie ermüdend geworden.
Für Modesty begann hingegen ein goldenes Zeitalter. Sie schaffte es in nur wenigen Generationen die ganze Stadt zu einem Leuchtfeuer der Moral zu formen. Sitte und Anstand hielten Einzug im ganzen Land, und die Menschen strebten vor allen Dingen nach Frömmigkeit und einem plichtbewusstes Leben. Modesty war erfüllt mit Freude über ihr großes Werk, und hätte nicht stolzer sein können. Das Lob ihrer Göttin war ihr gewiss.
Decadence hätte ihr diesen Erfolg missgönnen sollen, doch aus irgendeinem Grund brachte sie dies nicht über ihr dunkles Herz. Es bereitete ihr zwar Missbehagen wie langweilig und starr das Leben der Menschen nun geworden war, wie brav und pflichtbewusst ein jeder pünktlich seine Arbeit tat, und wie wenig beachtung sie ihren tiefsten Trieben und Bedürfnissen schenkten. Und doch... obgleich in ihren Augen ein Zeitalter der Repression einzug gehalten hatte, unternahm sie nichts.
Natürlich lästerte und meckerte sie zum Schein, doch insgeheim erfreute sie sich daran zu sehen, wie Modesty in dieser unschuldigen Welt, die sie geschaffen hatte, aufblühte. Wann immer sie sich unbeobachtet fühlte, verlor sie sich mit sehnsüchtigem Blick im Lächeln ihrer mittlerweile sehr vertrauten Rivalin.
Doch ein solches Ungleichgewicht durfte nicht bestehen, und schon bald musste Decadence vor der Gesandten ihrer Göttin Rechenschaft ablegen...