Diese Nacht war einzigartig, und sie würde es für immer bleiben.
Als sie sich küssten stieg ein pechscharzer Nebel aus dem Boden, kroch an ihnen hoch wie schattenhafte Fangarme, geformt aus Rauch und Dunkelheit. Die düsteren Triebe von Decadence schlängelten sich behutsam in Modestys reines Herz, um es ganz langsam und sanft zu trüben.
Decas Absichten waren zweifelhaft, zugegeben, doch lag ihr in Wahrheit nichts ferner, als ihrer Modesty zu schaden. Ja, sie hatte vor ihre Freundin zu verderben, sie zu verwandeln, sie zu sich in ihre moralischen Abgründe hinabziehen... doch galten all ihr Bestreben in diesem Moment, mit ihrer so heimlich Geliebten all die lasterhaften Freuden und verbotenen Genüsse zu teilen, die diese nie hatte kennenlernen dürfen. Jeder Gedanke pulsierte vor Vorfreude, Modtesty endlich das zuteil werden zu lassen, das ihr seit ihrer Schöpfung verwehrt geblieben war.
Ein Musenleben lange war sie schon standhaft und rein gewesen. Kein schmachtvoller Blick, kein einziger tropfen Wein, kein verwegener Gedanke, nicht eine unsittliche Berührung. Im Gegensatz zu Decas Leben, die stets die ausschweifigen Sünden der Menschen wie ihre eigenen miterleben durfte, musste diese Existenz doch einem kalten, grauen Alptraum gleichen, so dachte sie.
Doch Modestys Herz leuchtete stark, heller noch als je zuvor. Trotz all ihrer Kraft, die sie aufwendete, die geisterhaften Tentakel von Decadence vermochte es nicht es zu trüben oder zu schwärzen, wie sie es sonst taten. Modestys Herz begann zu strahlen, wie es noch nie zuvor geschehen war. Der ganze Turm, der Nachthimmel, ja alles um sie herum verschmolz zu einem einzigen, gleißenden Licht. Die schwarzen Fesseln von Decadence verwehten wie Rauch im Wind, machtlos gegen Modestys inbrünstiges Seelenleuchten.
Und doch... Modesty hörte nicht damit auf, den Kuss zu erwiedern. Wie töricht von Decadence zu glauben, sie hätte hier die Überhand gewonnen. Ihre Macht war groß, doch Modesty hatte die Kontrolle nie verloren. Im Gegenteil sogar, Deca konnte spüren, wie Modestys Zauber tief in ihrer eigenen Seele etwas veränderte. War dies von Modesty gewollt? Oder war es eine Anomalie, etwas unnatürliches das sich aus der Vermischung ihrer Energien ergeben hatte, und das niemand je hätte vorhersehen können?
Hinweg gefegt waren alle niederen Gelüste und Triebe. Unzucht nur der Fleischeslust wegen, der Rausch des Verbotenen, das Befriedigen der körperlichen Begierde als bloßer Antrieb... Zum ersten Mal verlor Deca selbst jedes Streben danach. Alles was sie Modesty hatte zeigen wollen, war in diesem Moment zu etwas Neuem geworden.
Ein neues, warmes Gefühl und ein unbekanntes Verlangen keimte in beiden auf. Ein Verlangen festzuhalten und gehalten zu werden. Zu lieben, der aufrichtigen Liebe wegen, zärtlich zu sein und sich einander hinzugeben, voll Vertrauen und Verletzlichkeit.
Diese Nacht war einzigartig, und sie würde es für immer bleiben.