Am nächsten Morgen, als Decadence erwachte, lag Modesty noch in ihrem Armen, ihren hübschen Kopf auf Decas Brust gebettet. Wie lange sie diese Nacht herbeigesehnt hatte, und doch wusste sie nun selbst nicht, welche neuen Empfindungen sie tief in sich in Bewegung gesetzt hatte. In diesem Moment hätte sie eigentlich stolz ihre Beute betrachten und triumphierend lächeln müssen, doch das konnte sie nicht mehr. Es war ein aufrichtiges Lächeln.
Als die Sonne weit genug aufgegangen war um ihre Strahlen bis über die Turmspitze zu schicken, erwachte auch Modesty. Für einen Augenblick zuckte sie kurz, schien sich ob ihrer ungewohnten Lage zu erschrecken, doch dann wurde ihr die gestrige Nacht gewahr und sie lächelte verspielt und kuschelte sich an ihre Decadence.
Eine ganze Weile lagen sie beieinander, ohne Worte zu tauschen. Bis Modesty glücklich flüsterte: "Das war es mir wert..."
"Was meinst du damit?", fragte Deca.
Modesty senkte den Blick. "Na, dass ich bereit bin die Konsequenzen dafür zu tragen"
Decadence wusste nicht was sie darauf antworten sollte.
"Ich habe meine Pflicht stets gut getan, Deca. Mit etwas Glück komme ich für diese Verfehlung mit ein paar Jahren im Feuer davon. Doch selbst wenn die Obersten bestimmen dass ich defekt bin und ausgetauscht werden muss, dann werde ich dieses Urteil mit Würde tragen"
"Du bist nicht defekt!", rief Decadence. Die Erinnerung an die Jahrzehnte im Feuer waren bei ihr noch jung. Modesty war solch eine Qual noch nie widerfahren, und Decadence bebte innerlich bei dem Gedanken, dass ihr so etwas zustoßen könnte. "Es wird keine Konsequenzen für dich geben", versicherte Deca, und streichelte ihrer Liebsten übers Haar.
Doch es stimmte natürlich. Liebesgefühle oder gar eine Beziehung zwischen Musen war nicht nur verboten, es war ein vollkommen undenkbares Tabu, vor allem für eine Muse der Reinheit. Modesty wusste das genau, und sie schien sich damit abzufinden. "Versprich mir nichts was du nicht halten kannst, Deca. Heute kommen die Gesandten. Du weißt du brauchst diesen Sieg. Sonst wirst du ausgetauscht. Außerdem ist es deine Pflicht, loyal zu sein."
"Ich weiß", flüsterte Decadence. Die beiden verbrachten noch eine Weile zusammen auf ihrem Turm, wohl wissend dass es das letzte Mal für eine sehr lange Zeit, wenn nicht sogar das letzte Mal für immer sein würde, dass sie zusammen sein konnten.
Als die Sonne am Abend schließlich versank, erschienen, wie immer pünktlich zur vorhergesagten Zeit, die Gesanden ihrer Göttinnen im königlichen Thronsaal. Die schneeweiß leuchtende Gesandte "Purity" und die pechschwarz und blutrote Gesandte "Corruption". Sie bäumten sich turmhoch und bedrohlich vor ihnen auf, und Decadence und Modesty knieten demütig vor ihnen nieder, wie sie es immer taten, und berichteten was sie zu berichten hatten.
Der Ablauf war sein Anbeginn stets der gleiche geblieben: Zuerst erzählte immer Modesty der weißen Gesandten von ihren Erfolgen, von den gesellschaftlichen Regeln, Gesetzen und Tabus, die sie im Lande etablieren konnte. Danach erzählte Decadence der blutroten Abgesandten von ihren Schandtaten, welche Menschen sie ins Verderben ziehen konnte, und welche Regeln diese gebrochen hatten. Zuletzt sprach noch einmal Modesty, um sich zu verteidigen, indem sie berichtete wie alle Menschen, die unter Decas Einfluss gefallen waren, von den tugendhaften Menschen zur Rechenschaft gezogen und bestraft worden waren.
Modesty redete also zuerst. Sie erzählte zaghafter als sonst, doch sie wich in keinem Wort davon ab, von ihren normalen Aufgaben und Pflichten zu erzählen. Ihren Fehltritt zu vermelden war die Aufgabe von Decadence.
"Du hast wie immer gute Arbeit getan", sprach Purity, die Gesandte in weiß. "Die Mächte der Verderbnis sind dir offenbar nicht gewachsen. Gut gemacht, kleine Muse."
Nun sprach Corruption, die blutrote Gesandte: "Vermelde nun, Decadence. Was konntest du tun um die Ordnung zu stören?"
Decadence warf einen flüchtigen blick zu Modesty, holte dann tief Luft und sprach: "Nicht viel, es tut mir leid"
Modesty warf einen erschrockenen, ja fast erzürnten Blick zurück. "Sag es ihnen doch!", hätte sie wohl rufen wollen. Doch sie war nicht an der Reihe zu sprechen, also konnte sie nichts tun.
Deca erzählte beschämt von den wenigen lasterhaften Taten, die sie unter den Menschen hatte anregen können. Doch im Gesicht ihrer Gesandten zeichnete sich deutlich ab, dass es bei weitem nicht reichen würde.
"Hast du mir weiter nichts zu vermelden?", hallte die Frage durch den Raum.
"Das habe ich nicht", antwortete sie.
"Dann wird es Zeit dich auszutauschen", antwortete die Gesandte, mit gleichgültiger Stimme, fast schon als würde sie es vorlesen. "Du hast mich und deine Herrin zum letzten Mal enttäuscht. Wir werden eine andere Decadence an deine Position setzen. Dein Körper wird hingerichtet werden. Deine Seele wird nicht zur Quelle zurückkehren, sondern zerstört werden. Wenn du wirklich nichts mehr vorzutragen hast, akzeptiere dieses Schicksal."
Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, wie Modesty flehend zu ihr hinüber sah, sie möge es erzählen, doch Deca senkte nur ihr Haupt und sprach: "So sei es dann. Ich habe nichts weiter vorzutragen"
Modesty rief dazwischen: "Mit Verlaub und bei allem Respekt, meine Gegnerin ist noch sehr schwach von ihrer letzten Strafe, und sie konnte deswegen noch nicht..."
Mit einem heftigen Schlag ihrer Rückhand direkt in Modestys Gesicht, brachte Purity ihre aus der Reihe gefallene Muse zum Schweigen. "Wie kannst du es wagen?", tobte sie. "Du bist nicht an der Reihe zu sprechen, und was nimmst du dir heraus unseren Feind in Schutz zu nehmen?"
Der Schlag war schwer gewesen, und Modesty hatte Mühe sich aufzurichten, doch sie versuchte mit zitternden Gliedern es so schnell wie möglich zu schaffen um wieder Haltung anzunehmen.
Es herrschte eine kurze Weile lang absolute Stille im Saal.
"Wir sind fertig", sprach Corruption schließlich.
Purity schwenkte den Blick von Corruption zurück auf Modesty und sagte: "Jetzt bist du an der Reihe. Doch überleg dir gut was du sprichst."
Modesty atmete schwer, und wagte nicht ihr Haupt zu heben. Sie sprach so schnell sie konnte, um nicht unterbrochen zu werden: "Mit Verlaub und bei allem Respekt, ihr sagtet ihr wärt zufrieden mit meiner Arbeit, doch ich muss zu meiner tiefen Schande gestehen, dass ich diese Leistung nicht halten können werde. Meine Gegnerin war sehr geschwächt, und nur diesem Umstand verdanke ich den Großteil meines Erfolges. Ist sie erst wieder genesen, so wird wieder Gleichgewicht herrschen. Es schmerzt mich euch zu enttäuschen, aber als Muse der Ordnung ist es meine Pflicht die Wahrheit zu sagen, und kein Lob einzustreichen, wo ich doch nur Glück hatte."
Ein kurzer Moment an Stille, dann erhob Purity erneut die Hand und schlug dreimal mit voller Gewalt auf Modesty ein. Diese unterdrückte es mit aller Kraft laut aufzuschreien, und blieb letztendlich am Boden liegen, nicht mehr in der Lage aufzustehen. Purity sprach: "Dein Glück ist es, dass du ansonsten so gut funktionierst, dumme Modesty. Du entgehst dem Feuer heute nur, weil ich in den nächsten Jahrzehnten deine Leistung nicht durch eine ungeschulte Ersatz-Modesty einbüßen möchte."
Corruption brach währenddessen in schallendes Gelächter aus. "Ich bin entzückt, werte Purity, dass ich mich hier heute nicht alleine blamieren muss", sagte sie voll Hohn. "Meine Muse ist nur unfähig und faul, aber deiner mangelt es noch schwerer, wie mir scheint."
Purity entgegnete: "Das Fehlverhalten von meiner kann man jedoch korrigieren. Sie funktioniert ansonsten gut, und liefert ausgezeichnete Ergebnisse. Ich werde heute nicht zu meiner Göttin kriechen müssen um um einen Ersatz zu betteln."
Für ein paar weitere Momente war es still. Dann sprach Corruption: "Du bekommst noch eine allerletzte Chance Decadence! Und sei es nur weil es mir gefällt welche Wirkung du auf diese widerliche Lichtmuse zu haben scheinst"
Decadence nickte demütig. "Vielen Dank für diese unverdiente Güte, Herrin, ich werde euch nicht mehr enttäuschen."
"In dreizehn Vollmonden kommen wir wieder. Wenn bis dahin nicht mindestens Gleichgewicht herrscht, bekommst du ein ganzes Jahrhundert im Seelenfeuer und wirst DANN ausgetauscht. Hast du das verstanden?"
"Ich habe verstanden"
Es folgten einige strenge Blicke, und die Gesandten verließen den Palast, um sich auf den Weg zu den anderen Städten zu machen, in denen andere Stadthaltermusen auf ihre Beurteilung warteten.
In dem Moment, da Corruption und Purity außer Hörweite waren, hastete Deca zu der noch immer am Boden liegenden Modesty, um ihr hochzuhelfen.
"Was bist du nur für eine Idiotin?", fragte Modesty und hustete, als Deca sie in den Arm nahm. "Beinahe wärst du ausgetauscht worden."
"Und da musst du grade deinen Mund aufmachen, hm?", neckte Decadence, froh darüber dass Modesty es mit ihrer Hilfe schaffte sich aufzuraffen.
"Du hast es ihnen nicht gesagt! Du warst nicht loyal, Deca!", keuchte Modesty.
"Doch, das war ich", antwortete Decadence. "Das verstehst auch du in deiner Unwissenheit noch eines Tages"
Sie lachten, drückten sich und küssten einander, zwar zaghaft und etwas beklommen, aber zutiefst erleichtert beide heutigen Tag beide überlebt zu haben.
"Was immer auch kommen mag, wie immer das Ganze auch endet...", sagte Deca, "wir haben noch ein ganzes Jahr gemeinsam, und das wird uns keiner mehr wegnehmen."