Der nächste Morgen war angebrochen. Nun war der Augenblick gekommen, die Gesandten von ihrer neuen Welt überzeugen. Und falls sie doch scheitern sollten... so waren Decadence und Modesty auf alles gefasst.
Die beiden hatten letzte Nacht ihren Frieden gemacht, mit allen erdenklichen Ausgängen. Wenn nötig, würden sie kämpfen und fliehen, oder gemeinsam fallen. Alles war besser, als sich zu fügen und auseinandergerissen zu werden.
Mit großer Angst und doch erfasst von einer fast übernatürlichen Gelassenheit, standen sie nun im Thronsaal und erwarteten die Anfkunft der Gesandten.
Als die Tür sich öffnete und Purity und Corruption eintraten, war allen bewusst, dass diesmal nicht so verlaufen würde, wie die aberhunderten Male zuvor. Mit schnellem Schritt traten die beiden Gesandten an Decadence und Modesty heran. Jedoch nicht so nahe, wie sie es für gewöhnlich taten.
Puritys Stimme donnerte durch den Saal. "Was ist hier geschehen?"
Decadence und Modesty verneigten sich kurz, blieben aber nicht wie sonst am Boden knien. Stattdessen richteten sie sich wieder auf und hielten sich an der Hand.
"Wir haben ein Gleichgewicht erschaffen", antwortete Modesty. "Wir haben einen neuen Weg gefunden. Einen besseren Weg."
Corruption rief: "Also hat es unsere kleine Decadence nun auf der Seite der Musen der Ordnung verschlagen?"
"Nein", antwortete Decadence. "Es gibt in unserer Stadt keine zwei Seiten mehr. Die Menschen haben gelernt, anständig zu sein, ohne einander mit ihren Moralvorstellungen zu erdrücken. All die Laster, für die ich verantwortlich war, sie existieren noch immer - aber es sind keine Laster mehr. Sie weren akzeptiert und frei und selbstbestimmt ausgeübt, ohne jemandem zu schaden."
Purity und Corruption blieb die Sprache weg. Doch waren es nicht die Worte von Decadence und Modesty, die sie erstarren ließen... Die ganze Stadt schwang im Einklang, die kollektive Mentalität und veränderte Wesenheit aller Menschen war für die Musen eindeutig zu spüren. Etwas Vergleichbares hatten sie noch nie zuvor erlebt. Muse haben von Natur aus ein Gespür für den Gemütszustand der Menschen und diese Stadt vibrierte geradezu vor Verständnis, Gemeinschaft und Eintracht. So still, und doch ohrenbetäubended laut. Keine Muse hätte sich diesem Eindruck entziehen oder ihn ignorieren können.
"Und das ist nicht alles", verkündete Decadence. "Modesty und ich werden heiraten. Wir wissen, dass der Gedanke unerhört ist, dennoch erbitten wir den Segen unserer Schöpferinnen"
"Was glaubt ihr eigentlich, wer ihr seid?", riefen die Gesandten.
Modesty antwortete: "Wir sind nicht länger Dekadenz und Sittlichkeit. Wir sind nun Vernunft. Wir sind Anstand. Wir sind Decency."
"Und wir sind die Vorboten einer neuen Ära", sagte Deca. "Eine Ära, in der Lichtmusen und Schattenmusen ihre Differenzen endlich beiseite legen und merken, wie viel sie erreichen können, wenn sie für das gleiche Ziel eintreten."
Purity und Corruption standen wie unter Schock. Sie waren wie zwei Zahnräder im großen Getriebe der Welt, die seit Jahrtausenden zum ersten Mal auf eine Überraschung stießen, mit der sie nicht umgehen konnten.
Nachdem keine von beiden etwas sagte, brach Modesty schließlich das Schweigen. "Berichtet den Göttinnen von unseren Erfolgen und lasst sie selbst urteilen. Übermittelt ihnen unsere Bitte."
Deca fügte hinzu: "Oder tötet uns auf der Stelle, wenn ihr denn die Verantwortung dafür tragen könnt, die Entscheidung in ihrem Namen zu treffen"
Die Furcht der Gesandten lag deutlich im Raum. Das ungute Gefühl, nicht mehr die unbestreitbare Kontrolle über die Lage zu haben, die Scheu, einen direkten Konflikt mit zwei zu mächtig gewordenen Statthaltermusen einzugehen, die zu allem bereit waren. Und vor allem, die unerbittliche Angst, auf eine, für sie vollkommen neue, Situation falsch zu reagieren und am Ende dafür bestraft zu werden.
In ungewohnt leisem, verunsichertem Ton, antwortete Purity schließlich: "Nun gut. Ich werde unverzüglich der Göttin Bericht erstatten. Erwartet meine Nachricht in Kürze"
Auch Corruption antwortete letztendlich, wenngleich merklich verstimmt: "Bevor ich mir wegen zwei Abtrünnigen wie euch Probleme einhandle, werde ich das ebenfalls auch tun"
Modesty und Decadence verneigten sich zum Abschied, ohne jedoch die Hand der jeweils anderen loszulassen. Die Gesandten wandten sich ab und verließen den Saal.
Decas und Modestys Herzen schlugen wie wild, als die Tür sich schloss. Niemals hätten sie es für möglich gehalten, eines Tages in dieser Weise mit ihren Herrinnen zu sprechen. Obwohl es sich wie ein kleiner Sieg anfühlte, war ihr Bangen noch nicht vorbei. Im Gegenteil, denn nun würde über ihre Bemühungen, eine schöne neue Welt zu erschaffen, von der höchsten Instanz überhaupt gerichtet werden.
Der Rest des Tages fühlte sich wie eine Ewigkeit an. Als schließlich, noch am Abend des selben Tages, eine Botschafter-Muse im Saal erschien, war die Spannung kaum auszuhalten. Als diese die Nachricht verkündete, konnten Deca und Modesty es kaum fassen.
"Bereitet die Hochzeitsfeierlichkeiten vor. Eure Göttin wird höchstpersönlich anwesend sein um ihren Segen auf euch zu legen."