Kapitel 2
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Hastig eilte ich in Richtung meines Klassenraums. Ich versuchte mich an meinem gewohnten Ablauf zu orientieren, um Normalität in diesem Chaos zu finden. Die Tür stand noch offen, als ich mein Ziel erreichte. Kurz hielt ich inne, dann jedoch ging ich selbstverständlicher denn je hinein. Es muss von außen komisch ausgesehen haben, als ich im Türrahmen stand und sie alle angeguckt habe. Aber die Reaktion auf die ich gehofft habe blieb aus. Sie sahen mich verwundert an, fast schon bemitleidend.
Einatmen ausatmen und weitergehen. Ich hielt den Kopf gesenkt und vermied weiteren Blickkontakt. Ich konnte ihre neugierigen Blicke auf mir spüren, als würden sie mir in den Nacken atmen. Mir fiel eine Last von der Schulter, als ich sah, dass mein Sitzplatz noch frei war. Schnell ließ ich mich nieder, legte die Tasche auf den Schoß und ließ meinen Kopf in die Hände fallen. Ich blendete alles um mich herum aus. Wie als würde ich in meiner persönlichen Blase stecken.
Bum, bum, bum. Überall Herztöne, die mit jeder Sekunde klarer zu hören waren, aber das Pochen meines Herzens war am lautesten. Es kribbelte wieder und ich presste meine Hände zu Fäusten. Es läuft mir eiskalt den Rücken runter, meine Nackenhaare stellen sich auf und Schweißperlen bilden sich auf meiner Stirn. Ich zähle von 10 runter. Zehn, Neun, Acht, Sieben…
„Hey Süße! Alles klar?“ Als hätte mich ein Sog herausgerissen atmete ich schnell und unkontrolliert weiter.
„Sag mal alles klar? Du siehst aus, als hättest du ne‘ Leiche gesehen oder so?“ Erst als ich von meinem Trip runter kam, realisierte ich, wer er war. Tony Anderson, Mädchenschwarm der Klasse. Nicht der hellste, aber mit seinen Bernstein farbigen Augen und der gebräunten Haut eindeutig in der höchsten Liga.
„Du musst neben mir sitzen, der Platz auf dem du sitzt, ist schon besetzt.“ Sein grinsen war himmlisch, aber seine Worte versetzten mir einen Schlag mitten ins Gesicht. Doch die Tatsache, dass er mit mir Sprach ließ mich den Fakt, dass ich vermutlich aufgehört hatte zu existieren, kurzerhand fürs Erste verdrängen.
Ich nahm meine Tasche und tat, was er mir gesagt hatte. Er zog mir den Stuhl zurück und ich setzte mich neben ihn. Desto länger ich ihn jedoch anstarrte, wurde mir mein eigentliches Problem wieder bewusst. Und das hatte Priorität. Ein schönes Gesicht mag vielleicht für einen Moment ablenken, aber wenn man nichts in der Birne hat, fällt es einem umso leichter wieder in der Realität aufzutauchen.
„Sag mir…“ „Tony Anderson.“
Das ist mir bewusst.
„Sag mir Tony, wer sitzt den sonst hinter dir?“
„Ach Süße, das tut doch nichts zur Sache, wichtig ist nur, dass du deinen Weg zu mir gefunden hast.“ Er beugte sich zu mir und sein Schweiß nach dem Sport, roch nicht annähernd so, wie die anderen Mädchen den beschrieben haben.
Er grinste frech und wartete. Ich wusste nicht worauf.
Für mich tut das einiges zur Sache, das zu wissen.
Ich biss mir auf die Lippe und klimperte mit den Augen um Tony zu verstehen zu geben, dass ich eine Antwort auf meine Frage erwartete. Noch ein paar Sekunden starrte er mich an, dann ließ er sich schnaufend in seinen Stuhl zurück fallen und kippelte.
„Die Schulschlampe, die sitzt dort.“
Als die Tür wieder knallte, war mir bereits bewusst, wer durch diese hinein kam. „Ingrid Delgado heißt die.“ Fügte Tony noch hinzu.
Es schnürte mir die Kehle zu, der Bleiklumpen in meiner Brust erschwerte mir das Atmen.
Wie konnte das möglich sein? Nur noch ein Zufall und ich würde in Panik ausbrechen.
Hinter Ingrid kam auch direkt der Lehrer rein und schloss die Tür. „Zufall? Ich glaube nicht!“ Rief eine dunkle Stimme durch den Klassenraum. Ingrid lief durch ein Meer aus Gelächter, bis sie sich setzte. Der Lehrer hatte Mühe damit, die Klasse zu beruhigen. Ich wünschte sie würden wissen, was damals wirklich geschehen ist. Dann würde sie an ihrem Lachen ersticken.
Ich sah sie bemitleidend über die Schulter an. Als sie das bemerkte, verdrehte sie bloß ihre Augen und schwang ihren Blick zum Fenster um.Der Lehrer sah mich mit fragendem Blick an, allerdings beließ er es vorerst dabei und laß die Klassenliste laut vor.
Mein Name tauchte dabei nicht auf. Ich schluckte.
„Machst wohl ein Geheimnis aus dir Babe.“
„Herr Strauch? Ich denke, sie müssen mich Übersprungen haben…“
„Wie heißt du denn junge Dame?“
Ich machte mich darauf gefasst gleich 26 „Ohs und Ahs“ ignorieren zu müssen.
„Ich ehm, mein Name ist Ina, Ina Delgado.“
26 Ohs und Ahs und ein Iih, durchfluteten den Raum.
„Süße du hast mir nicht gesagt, dass du mit der Verwand bist.“ Warf mir Tony als Vorwurf ein. „Naja, vielleicht stehst du dann ja auch auf die gleiche Art Spaß du Luder.“
„Ich bin nicht mit ihr Verwand.“ Ich wünschte, das wäre die Antwort darauf.
„Oh das mit dem Luder tut mir Leid Bab…“
Ich war schon aufgestanden und lief zum Lehrerpult, riss Herr Strauch die Klassenliste aus der Hand und überflog das Verzeichnis selbst.
Ich stand nicht drin.
Es dauerte bloß einen Bruchteil einer Sekunde, bis ich die Nerven verlor, als ich Instinktiv einem Schüler in die Augen sah, der mich offensichtlich anstarrte und den ich vorher nie gesehen habe. Er sah mich verständnisvoll an und zu allem Übel, nickte er mir einmal zu. Es lief mir eiskalt den Rücken runter, ich umklammerte meine Tasche und lief aus dem Raum.
Die Flure der Schule schienen mir heute unendlich lang. Die Klänge, die an den Wänden abprallten und der Geruch von Büchern und Tinte verloren an Vertrautheit.
Ich eilte aus dem Gebäude und sprang von den letzten Treppenstufen. Egal wohin, Hauptsache weg. Mir war es nicht mehr wichtig auf offener Straße normal zu wirken, denn irgendwas stimmte nicht mit mir. Der Geruch von Gras und Beton zog mit jedem weiteren Schritt in weite Ferne.Ich kramte in meiner Tasche und zog mein Handy heraus. Ich öffnete die Bildergallerie. Alle Bilder die ich geschossen hatte, waren noch da. Es konnte sich nur um einen schlechten, aber grandiosen Scherz halten. Während ich in mein Handy starrte, bemerkte ich nicht, dass ich in einen Passanten lief.
Es knallte.
Mein Handy fiel mir aus der Hand und ich kippte nach hinten. Anstatt mich aufzufangen, baute sich der junge Mann vor mir auf und sah zu mir runter. Sein Kippen stümmel landete neben mir auf dem Pflasterstein. Ich sah zu ihm hoch, nur kurz. Er regte sich nicht, atmete nur einen erstickenden Rauch aus und steckte die Hand in die Hosentasche. Sein Auftreten war äußerst Dominant, ich wagte es nicht, ihn nochmal anzusehen. Schnell kramte ich meine Sachen zusammen und stand mit gesenktem Kopf auf und lief an ihm vorbei.
Als ich einige Schritte gelaufen war, wagte ich doch noch einen kurzen Blick. Er stand noch immer da. Zündete sich eine Zigarette an und beobachtete mich eindringlich. Meine Beine bewegten sich schneller, bis ich jedoch realisierte, dass ich bereits joggte, stand ich schon vor meiner Haustür. Seltsamerweise gab sie mir nicht das Gefühl von Sicherheit, worauf ich inständig gehofft habe. Keine vertrauten Geruche oder Geräusche. Es ist einfach ein Haus. Die Mauern sind kalt. Sie fühlen sich normal an, nicht besonders.
Bevor ich klingeln wollte, holte ich noch einmal das Handy aus der Tasche und öffnete die Bildergallerie um mich an irgendwas festhalten zu können. Mein Körper vibrierte und mir schoss die Panik durchs Blut, als ich nichts sah. Mein Handy war vollkommen leer. Keine Bilder, keine Kontakte.
Ich ließ es fallen und wollte es nicht mehr berühren. Ich zögerte, als ich meinen Finger zur Klingel führte.
Eine bildschöne Frau öffnete die Tür.
„Ja bitte?“
Erkennt sie mich nicht?.
„Kann ich dir helfen junge Dame?“
Sie weiß nicht wer ich bin.
„Hast du dich verlaufen? Du musst keine Angst haben.“
Meine Mutter sieht mich wie eine Fremde an.
„Bist du von der Schule? Ich habe eine Tochter in deinem Alter.“
Ich bin deine Tochter.
„Ich bin von der Schule.“ Platzte es aus mir heraus.
„Oh wie nett. Möchtest du Ingrid besuchen? Sie ist noch nicht da. Sie hat noch Schule.“
Ich kenne meinen Stundenplan. Ich weiß, dass ich in der Schule sein müsste. Aber da existiere ich nicht.
„Möchtest du rein kommen? Darf ich dir einen Tee anbieten?“
Ich drehte blitzartig von der Haustür weg und setzte einen Fuß vor den anderen. Jeder Schritt war eine Qual, aber auch die einzige Möglichkeit von diesem Schmerz Abstand zu gewinnen. Ich lief immer weiter. Die Frau, die ich nicht mehr als meine Mutter bezeichnen konnte, wusste nicht wer ich war.
War ich ein Niemand? Oder jemand, der niemals ein Jemand gewesen war?
Überraschenderweise fielen mir die Schritte leichter, desto weiter ich von allem entfernt war. Ich wusste nicht wohin ich gehen sollte, wichtig war nur die Entfernung. Irgendwann als es immer dunkler wurde, erreichte ich einen Park mit vielen Hügeln. Von einem dieser Hügel konnte ich die Sonne sinken sehen und der Tag neigte sich dem Ende zu. Vielleicht wäre morgen wieder alles anderes. Vielleicht wache ich einfach nur wieder auf. Und vielleicht und darauf hoffe ich, wache ich auch nie wieder auf.
Alles sah so aus wie immer, doch durch meine Augen gesehen, hat sich die Welt verändert.
Mittlerweile setzte die Kälte ein und legte sich auf meiner Haut nieder. Wo ich heute schlafen würde, war mir in dem Moment aber trotzdem egal. Ich realisierte langsam, dass es morgen genauso weiter gehen würde wie heute. Es war kein Traum, dafür war die Realität zu beschissen. Ich war derartig darin vertieft über nichts nachzudenken, dass ich nicht bemerkte, dass jemand hinter mir stand und darauf wartete, dass ich reagierte. Es vergingen einige Sekunden vielleicht auch Minuten. Das Gefühl für Zeit hatte ich verloren.
Als die Sonne vollkommen hinter den Hügeln verschwunden war, machte ich mich daran aufzustehen. Das Gras zwischen meinen Fingern zu spüren hatte was Verspieltes. Ich stand auf meinen Beinen und drehte mich um, als ich in ein bekanntes Gesicht sah. Es war der Junge aus dem Klassenraum, der mich so eindringlich betrachtet hatte, als könnte er in meine tiefsten Tiefen blicken.
Und nun tat er es wieder. Er schaute mir tief in die Augen und ich musterte ihn.
Vorher habe ich ihn noch nie hier gesehen. Ich beobachte viel, jemand wie er, wäre mir aufgefallen.
Verwirrter als vorher konnte ich nicht mehr werden. Das dachte ich zumindest, bevor er die besagten Worte aussprach.
„Ina Delgado, ich denke wir zwei müssen uns unterhalten.“