Kapitel 3-
„Du kannst hier nicht bleiben, du gehörst hier nicht mehr her.“ Sprach er behutsam auf mich ein, als ich gerade die Nerven verlor.
Natürlich gehöre ich hier her. In dieser kleinen persönlichen Hölle spielt sich mein Leben ab.
Mein Brustkorb sank und hob sich mit jeder Sekunde schneller und der nasse Geruch von Gras zog in weite Ferne. Der Tau legte sich, mit zunehmender Dunkelheit, auf meiner Haut nieder und ein feiner Windzug strich mir über die Arme.
Ich fließ den Kopf in meine Hände fallen und sank in mir zusammen. Bilder meines chaotischen Lebens schossen mir vor die Augen. In diesem Moment, war ich dankbar für mein langes, dunkles Haar, denn es bedeckte mein Gesicht und ließ nicht zu, dass der Fremde meine sich anbahnenden Tränen erkennen konnte.
Gerade als meine Augen begannen fürchterlich schnell zu blinzeln, spürte ich einen Druck auf meiner Schulter. Der Fremde hatte seine Hand behütend dort hingelegt und tätschelte mich.
Ein Blutstrom durchfuhr meine Adern und jede Zelle meines Körpers pulsierte. Ein schwarzer Schatten drängte sich vor mein Inneres Auge, ich wollte seine Hand von mir weg schlagen, doch sein Reflex war schneller.
„Schon gut kleine Reisende. Das was du fühlst, ist ganz normal.“
Mein ganzer Körper zitterte und meine Haare sträubten sich. Ich senkte meinen Kopf und betrachtete meine Handflächen, sie taten mir weh, besonders die rechte. Ich drückte nervös auf ihr herum und ließ meinen Blick nicht von ihr ab. Jedoch entgingen mir auch nicht seine Worte, die er gerade zu mir gesprochen hatte.
„Reisende?“ Fragte ich mit gebrochener Stimme. Es war ein Wunder, dass er mich verstanden hatte.
„Ja Ina, du bist eine Reisende. So nennen wir die Leute, die von ihrem menschlichen Leben getrennt werden und in ihre wahre Natur übergehen.“
Kurzerhand zog ich die Augenbraue nach oben und sah ihn eindringlich an.
„Schau mich nicht so verdutzt an. Das erlebst du doch nicht zum ersten Mal.“
Langsam kam mir der Gedanke auf, dass nicht ich die Verrückte war. …Zumindest war ich nicht die Einzige.
Er kniete sich zu mir nieder und sah mich mit seinen warmen Augen an. Hellbraune Knöpfe versuchten mich zu durchleuchten. Ich sah vermutlich aus wie ein kleiner, verlorener Welpe.
„Du verstehst tatsächlich nichts von all dem? Du hast keine Ahnung wer du bist, noch wer ich bin?“
Ich deutete ein Nein an. Ich traute mich nicht, großartig etwas zu sagen. Ich wusste nicht, was ich verstecken wollte.
Mein Kopf kam mir schon wieder sehr schwer vor, sodass ich immer weiter in mich zusammen sackte. Irgendwas passierte mit mir, doch ich konnte nicht erahnen, was es war.
Ein seltsames Gefühl durchfuhr meinen Körper, der Fremde schien das gemerkt zu haben.
„Keine Sorge, du bist deswegen kein schlechter Mensch. Das Leben, das du gelebt hast, ist nie deins gewesen. Deswegen musst du dir auch keine Vorwürfe darüber machen, dass du die Menschen aus dieser Zeit nicht vermisst.“
Alle meine kleinen Härchen stellten sich auf und mein Herz pumpte mein Blut mit einer rasanten Geschwindigkeit durch meinen Körper. Ich hielt die Luft an und meine Pupillen erweiterten sich schlagartig. Ich fühlte mich ertappt. Er hatte recht, ich verlor keinen Gedanken an meine Mutter. Ich versuchte nur zu verstehen, was mit mir geschehen war. Ich fragte mich, wer Ingrid war und wo ich als nächstes hingehen sollte. Aber ich spürte keinen Schmerz, sogar die Leere die mich mein ganzes Leben verfolgt hatte, verzog sich immer weiter in die Ferne. Sie war da, allerdings hatte sie eine andere Form angenommen, eine Form, die ich so noch nie empfunden habe. Es hatte etwas von Fernweh und Sehnsucht.
„Das stimmt nicht…“ Flüsterte ich in meine Hände, obwohl mir bewusst war, dass er mich durchschaut hatte. Und das noch bevor ich selbst realisieren konnte, dass ich ein kaltes, egoistisches Kind war.
„Tut mir Leid, Ina. Ich verstehe es selbst nicht. Irgendetwas ist dieses Mal wohl anders. Vielleicht brauchst du einfach mehr Zeit.“
Mehr Zeit für was? Durchzudrehen? Die Nerven zu verlieren? Oder vielleicht ein bisschen von beidem?
„Ich weiß nicht…“
„Kiran, ich heiße Kiran. Das ist wohl untergegangen.“
„Kiran, ich weiß nicht wer du bist, ich hielt den Atem an, um die Tränen weiter unterdrücken zu können, noch was das hier alles ist. Aber ich weiß, dass ich dir überhaupt nicht folgen kann, in den Dingen, die du sagst.“ Gab ich ihm mit gesammelter Kraft zu verstehen.
„Verstehe, dann müssen wir uns über einiges unterhalten.“
Ich nickte, wendete mich von ihm ab und verschmolz mit dem Sonnenuntergang. Ich konzentrierte mich auf jede Farbe und jedes noch so kleine Lichtspiel. Wenigstens ist das gleichgeblieben.
Kiran setzte sich neben mich und schaute mir dabei einfach zu. Es war ein Moment der Stille. Ich hatte mich noch nie, für einen kleinen Augenblick, so lebendig gefühlt.
Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, oder wann der letzte Sonnenstrahl hinter dem Horizont verschwand. Langsam spürte ich eine leichte kälte auf meiner Haut, sie war nicht stechend, sondern eher wie ein zartes streicheln. Fast schon angenehm.
„Ina?“ Unterbrach Kiran die Stille. Ich wollte nicht antworten, aber er hatte meine ungeteilte Aufmerksamkeit.
„Wir müssen uns langsam auf den Weg machen.“
Ich hätte hier nicht für immer sitzen können, aber wenigstens noch ein Weilchen.
„Komm mit mir Ina.“ Kiran stand auf, glättete sich die Hose und hielt mir seine Hand hin. „Lass uns gehen.“ Fügte er noch mit einem leichten Lächeln hinzu.
Ich sah dem Mond zu, wie er aus dem Nichts empor stieg. Er war für mich, schon immer etwas Besonderes gewesen. Sein Licht, gab mir Kraft, dieses Gefühl redete ich mir zumindest immer wieder ein. An irgendetwas, musste ich mich schließlich festhalten.
„Ina, wir müssen wirklich los.“ Noch immer, hörte ich ihm nicht richtig zu. Ich war in meinem Film gefangen.
„Komm bitte, ich will dich nicht zwingen müssen.“ Meine Wangenknochen zuckten leicht.
„Ina!“ rief er.
Ich sah ihn etwas perplex an.
„Ina… wir müssen wirklich los. Im besten Fall, bevor der Mond seinen höchsten Punkt erreicht.“
„Ich finde ihn sehr schön.“ Antwortete ich ihm unerwartet bestimmt. Im nächsten Moment galt meine Aufmerksamkeit wieder dem aufsteigendem, weisen Planeten. Auch wenn er nicht als dieser galt, für mich war er es.
„Es ist sehr spät, wir müssen gehen. Du musst müde sein.“
„Es geht.“ Ich war sehr erschöpft.
„Dann können wir uns noch unterhalten, wenn wir zu Hause sind.“
Zu Hause, ein mächtiges Wort in meinen Ohren.
Er streckte mir erneut seine Hand entgegen, ich war gewollt, nach ihr zu greifen. Stattdessen starrte ich sie an.
Im nächsten Moment weiteten sich seine Pupillen und er griff nach mir. Er zog mich auf die Beine, drückte mich hinter sich und sein ganzer Körper spannte sich an. Er zog einen Dolch aus seiner Gürtelschnalle. Die Klinge leuchtete und er warf sie direkt ins Nichts. Zumindest sah es für mich auf den ersten Blick so aus.
Der Dolch flog mit einer enormen Wucht durch die Luft, bis er letztlich in der Dunkelheit stecken blieb. Ein lautes Kreischen und Zischen ertönte in meinen Ohren und kurz wurde es hell. Ein Wesen, wie ich es noch nie zuvor gesehen hatte, fiel nur wenige Meter vor Kiran´s Füße. Er atmete schwer und sah mich eindringlich an. Aber mehr als einen verstörten Gesichtsausdruck, hatte er wohl nicht zu sehen bekommen.
Ich stand da, mit leicht geöffnetem Mund und auf die Leiche starrend. Kiran schüttelte den Kopf und wandte sich von mir ab. Er lief auf das Ding zu, schaute auf es hinunter und sprach:
„Wir sollten jetzt wirklich gehen Ina. Ich hab keine Zeit für einen schonenden Einstieg und anders wirst du nicht mitkommen.
Das Ding was hier liegt, das ist ein Dämon. Um genau zu sein, ein Dämon des Westens, also des Wassers. Das erkennst du, an dem nach unten gedrehtem Dreieck an seiner Stirn.“
Er sprach weiter, irgendein wirres Zeug, dem ich nicht folgen konnte. Irgendwas von Leviathan und Dämonen. War er verrückt? -Nein.
Er war es nicht, zumindest nicht mehr als ich, denn das Ding war real. Es lag da, dieser Dämon lag vor meinen Füßen. Und ich hatte nichts dazu zu sagen.
„… Und ich bin ein Dämonen Jäger. Und du bist es auch Ina.“
Ich sah das Ding einfach nur an und trat immer näher heran. Irgendwas zog mich magisch an, eine Kraft, die mir nicht fremd war, eine Kraft, der ich mich nicht wiedersetzen konnte. Alles was er sprach, kam nicht richtig bei mir an. Ich wollte einfach nur so nahe wie möglich an das Ding heran.
Doch Kiran sah mich an und hielt mich auf Abstand.
„Du bist noch nicht soweit, aber ich sehe, dass deine Instinkte noch da sind. Wir kriegen das gemeinsam hin, aber jetzt schau zu…“
Ich blieb stehen, genauso wie er es mir ohne Worte befohlen hatte. Er kniete sich nieder und griff nach seinem Dolch.
„Sie sind erst richtig Tod, wenn du die Waffe, wieder aus ihrem Körper entfernst.“
Ich sah interessiert zu, irgendwas fühlte sich vertraut seltsam an. Er zog die Klinge aus dem Dämon heraus.
Das Ding stieß noch einen letzten Schrei aus, bis es einfach in Wasser zerfloss und in der Erde versickerte.
„Spürst du dass Ina? Dass ist die Belohnung, dass richtige getan zu haben.“ Er richtete sich auf und sah mich grinsend an, während er seinen Dolch mit einem Stück Stoff abputzte.
Gerade als ich ihn fragen wollte, ob er den Schrei, den ich gehört hatte, als Belohnung definierte, fror mein Blick fest.
Im tiefe der Nacht sah ich etwas noch dunkleres. Es fokussierte mich und ließ mich seine negative und dominante Kraft spüren. Mir blieb das Blut in den Venen stehen und mit dem letzten Sauerstoff in meinem Körper brachte ich nur noch seinen Namen hervor.
„Kiran…“