Kapitel 1
Ich nehme meine Schulsachen aus dem Spind und schließe ihn. Als ich mich umdrehe, quieke ich erschrocken auf. Vor mir steht Lio und starrt mich an. Er macht keine Anstalten zur Seite zu treten, also frage ich was los ist. Lio antwortet nicht, starrt mich aber weiterhin an. Ich halte seinem Blick stand. Ich weiß nicht wie lange wir dort so stehen, ich mit meinen Schulsachen im Arm und er mit den Händen in den Hosentaschen. Vielleicht nur ein paar Sekunden, vielleicht aber auch mehrere Minuten. Die Zeit scheint wie still zu stehen. Mein Herz schlägt schneller und ich halte die Luft an. Gerade, als ich wieder ausatmen will, drängt er mich an den Spind zurück. Sein Gesicht, in dem ich eine leichte röte zu erkennen glaube, ist nur noch wenige Zentimeter von meinem entfernt. Seine Hand zittert, als er mir eine Strähne aus der Stirn streicht und mit unsicherer Stimme flüstert: „Ich will schon so lange mit dir reden. Ich...“ In dem Moment läutet es zur ersten Stunde. In seinem Blick erkenne ich deutliches missfallen, anscheinend kommt ihm die Klingel zu einem unpassendem Zeitpunkt dazwischen. Seltsam. Auch ich fühle mich unzufrieden, dabei kenne ich ihn kaum. Um uns herum entsteht lauter Trubel. Die Schüler strömen in ihre Klassen. Verlegen tritt Lio einen Schritt zurück. Mit einem letzten Blick, den ich nicht deuten kann, macht er sich auf den Weg zu seinem Unterricht. Verwirrt und mit klopfendem Herzen, schaue ich ihm nach, gehe aber schließlich auch im meine Klasse. In der ersten Stunde haben wir Mathe, mein Lieblingsfach, doch heute kann ich mich nicht auf das Rechnen konzentrieren. Mit dem Bleistift in der Hand sitze ich hier und starre träumend aus dem Fenster. Lio ist in meinem Fußballverein und ein Jahrgang über mir. Ich bin schon seit Monaten in ihn verliebt, habe aber noch nie mehr als zehn Worte mit ihm gewechselt, was daran liegen könnte, dass ich die Schüchternheit in Person bin. Plötzlich werde ich aus meinen Tagträumen gerissen. Isalie, meine beste Freundin seit sie vor drei Jahren auf diese Schule gewechselt ist, stößt mir ihren Ellbogen in meine Rippen. „Erde an Valentina, bist du da?“ Ich blinzle mehrmals verwirrt, bevor ich verstehe, was sie von mir will. „Was ist los?“, frage ich trotzdem. „Ich habe gefragt, ob du diese Aufgabe verstehst, die Herr Klaave uns gerade aufgegeben hat. Was ist denn heute los mit dir?“ antwortet sie mit gerunzelter Stirn. „Nichts. Ich...hab heute nur schlecht geschlafen. Das ist alles.“ Ich weiß selbst nicht genau, warum ich ihr das mit Lio verschweige. Normalerweise erzähle ich ihr alles, was mich beschäftigt. Sie weiß meine tiefsten Geheimnisse, aber ausgerechnet das, was vorhin vor dem Spind passiert ist, erzähle ich ihr nicht.
Ihr Gesichtsausdruck zeigt deutlich, dass sie mir nicht glaubt, aber sie lässt es darauf beruhen. Das liebe ich an ihr. Sie drängt mich nie dazu, ihr irgendetwas zu erzählen, sondern wartet, bis ich dazu bereit bin. Für den Rest der Stunde erkläre ich ihr die Aufgaben und wir erledigen sie gemeinsam. Schließlich klingelt es zur Pause. Ich räume meine Sachen zusammen, da wir danach Kunst haben und folge Isalie über den Schulhof in die Mensa. Dort stellt sie sich an die Schlage für den Verkauf an, während ich am Ausgang warte und meinen Blick durch den Raum schweifen lasse. Auf einmal bemerke ich, dass Lio an dem Tisch ganz in meiner Nähe sitzt und mich mit seinen grünen Augen fixiert. Anders als heute morgen, wende ich schnell den Blick ab, da ich spüre wie ich rot werde. Ein Kribbeln, wie tausende kleine Schmetterlinge, mach sich in meiner Bauchgegend breit. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass er mit seinem Kumpel Timo redet, mich aber weiterhin anschaut. Kurz darauf kommt Isalie mit einem Brötchen in der Hand wieder. Sie scheint unseren Blickkontakt mitbekommen zu haben, denn sie hebt fragend die Augenbrauen. Da ich ein schlechtes Gewissen habe, weil ich ihr vorhin nicht die Wahrheit gesagt habe und ich sie nicht noch einmal anlügen möchte sage ich: „Gleich“. Wir schlängeln uns durch die Tische, bis wir einen freien Platz in der Ecke gefunden haben. Wir setzten uns und ich fange an von dem Vorfall heute morgen zu erzählen. Am Ende meines Berichtes bitte ich sie, niemandem etwas davon zu sagen. Zum Zeichen der Verschwiegenheit, tut sie so, als würde sie ihren Mund abschließen und den Schlüssel wegwerfen. Ich lächle ihr dankbar zu und blicke verstohlen in Lios Richtung. Ein Gefühl ähnlich der Trauer breitet sich in mir aus, als ich merke, dass er nicht mehr da ist. Ich bin so beschäftigt mit diesem Gefühl, dass ich zusammen zucke, als mir jemand auf die Schulter tippt. Timo steht hinter mit und grinst mich dämlich an. „Soll ich dir von Lio geben“, sagt er, während er mir einen kleinen Zettel hinhält. Verdutzt nehme ich den Zettel entgegen und ihn starre an. Vor Aufregung beginnen meine Hände feucht zu werden. Isalie sitzt zappelnd neben mir und wartet darauf das ich ihn auseinander falte. Als ich es nicht tue, langt sie ungeduldig danach und liest ihn vor: 'Können wir uns nach der Schule auf dem Parkplatz treffen? Ich muss mit dir reden. Ich warte dort auf dich.' Mit einem Mal beginnt mein Herz zurasen und mir wird schlecht vor Aufregung. Eine einzige Frage schwirrt mir bis zum Ende der letzten Stunde im Kopf herum: Was will er mir mir bereden?
Als schließlich die Klingel zum Ende des Schultages läutet, packe ich meine Sachen in Windeseile zusammen, verabschiede mich von Isalie und sprinte förmlich auf den Parkplatz hinaus. Als ich angekommen bin bleibe ich stehen und blicke mich nach Lio um, doch allem Anschein ist er noch nicht da. Ich setze mich auf eine Bank neben dem Parkplatz, auf der ich sowohl den Platz als auch den Schuleingang im Blick habe und warte. Nach zehn Minuten ist er immer noch nicht aufgetaucht, deswegen werde ich langsam unruhig. Was, wenn er mir nur einen Streich spielen wollte...
Als er fünf Minuten noch immer nicht auftaucht, bin ich drauf und dran nach Hause zu gehen. Genau in dem Augenblick wird die Tür aufgerissen. Lio, der scheinbar außer Puste ist, tritt er ins Freie und muss prompt die Augen schließen, da er von einem Sonnenstrahl geblendet wird. Während er mit großen, eiligen Schritten auf den Parkplatz zu geht, blickt er sich um und bleibt wie angewurzelt einige Meter vor der Bank, auf der ich sitze, stehen, als er mich entdeckt. Vermutlich hätte ich zu ihm rüber gehen oder wenigstens eine Hand zur Begrüßung heben müssen, doch ich bin zu sehr von seinem Anblick gefesselt, als dass ich mich hätte bewegen können. Mein Puls rast vor sich ihn, als er sich langsam in Bewegung setzt und auf mich zukommt. Wie in Trance erhebe ich mich und gehe ihm entgegen. „Hi“, hauche ich, als er schließlich vor mir steht. „Hi“, flüstert er ebenfalls, vermutlich um das Zittern in seiner Stimme zu verbergen, was ihm allerdings nur teilweise gelingt. Er räuspert sich und fragt mit rauer Stimme: „Wollen wir ein Eis essen gehen?“ Ich nicke nur, da ich mir sicher bin, keinen vernünftigen Satz raus bringen zu können. Es fällt mir schwer den Blick von seinem Gesicht zu lösen. Einmal mehr fällt mir die große Ähnlichkeit mit dem Schauspieler Ian Somerhalder, der meine Lieblingsfigur aus der Serie 'The Vampire Diraries' verkörpert, auf. Mit seinen tief schwarzen Haaren und den, im starken Kontrast dazu stehenden hellblauen Augen, könnte er glatt als sein Sohn durchgehen. Auf dem Weg zum Eisladen tauen wir langsam, aber sicher auf und erzählen uns allerhand Geschichten aus unserer Kindheit oder der letzten Klassenfahrt. Wir machen erst eine Pause mit dem erzählen, als wir vor der Eistheke stehen und jeweils eine Kugel Eis bestellen. Als ich einen Euro aus meinen Taschen heraus krame, sagt Lio verlegen lächelnd: „Ich lade dich ein“, und gibt dem Eisverkäufer zwei Euro. „Danke“, murmle ich, jetzt ebenfalls verlegen.
Während wir uns auf den Heimweg machen, glücklicher Weise haben wir den gleichen Weg, erzählt er mir mit umfangreichen Bewegungen, wie sein Vater und er beim Angeln, als er fünf war, einen riesigen Fisch gefangen hatten. Dabei löst sich seine Eiskugel von der Waffel und fliegt im direktem Bogen gegen mein T-Shirt. Einen Moment starren wir verdutzt auf die Kugel, die eine klebrige Spur Kirscheis hinter sich herzieht, als sie allmählich dem Gesetz der Schwerkraft folgt und schließlich auf den Boden klatscht. Ein paar Sekunden später brechen wir in schallendes Gelächter aus und es dauert eine Weile bis wir uns wieder beruhigen. Als ich hoch und in Lio's Augen blicke, habe ich das Gefühl alles um mich herum zu vergessen. Auch die Zeit scheint es nicht mehr zugeben. Es gibt nur ihn und mich, sonst nichts. Mein Herzschlag, der schon die ganze Zeit sehr hoch ist, beschleunigt sich nochmal um ein vielfaches und meine Knie fühlen sich an wie noch zu flüssiger Wackelpudding, sodass ich schon befürchte, dass sie drohen einzuknicken. Doch es passiert nicht. Als ich ihn mir genauer betrachte, fallen mir die nervösen Flecken auf seinen Wangen auf. Und auch seine zitternden Hände, mit denen er mir zaghaft ein paar braune Haarsträhnen hinters Ohr streicht, deuten darauf hin, dass ihn die Situation genauso wenig kalt lässt wie mich. Er umfasst mein Gesicht und mustert es, als wolle er es für alle Zeit in sein Gedächtnis einbrennen. Bis zuletzt sich sein Blick auf meine Lippen heftet. Schließlich halte ich es nicht mehr aus, werfe meine Schüchternheit über Bord und ziehe ihn zu mir runter.
Ich schließe meine Augen. Die Berührung unserer Lippen löst eine Welle von kleinen Explosionen in meinem Körper aus. Mir wird schwindelig, gleichzeitig erfasst mich eine brennende Hitze und das Gefühl als würde der Boden unter mir nachgeben. Die Welt scheint sich aufzulösen und es gibt nur noch uns. Als wir beide keine Luft mehr bekommen, lösen wir uns keuchend von einander. Mit geröteten Wangen, schauen wir uns in die Augen und wieder scheint es, als wären wir völlig allein auf der Welt, als sich auf einmal jemand räuspert. Verwirrt schaue ich hinter Lio, doch da steht niemand. „Es war ja ein ganz schöner Kuss, das muss ich zu geben, aber muss es zwingend vor meinem Fenster passieren?“,sagt da eine Stimme hinter mir. Erschrocken drehe ich mich um. Nathalia Rosenberg, eine alte Freundin meiner Mutter, sieht uns schmunzelt, mit den Ellbogen auf den Fenstersims gestützt, an. „Oh. Hallo Frau Rosenberg“, murmle ich verlegen. Lio dagegen hat sich schon wieder gefasst: „Guten Tag, Frau Rosenberg. Ich verspreche ihnen, dass nächste mal suchen wir uns ein anderes Fenster.“ Bei seinen Worten laufe ich noch röter an, als ich sowieso schon bin, wenn es überhaupt möglich ist. „Das freut mich zu hören.“ „Okay. Wir müssen auch weiter. Ich wünsche ihnen noch einen schönen Nachmittag.“ Im nächsten Moment hat er schon meine Hand geschnappt und zieht mich weiter. Als wir die nächste Hausecke hinter uns gelassen hatten, brechen wir in lautes Kichern aus.