Wir haben es geschafft. Der Tod hat endgültig ausgedient. In dieser Welt ist niemand mehr dazu gezwungen, zu sterben oder unter Schmerzen zu leiden. Das ewige Dasein ist endlich erreicht worden.
Geflutet hat diese Nachricht die Medienwelt. Kurz darauf ist sie tausendfach in den Gedanken und Gesprächen der Öffentlichkeit gestrandet. Die gesamte Welt hat kein anderes Thema mehr als dieses eine gekannt. Sie alle sind so erleichtert gewesen - von nun an muss niemand auch nur einen Gedanken mehr an sein eigenes Ende, oder den Tag, an dem es letztendlich eintreten wird, verschwenden
.
Das ewige Leben hat in einer winzigen Spritze gesteckt und ist einfach in den Oberarm injiziert worden, als wäre es eine banale Impfung. Nur mit dem Unterschied, dass diese nicht dazu da gewesen, Infektionen vorzubeugen, sondern der Sterblichkeit ein Ende zu setzen. Die Regierung hat die Kosten für diesen “Impfstoff” restlos übernommen. Länder, die sich dieses teure Medikament nicht haben leisten können, sind einfach außen vor gelassen worden. Bis zu diesem Tag ist nicht bekannt, was mit den weiterhin “Infizierten” - wie Viele sie später genannt haben, als wäre Sterblichkeit zu einer Krankheit mutiert - geschehen ist. Sie sind einfach spurlos verschwunden, als hätte sie der Erdboden über Nacht verschlungen. Milliarden von Menschen sind einfach weg gewesen. Vermutlich wären wir mit ihnen einfach zu viele auf dieser Welt geworden.
Und genau wegen dieser drohenden Überbevölkerung haben sie uns zeitgleich mit dieser Impfung unser ureigenstes Recht auf Fortpflanzung genommen. Denn wenn niemand mehr geht, darf im Umkehrschluss auch niemand mehr dazu kommen; so einfach haben sie sich das vorgestellt. Und alle, die sich geweigert haben auf diese Weise dem Allgemeinwohl zu dienen, sind ebenfalls nie wieder gesehen worden. Vermutlich ist es ihnen am Ende genauso ergangen wie den “Infizierten”.
Unsere Welt steht still. Die Schulen sind in Flammen aufgegangen, da es niemanden mehr gibt, der noch unterrichtet werden müsste. Auch sämtliche Bestattungsinstitute sich restlos ausgestorben, da sie nun keinen Platz mehr in dieser Gesellschaft haben. Friedhöfe sind dem Erdboden gleich gemacht und anderweitig genutzt worden. Der Respekt vor den Toten ist unwiederbringlich gestorben. Die Leichen sind allesamt eingeäschert worden, um keine Erinnerungen an sterbliche Zeiten mehr zurücklasse zu können.
So vieles hat sich verändert, und doch ist alles letztendlich gleich geblieben. Es herrscht vollkommener Stillstand. Kein einziger Gedanke bringt mehr neue Ideen hervor, da alle Menschen denken, wie sie es schon taten, als sie noch sterblich gewesen waren. Fortschritt ist ein Fremdwort geworden, dessen Bedeutung keine Seele mehr zu kennen scheint. Alles verläuft in seinen üblichen Bahnen, die bereits viel zu tief in den Köpfen der Menschen verankert sind. Auch kann kein Andersdenkender mehr kommen, um uns aus diesem elenden Alltagsmorast zu befreien; denn keine neuen Menschen kommen mehr zur Welt und alle, die jemals abseits der breiten Masse gedacht haben, haben diese Gedanken aufgegeben und und sich dem Gleichsinn gefügt. Für solche Ärgernisse ist das Leben doch viel zu lang.
Somit besteht das ewige Leben aus immer gleichen Abläufen, immer gleichen Tagen und den immer gleichen Menschen, die niemals etwas an ihrer Situation ändern, da sie nicht weit genug denken, um die gravierenden Fehler in ihrer Gesamtsituation zu erkennen. Also sieht man nur bekannte Gesichter, wohin man auch geht; es gibt keine Abwechslung mehr. Nichts ist mehr fremd und nichts Neues kann mehr entdeckt werden. Das ewige Leben ist öde und deprimierend. Selbst wenn man es sich nehmen wollte, da man diese Leere an Neuem nicht mehr erträgt, könnte man es nicht, da der Tod als Erlösung nicht mehr infrage kommt. Man muss weiter machen. Eine andere Wahl hat man nicht mehr.
Ohne das Sterben als Druckmittel haben auch Morde und Kriege aufgehört zu existieren, da gegenseitiges Töten und Verletzen keine Wirkung mehr erzielt und im Endeffekt nichtig geworden ist. Auch die Kriminalitätsrate an sich ist stark gesunken, da die Menschen keinen Antrieb mehr haben und somit alles beim Alten belassen. Es herrscht Frieden; doch auf diese Weise hat ihn sicher niemand gewollt.
Die Menschen sind untereinander nur noch lose verbunden. Liebe, Familie und Freundschaft stehen nun längst nicht mehr an erster Stelle, sondern sind nur noch nebensächlich und den einsamen Bedürfnissen des Einzelnen untergeordnet. Jeder bleibt für sich, die Gesellschaft hat keinen allumfassenden Zweck mehr.
So ist auch die Nächstenliebe belanglos geworden. Kranke oder auch bedürftige Menschen, die wohl bis in alle Ewigkeit dieses elende Schicksal ertragen müssen, werden nicht mehr unterstützt und gepflegt, wie in der Zeit, als die Welt noch gütig gewesen ist. Nein, sie werden einfach aussortiert, als wären sie der Abfall der Menschheit. Ganz recht: Bei der Injektion hat nie jemand auch nur einen Gedanken an die so vielfältigen Krankheiten verschwendet, die das menschliche Dasein so sehr beeinträchtigen und auch noch während des todlosen Lebens weiter in den Körpern der Menschen wuchern. Und althergebrachte Heilungsmethoden sind aus der üblichen Sorglosigkeit abgeschafft worden und schlussendlich einfach in Vergessenheit geraten. Das Wissen, das Generation um Generation angesammelt und immer weitergegeben hat, ist einfach aus unseren Köpfen verschwunden. Also werden die Kranken, als einzige noch verbleibende Alternative, einfach von dieser zusammenhanglosen Gesellschaft abgesondert. Denn restlos beseitigen, um dass sie keine Gefahr mehr für das Allgemeinwohl darstellen, kann man sie durch ihre Unsterblichkeit nicht.
Noch heute erinnere ich mich manchmal an die alten Geschichten von Vampiren, die mir schon von Kindesbeinen an erzählt worden sind. Die Menschen verstehen sie als Kreaturen, denen die Qual des ewigen Lebens vermacht worden ist und die doch keinen anderen Lebenssinn sehen, als andere Leben zu nehmen. Unschuldige dienen ihnen als Nahrung, obwohl sie doch nicht sterben können. Vampire versuchen ihr Leid zu lindern. Wir haben uns als Sterbliche vor ihnen gefürchtet und sind doch auf irgendeine seltsame Art von ihnen fasziniert gewesen; vermutlich, weil jeder theoretisch einer von ihnen werden könnte, ungeachtet ihrer als so grausam beschriebenen Natur.
Wir sind wie sie. Nur mit dem Unterschied, dass wir real, und keine bloßen Erfindungen menschlicher Verstände sind, deren Geschichten sich über die Jahre hinweg erhalten haben. Und niemand ist mehr übrig, der diese Welt voller Parasiten wieder ins Gleichgewicht bringen könnte.