Gelangweilt stand der junge Mann neben dem offenen Kamin und ließ den Blick über die anwesenden Menschen gleiten.
Es war der zweite Advent und seine Schwester hatte ein paar ihrer Freunde zu einem kleinen Essen eingeladen. Sie und ihre beiden Mitbewohner hatten sich wirklich Mühe gegeben, das Haus, in dem sie zusammen in einer WG lebten, festlich zu schmücken. Bunte Lichterketten an den Fenstern und Girlanden an den Rahmen der Türen sowie Mistelzweige, einer, der von der Decke neben dem Kamin hing, und ein weiterer im Flur. Der lange Tisch in der Wohnstube war festlich gedeckt und aus der Küche roch es nach Essen.
Alex‘ Magen begann zu knurren.
»Futter ist gleich fertig«, vernahm er die belustigte Stimme seiner Schwester neben sich, »hast du wieder nichts gegessen heute? Wirklich, Alex, das solltest du dringend ändern.«
Der Angesprochene seufzte leise und wandte sich der jungen Frau an seiner Seite zu, deren rotes Haar im Schein des Feuers zu brennen schien.
»Ich werde mich bessern, versprochen.«
»Gut! Ich möchte mir nämlich nicht immer Sorgen um meinen großen Bruder machen müssen.«
»Musst du nicht, Willow. Ich bin alt genug, um auf mich selbst aufzupassen.« Alex trank das Glas Glühwein in seiner Hand mit einem Zug aus und wandte seine Aufmerksamkeit wieder den anderen Gästen zu.
So bemerkte er nicht, dass seine Schwester eine Augenbraue anhob und ihn kopfschüttelnd musterte. »Das sehe ich.«
Alex schmunzelte, erwiderte darauf aber nichts.
Während Willow wieder in der Küche verschwand, beobachtete ihr Bruder weiter die anderen Gäste. Außer Luca und Derek, den Mitbewohnern seiner Schwester, kannte der Dunkelhaarige nur noch Lucas Eltern. Die anderen waren Freunde der drei, mit denen er, Alex, nichts zu tun hatte. Womöglich war ihm der eine oder andere schon mal hier über den Weg gelaufen, aber er konnte sich beim besten Willen nicht erinnern. Es war ihm eigentlich auch egal. Alex hielt nicht viel von anderen Menschen, zu oft war er enttäuscht worden. So gab es nur wenige, die er für würdig befand, ihn näher kennenlernen zu dürfen. Viele hielten ihn deswegen für arrogant, aber das war Alex nicht. Er wollte nur nicht mehr verletzt werden und versuchte von vornherein alles auszuschließen, was das verursachen könnte.
Sein Blick wanderte zu Luca, der mit einem anderen Mann in der Nähe der Terrassentüre stand und sich angeregt unterhielt. Dieser erregte auf seltsame Weise Alex' Aufmerksamkeit. Er schätzte ihn ungefähr auf sein Alter, vielleicht ein wenig älter - Ende zwanzig bis Anfang dreißig. Der Fremde hatte blondes Haar, unglaublich attraktive Gesichtszüge und wirkte durchtrainiert. Als er nun den Blick hob und in Alex' Richtung sah, konnte dieser erkennen, dass der Andere faszinierende blaue Augen hatte.
Einen Moment stand der dunkelhaarige Mann da und versank in diesen wie in einem tiefen See. Alles um ihn herum nahm er nur noch wie durch einen Schleier wahr. Es schien nur noch diesen Fremden zu geben.
Erst als der Andere den Blickkontakt unterbrach, landete Alex wieder in der Realität und ihm wurde bewusst, dass er sein Gegenüber regelrecht angestarrt haben musste. Hitze schoss dem jungen Mann in die Wangen. Was war das denn gewesen? Er war überhaupt nicht der Typ, der andere Menschen schamlos begaffte, selbst wenn er Interesse an jemandem hatte.
Verstohlen schaute er noch einmal zu dem Fremden, aber der schien wieder ganz in seine Unterhaltung mit Luca vertieft zu sein.
Alex atmete tief durch und ging in die Küche, um sich ein neues Glas Glühwein zu holen.
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Nach dem Essen stand der junge Mann auf, holte sich seine Jacke und den Schal von der Garderobe im Flur und ging hinaus auf die Terrasse. Er zündete sich eine Zigarette an und inhalierte den Rauch mit einem zufriedenen Seufzen. Eigentlich rauchte er kaum noch, aber ab und zu war ihm schon mal danach. Ansonsten zog er sich eher mal einen Joint rein, was er hier in der Gesellschaft allerdings schlecht machen konnte. Das tat er nur, wenn er allein war oder bei seinen "Kifferfreunden", wie Willow sie nannte. Und auch nur, wenn ihn mal wieder alles ankotzte.
Alex legte den Kopf in den Nacken und sah hinauf in den sternenklaren Himmel, während er den Qualm in kleinen Ringen ausatmete. Es war bitterkalt hier draußen und instinktiv zog der junge Mann die Jacke enger um sich. Trotzdem tat die frische Luft ihm gut. Er konnte das Stimmengewirr und Lachen der andere Gäste gedämpft durch die geschlossenen Scheiben hören. Es war eine wirklich nette Runde, die da versammelt war, aber Alex war es gerade ein wenig zu viel. Zum Glück hatte er hier die Möglichkeit, sich mal für ein paar Minuten zurückzuziehen. Da nahm er die Kälte gerne in Kauf.
Als die Stimmen einen kurzen Moment lauter wurden, wusste er, dass wohl noch jemand dieses Bedürfnis gehabt hatte und wie zur Bestätigung hörte er das leise Klicken, als die Tür ins Schloss gezogen wurde. Innerlich seufzte Alex.
Das war es dann wohl mit der Einsamkeit, fuhr es ihm durch den Kopf und ohne sich umzudrehen fragte er: »Auch auf der Suche nach etwas Ruhe?«
Schritte näherten sich ihm und dann vernahm er eine dunkle, fast sanfte Stimme direkt an seinem Ohr. »Ich hoffe, ich störe dich nicht. Mir war das gerade etwas zu viel da drinnen.«
Alex musste schlucken und ein heißer Schauer lief über seinen Körper. Die Stimme gehörte zu dem blonden Mann, dessen Namen er immer noch nicht kannte, der aber während des Essens immer wieder den Blickkontakt zu ihm gesucht hatte und der ihn auf irgendeine Art und Weise faszinierte.
Der Dunkelhaarige schüttelte kaum merklich den Kopf. »Nein! Du störst mich überhaupt nicht. Außerdem kann ich niemandem verbieten, hier rauszukommen.«
Der Andere lachte leise und trat einen Schritt zurück. »Das kannst du nicht, nein«, er hielt einen Moment inne, dann fuhr er fort, »ich muss mich für meine Manieren entschuldigen. Ich quatsch dich einfach so von der Seite an, dabei hab ich mich nicht einmal vorgestellt. Irgendwie hat sich das bisher noch nicht ergeben. Aber das lässt sich ja sofort ändern. Ich bin Hiram.«
Langsam drehte der junge Mann sich um und ergriff mit einem Schmunzeln die Hand des Blonden. »Freut mich dich kennenzulernen. Ich bin Alex, Alex Bennett.«
Hirams Berührung fühlte sich wie ein leichter elektrischer Schlag an und instinktiv zog der junge Mann die Hand zurück. Er sah seinem Gegenüber irritiert in die Augen und rieb sich die immer noch kribbelnden Finger. »Nun …«
»Nun?«, wiederholte Hiram und ein Lächeln umspielte seine sinnlichen Lippen.
Tief durchatmend fuhr Alex fort: »Da uns beiden das Ganze hier ja anscheinend zu viel ist, warum verdrücken wir uns nicht einfach … Gehen uns woanders amüsieren?«
»Wow, du bist ziemlich direkt. Und woran hattest du gedacht?«
Mit den Schultern zuckend, erwiderte der Dunkelhaarige: »Es gibt genug Clubs, die geöffnet sind. Ich kenn da schon zwei, drei, wo wir mal vorbeischauen könnten. Und ansonsten …«
Hiram legte den Kopf leicht schief. »Ja?«
»Ansonsten … nehme ich dich mit zu mir nach Hause.« Alex spürte, wie er unter dem Blick des Anderen errötete und fügte hinzu: »Ohne Hintergedanken natürlich. Auf ein Bier oder so. Bisschen quatschen und sich vielleicht … besser kennenlernen. Ganz unverbindlich.«
Verdammt! Was redete er da eigentlich? Er kannte diesen Kerl gerade mal seit … zwei Stunden – wobei kennen wohl maßlos übertrieben war – wusste seit ein paar Minuten dessen Namen und wollte ihn schon zu sich nach Hause entführen? Was musste der Typ von ihm denken?
Langsam drehte er sich um und murmelte: »Vergiss den Schwachsinn, den ich da gerade verzapft habe. Ich weiß wirklich nicht, welcher Teufel mich da geritten hat. Eigentlich nehme ich nicht irgendwelche Fremden mit in meine Wohnung. Ich hoffe, du denkst jetzt nicht sonst was von mir.«
»Aber mitnichten. Mach dir mal keinen Kopf. So schnell schockiert mich nichts. Und ich mache mir auch deswegen kein falsches Bild. Außerdem sind wir doch beide erwachsen.« Hiram leckte sich über die Lippen und trat dicht hinter Alex. Dieser erschauderte, als er den Atem des Anderen in seinem Nacken spürte.
Einen Moment lang schwieg der junge Mann, dann erwiderte er: »Umso besser. Ich möchte nur keinen falschen Eindruck erwecken. Ich weiß nicht … Ich mache so was normalerweise nicht. Erwachsen oder nicht.«
Er war bestimmt kein Kind von Traurigkeit, aber Fremde nahm er tatsächlich nicht mit zu sich nach Hause … eigentlich.
»Das sagtest du bereits.« Hiram kicherte leise und zog Alex’ Schal, den dieser nur locker um die Schultern gelegt hatte, ein Stück herunter und legte damit den Hals des jungen Mannes frei. Dieser versteifte sich einen Augenblick. Was sollte das jetzt werden? Was hatte der Andere vor? Eine endlose Minute lang passierte gar nichts. Dann spürte Alex Hirams Lippen auf seinem Nacken und eine Gänsehaut breitete sich auf seinem Körper aus. Für einen Moment schloss der junge Hexer die Augen und genoss das sanfte Knabbern des blonden Mannes an seiner Haut. Dann allerdings durchzuckte ihn ein kurzer, aber heftiger, Schmerz. Alex machte reflexartig einen Schritt nach vorne und drehte sich um.
»Was wird …«, begann er, verstummte aber sofort wieder, als er das rote Glimmen in den eigentlich blauen Augen Hirams sah.
Instinktiv wich der Dunkelhaarige zurück und starrte fassungslos in das Gesicht seines Gegenübers, dessen Lippen nun ein breites Lächeln umspielte und so seine spitzen Fänge offenbarte.
Alex keuchte auf. »Das glaub ich jetzt nicht. Du bist ein … Vampir?!«
Hirams Grinsen wurde breiter. »Wie du unschwer erkennen kannst … Bist du jetzt geschockt?«
Der junge Mann versuchte ruhig zu atmen und seine Gedanken zu sortieren. Eigentlich brachte ihn so schnell nichts aus der Ruhe. Er selbst entstammte schließlich einer Familie von Hexen und er kannte auch einige andere Wesen, die man wohl gemeinhin als übernatürlich bezeichnen würde. Vampiren war er allerdings noch nicht so oft begegnet.
Es gab einen, mit dem Alex eine tiefe Freundschaft verband und der eine wichtige Rolle in seinem Leben spielte – auch wenn der junge Mann diesen schon eine Weile nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte. Ansonsten waren Alex’ Erfahrungen eher negativer Natur gewesen.
Einem Unsterblichen war er sogar tunlichst aus dem Weg gegangen. Ein rücksichtsloses Monster war dieser gewesen und man hatte ihn auch ziemlich schnell aus dem Verkehr gezogen. Wie hätte man auf Dauer der Öffentlichkeit auch unzählige Opfer erklären sollen, die mit zerfetzter Kehle und völlig blutleer gefunden worden waren? So hatten die entsprechenden Stellen sich schnellstmöglich um das Problem gekümmert und den Vampir außer Gefecht gesetzt.
Das andere Mal, dass Blutsauger in seinem Leben eine Rolle gespielt hatten, war eine besonders schmerzhafte Erinnerung, die den Tod seiner Eltern betraf. Allerdings wollte der junge Mann, trotz seines Misstrauens diesen Geschöpfen gegenüber, nicht alle über einen Kamm scheren, denn nicht jeder Vampir war ein Monster.
Außerdem musste Alex sich eingestehen, dass im Fall von Hiram, seine Neugier stärker war als sein Argwohn. Der Reiz, den der Unsterbliche auf ihn ausübte, war schon außergewöhnlich.
Er sah den Vampir fest an.
»Ich bin etwas perplex, schließlich trifft man nicht jeden Tag auf … deinesgleichen. Aber schockiert bin ich nicht, nein.«
»Gut«, erwiderte Hiram, machte einen Schritt auf Alex zu und strich ihm über die Wange, »das wäre auch sehr schade. Wir können nämlich eine Menge Spaß haben, wenn du willst.«
»I-ich denke … Ja, sicher, das können wir bestimmt, aber …«
Der Vampir trat noch näher an Alex heran, legte einen Finger unter dessen Kinn und hob es an, zwang ihn so, ihn anzusehen. »Aber?«
Der junge Hexer hielt dem Blick stand, entzog sich aber dem Griff des Unsterblichen. »Bestimmt nicht hier. Und ich würde gerne erst noch … na ja, ich steh nicht so drauf, mit …«
»Mit Fremden ins Bett zu springen. Ich weiß. Du wiederholst dich, mein Freund«, unterbrach Hiram ihn mit einem leisen Lachen, »wir können gerne noch ein wenig durch die Clubs ziehen. Es ist ja noch nicht mal Mitternacht. Oder wir gehen zu dir und … reden noch ein bisschen. Dann bin ich nicht mehr fremd. Die Entscheidung liegt bei dir.«
Alex schwieg einen Augenblick und überlegte. Das hier konnte ganz harmlos verlaufen oder aber ein sehr gefährliches Spiel werden. Der Dunkelhaarige war sich der Gefahr sehr wohl bewusst, aber der Reiz war halt extrem groß. Und Alex war ja auch nicht wehrlos.