Alex musterte den Vampir grinsend von oben bis unten. »Ich wäre ein Idiot, wenn ich dieses Angebot ausschlagen würde. Wir sollten wieder reingehen und uns verabschieden. Und dann werden wir sehen, was wir tun.«
»Einverstanden! Aber ich muss vorher die Wunde an deinem Hals versorgen.«
»Du hast mich also tatsächlich gebissen …« Alex fasste an die Stelle in seinem Nacken.
»Na ja, sagen wir, ich hab dich … angeritzt. Nichts Dramatisches. Hätte ich dich gebissen, sähe die Situation hier etwas anders aus. Die wenigsten meiner Opfer haben das bisher überlebt. Und jetzt, lass mich machen.« Damit zog Hiram Alex an sich und leckte kurz über die kleine Wunde, um sie zu verschließen.
»Wow … du bist wirklich ehrlich. Und warum stehe ich noch hier und lebe? Ich könnte dich verraten.«
Das Knurren an seinem Ohr ließ den jungen Mann erschaudern.
»Ich weiß es nicht, aber du solltest dein Glück nicht zu sehr herausfordern. Und nun, lass uns unseren Plan in die Tat umsetzen.«
Tatsächlich konnte der Unsterbliche sich selbst keinen Reim darauf machen, warum er gegenüber Alex so vorsichtig, fast sanft agierte. Eigentlich war Hiram immer ein eiskalter Killer gewesen, der seine Opfer jagte und erlegte. Ohne große Gefühlsregung, wie ein Raubtier eben. Daran hatte sich in den 690 Jahren seines Daseins nicht viel geändert. Irgendetwas an dem Jungen war anders. Seine Erscheinung faszinierte ihn, seine Ausstrahlung war unheimlich stark und sein Duft betörte den Vampir auf eine selten dagewesene Art und Weise – in dieser speziellen Kombination eigentlich noch nie. Und dann war da noch Alex’ Blut … Die wenigen Tropfen, die Hiram gekostet hatte, hatten den Unsterblichen berauscht, wie er es noch nicht erlebt hatte. Er konnte eine … Macht schmecken, die von dem jungen Mann ausging, aber er konnte nicht sagen, was es war.
»Kommst du jetzt?«
Alex‘ sanfte Stimme riss Hiram aus seinen Gedanken. Schlagartig wurde ihm bewusst, dass er dastand und den anderen Mann anstarrte, der schon ungeduldig an der Terrassentüre wartete.
Reiß dich mal zusammen, rief der Unsterbliche sich selbst zur Ordnung.
Er straffte die Schultern und erwiderte: »Ja, sicher. Worauf wartest du? Geh schon rein. Oder müssen wir da zusammen aufschlagen?«
Grinsend, ohne ein weiteres Wort öffnete Alex daraufhin die schwere Glastür und verschwand nach drinnen. Hiram blieb noch einen Augenblick in der Kälte stehen, dann folgte er dem Anderen.
Nachdem Alex das Haus wieder betreten hatte, wurde er erst einmal von seiner Schwester in Beschlag genommen. Diese hatte sehr wohl mitbekommen, dass Hiram ihm gefolgt war und hatte sich berechtigte Sorgen gemacht. Der Vampir war nicht gerade dafür bekannt, sehr rücksichtsvoll zu sein. Vor allem dann nicht, wenn er etwas wollte. Und dass er zumindest Interesse an Alex hatte, war Willow nicht entgangen. Ihr Bruder war zwar alt genug, um zu wissen, was er tat, aber ob er sich auch darüber im Klaren war, auf was er sich da gegebenenfalls einließ, da war die junge Hexe sich nicht sicher. Sie schob Alex Richtung Sofa und bat ihn, sich zu setzen.
Der junge Mann tat ihr den Gefallen und schaute sie fragend an. »Was ist los, Schwesterherz?«
Sich neben ihn setzend, antwortete Willow: »Du warst doch mit Hiram, also mit Lord Sandringham, draußen. Wollte er was von dir?«
Amüsiert hob Alex eine Braue. »So so, ein Lord ist er also … Das wird ja immer besser.«
»Hat er das nicht gesagt?«
»Nein? Wir waren nicht so förmlich, Schwesterchen.« Mit einem Zucken um die Mundwinkel beobachtete Alex, wie Willow blass um die Nase wurde.
»Was … meinst du damit? Ihr habt doch nicht …?«
»Wir haben was? Eine schnelle Nummer in den Büschen geschoben?« Der junge Mann musterte seine Schwester und schüttelte dann den Kopf. »Ich wüsste manchmal gerne, was du von mir denkst. Ich bin bestimmt kein Unschuldslamm, aber ich vögel nicht mit jedem rum und schon gar nicht, wenn ich die Person gerade mal ein paar Minuten kenne. Außerdem ist es wohl ein wenig zu kalt draußen für so etwas. Wir haben uns unterhalten, Willow, mehr nicht.«
Die junge Frau schnappte nach Luft und sah ihren Bruder entrüstet an: »Das habe ich nicht gesagt, dass ihr gevögelt habt. Ich habe mir nur Sorgen gemacht, weil er …«
»Weil er was?« Unbewusst rieb Alex sich über die Stelle, wo Hiram seine Haut angeritzt hatte.
Willow folgte seiner Bewegung mit den Augen und ohne Vorwarnung packte sie die Hand ihres Bruders, zog sie weg und schob den Schal, den er genau wie seine Jacke noch immer trug, ein Stück zur Seite. Es war zwar nicht mehr als eine leichte Rötung der Haut zu sehen, aber das reichte Willow, um ihren Verdacht zu untermauern.
»Was ist das da? Hat er dich etwa gebissen?«
Alex befreite sich aus dem Griff seiner Schwester und lachte leise. »Was ist er? Ein tollwütiger Hund? Du solltest nicht so viele Horrorfilme schauen.«
Mit einem unheilvollen Funkeln in den Augen antwortete die junge Hexe: »Du weißt genau, wovon ich rede. Ich weiß, was er ist! Also, noch mal: Hat. Er. Dich. Gebissen?«
»Nein, hat er nicht«, log ihr Bruder, ohne eine Miene zu verziehen. Obwohl, es ja nicht mal eine Lüge war, denn gebissen hatte Hiram ihn ja nicht. Aber Alex wollte seine Schwester nicht noch mehr beunruhigen. »Zufrieden?«
Willow musterte ihn misstrauisch. So wirklich schien sie ihm nicht zu glauben, aber dann nickte sie schließlich.
»Ich bin schon groß, Willow, ich brauche keinen Babysitter, okay? Ich weiß, du machst dir Sorgen, aber das musst du nicht.« Während er das sagte, wanderte sein Blick durch den Raum und blieb an Hiram hängen, der, auch wieder aus der Kälte zurück, an dem großen gemauerten Kamin lehnte und ihn schmunzelnd ansah. Aufgrund seines überdurchschnittlich guten Gehörs hatte er jedes Wort mitbekommen. Er zwinkerte Alex zu und wandte sich dann ab, denn Willow hatte sich umgedreht, um zu schauen, wo ihr Bruder hinstarrte.
Ein böser Blick traf den Vampir, was diesen noch mehr zum Grinsen brachte.
»Vielleicht hast du recht. Vielleicht sollte ich mir tatsächlich keine Gedanken machen. Du scheinst ja genau zu wissen, was du willst. Dann …«, sie erhob sich langsam, »will ich euch mal nicht im Weg stehen. Aber sollte er dir wehtun, dann wird er sein blaues Wunder erleben. Sag ihm das.« Damit drehte Willow sich um und ließ Alex alleine zurück. Der schaute ihr noch einen Moment nach, bevor er sich ebenfalls erhob und langsam in Richtung der Haustüre schlenderte.
Als er an Hiram vorbeiging, raunte er ihm ein »Ich geh dann schon mal vor« zu, verabschiedete sich noch brav von Derek, Luca und dessen Eltern und verließ die Feier.
Die Kälte traf den jungen Mann wie ein Schlag ins Gesicht, als er die Haustür hinter sich ins Schloss zog. Es schien, als ob die Temperaturen in den letzten anderthalb Stunden noch gesunken waren. Den Kragen seiner Jacke hochschlagend ging Alex langsam die Straße hinunter und blieb ein ganzes Stück entfernt vom Haus stehen, in der Hoffnung, dass Hiram ihn nicht zu lange hier würde warten lassen.
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Lord Sandringham leerte derweil sein Glas Rotwein und ging hinüber zu Luca, der mit seinen Eltern in der Nähe der Terrassentüre stand. Ohne sich darum zu kümmern, dass Liam Summerson gerade dabei war, den anderen beiden etwas zu erzählen, sagte Hiram zu seinem Neffen gewandt: »Ich werde mich langsam auf den Weg machen. Ich danke dir für die Einladung und den netten Abend.«
»Nichts zu danken. Soll ich dir ein Taxi rufen?«. Der blonde Jugendliche musterte seinen Onkel fragend.
»Nein, nicht nötig. Ein paar Schritte durch die kalte Abendluft werden mir sicherlich nicht schaden. Sorge dafür, dass deine Mutter nachher gut nach Hause kommt«, erwiderte der Vampir und ignorierte das genervte Schnauben, das Liam angesichts dieser Äußerung von sich gab.
Es war kein Geheimnis, dass Lord Sandringham den Vater seines Neffen, Luca, nicht ausstehen konnte. Hiram hatte den dunkelblonden Schweden von Anfang an für nicht standesgemäß gehalten, da dieser nun einmal nicht zum adligen Kreis gehörte wie die Sandringhams und ließ ihn das bei jeder sich bietenden Gelegenheit spüren.
Ein Grinsen umspielte die Lippen des Vampirs, als Lucas Vater ihn anfunkelte und mit einem »Ich wünsche allerseits noch einen schönen Abend« drehte Hiram sich um und machte sich auf den Weg in Richtung der Garderobe, um seinen Mantel zu holen. Er hatte wieder die ganze Verachtung Liams auf sich gezogen und damit sein Ziel einmal mehr erreicht. Vielleicht würde diese Zecke irgendwann doch noch begreifen, dass sie nicht in diese Familie passte. Das jedenfalls hoffte Hiram. Der Vampir kicherte, schloss die Knöpfe seines Mantels und wandte sich zur Haustüre um, als sich eine Hand auf seinen Arm legte. Erstaunt hielt Hiram in seiner Bewegung inne. »Was hast du auf dem Herzen, Willow?«
Die junge Hexe machte einen Schritt nach vorne und blieb vor ihm stehen.
Ihre Blicke trafen sich, als sie antwortete: »Da ich mir sicher bin, dass mein Bruder draußen auf dich wartet, wollte ich dir eine kleine Warnung mit auf den Weg geben. Alex mag alt genug sein, seine Entscheidungen selbst zu treffen, aber wenn du ihm irgendetwas antust, gegen seinen Willen, dann wirst du das bereuen. Also überleg dir gut, was du machst.« Die grünen Augen der jungen Frau fixierten den Vampir. »Ich hoffe, du hast mich verstanden!«
Lord Sandringham hielt dem Blick Willows stand und schmunzelte. »Weißt du, mir zu drohen ist keine so gute Idee, meine Liebe, aber ich will es dir noch einmal nachsehen, weil du die beste Freundin meines Neffen bist. Ansonsten könntest du nämlich morgen deine Sachen packen und aus meinem Haus ausziehen. Ich weiß nicht, was ich dir getan habe und es interessiert mich auch nicht sonderlich, warum du mich so sehr verachtest, aber über eines sei dir gewiss: Ich werde von deinem Bruder mit Sicherheit nichts erwarten, was er nicht willens ist zu tun. Ich denke, dass er mir alles ganz freiwillig geben wird.« Ein spöttisches Lächeln machte sich auf Hirams Gesicht breit. »Und jetzt nimm die Finger von mir. Denn wie du schon richtig angemerkt hast, Alex wartet auf mich. Du möchtest doch nicht, dass er sich den Tod da draußen holt?!« Der Vampir löste die Hand der jungen Hexe von seinem Arm, zwinkerte ihr zu und ohne eine Antwort abzuwarten, öffnete er die Haustür und verschwand in die Nacht.
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Die schwere, eichene Tür anstarrend, die hinter dem Unsterblichen dumpf ins Schloss fiel, stand Willow noch einen Moment da, nicht wissend, was sie tun sollte. Der Gedanke, dass Hiram jetzt auf dem Weg zu ihrem Bruder war, machte sie krank. Und sie konnte auch in keiner Weise verstehen, was Alex ausgerechnet an einem Blutsauger zu finden schien, denn er wusste genauso gut wie sie, dass ihre Eltern durch die Hand eben dieser Wesen ums Leben gekommen waren. Dass es Vampire gewesen waren, die Sophie und Aaron Bennett, an zwei Stühle gekettet, angezündet und verbrannt hatten. Nur, weil sie einem alten Hexengeschlecht angehörten, welches die Vampire fürchteten.
Ihr Vater hatte noch nicht einmal über magische Fähigkeiten verfügt. Er war ein einfacher Mensch gewesen, der lediglich den Namen seiner Frau angenommen hatte und dadurch ebenfalls in den Fokus der Blutsauger gekommen war.
Der Magen der jungen Frau krampfte sich zusammen, als die Bilder jenes Tages wieder vor ihrem geistigen Auge erschienen. Sie war damals noch ein kleines Kind gewesen, aber sie hatte deutlich erkennen können, wer ihren Eltern das antat. Zum Glück hatte ihre Mutter sie geistesgegenwärtig mit einem Zauber gegen die Vampire abgeschirmt, sodass diese Willow nicht hatten wahrnehmen können.
Ihr Bruder war ihnen lediglich entkommen, weil er zum Zeitpunkt der Tat bei einem Freund gewesen war. Als Alex wieder nach Hause gekommen war, hatte er nur noch die verkohlten Leichen im Wohnzimmer und seine völlig verängstigte Schwester, die hinter der Gefriertruhe im Keller kauerte, vorgefunden.
Für einen Moment schloss Willow die Augen, atmete tief durch und drängte die aufsteigenden Tränen zurück. Nein, sie durfte nicht zulassen, dass die Erinnerung sie überwältigte. Ihre Schultern straffend drehte sie sich um und machte sich wieder auf den Weg ins Wohnzimmer.