Alex hatte sich nach seiner Dusche und einem leichten Frühstück wieder in sein Bett verzogen und wurde erst am nächsten Vormittag vom Klingeln seines Handys geweckt.
Brummend schaute der junge Mann auf das Display – Willow. Natürlich! Wie konnte es auch anders sein? Er verdrehte die Augen und warf das Smartphone neben sich auf die Bettdecke. Auf die Vorträge seiner Schwester hatte er jetzt so gar keine Lust. Also wartete er, bis das Gebimmel aufhörte und schaltete das Telefon anschließend aus. Er konnte Willow später immer noch anrufen oder ihr eine SMS schicken. Alex war bewusst, dass seine Schwester sich Gedanken, vielleicht sogar Sorgen machte, aber er mochte es nicht, wenn sie versuchte, sich in sein Leben einzumischen. Er hatte so viel Scheiße durch und alles irgendwie ohne Hilfe seiner Familie bewältigt.
Den einzigen Vorteil, den er genoss, war die Tatsache, dass er keine Miete zahlen musste.
Die Wohnung gehörte seiner Grandma und bis vor zwei Jahren hatte sie sich die mit ihrem Enkel geteilt. Doch dann hatte Emilia Bennett beschlossen, London den Rücken zu kehren und zurück in ihr Cottage zu ziehen, in der Nähe von Norwich. Da Alex jedoch nicht hatte mit ihr gehen wollen, überließ sie ihm die Wohnung und der junge Mann hatte sich, weil er es eigentlich hasste, alleine zu wohnen, seinen Kumpel Scott als Mitbewohner dazu geholt. Dass der jetzt mehr bei seiner Freundin als zu Hause war, war zu dem Zeitpunkt nicht abzusehen gewesen. Mittlerweile war Alex daran gewöhnt und genoss sogar, dass er die Wohnung für sich hatte.
Seufzend stand der Dunkelhaarige auf und schlurfte hinüber in das Badezimmer, um seine Morgentoilette zu erledigen. Irgendwie war er fürchterlich unmotiviert. Mit der Zahnbürste im Mund ging er in die Küche und setzte sich eine Kanne Kaffee auf. Den brauchte er jetzt dringend, um wach zu werden.
Nachdem er sich angezogen hatte, machte er sich mit seinem Laptop am Küchentisch breit und surfte ein wenig durch die sozialen Netzwerke. Nebenbei trank er seinen Kaffee und zwang sich, zwei Toasts zu essen, bevor er sein Handy wieder einschaltete und Willows Nummer wählte.
»Alex! Endlich! Wo zum Teufel steckst du? Ich habe mir Sorgen gemacht!«, keifte seine Schwester ihn an.
»Warum? Dafür gab und gibt es keinen Grund.«
»Natürlich! Ist dieses … Monster noch bei dir?«, Willows Stimme überschlug sich fast.
»Er ist kein Monster und nein, er ist nicht mehr hier. Schon lange nicht mehr. Zufrieden?«, Alex verdrehte die Augen.
»Sehr gut. Ich verstehe dich einfach nicht. Warum ausgerechnet er? Geht es dir wirklich gut?«
»Warum nicht er? Er ist sexy und ein verdammt guter Liebhaber. Und ja, es geht mir hervorragend.«
Für einen Moment herrschte Stille am anderen Ende.
»Hat es dir jetzt die Sprache verschlagen, Schwesterherz?«, hakte Alex schließlich nach.
»Nein! Ich kann nur nicht glauben, dass du und er … Aber wenigstens bist du in Ordnung«, war die leise Antwort.
»Na, was dachtest du denn, was wir getan hätten? Karten gespielt? Willow, es war ein One-Night-Stand und da hat man in der Regel Sex. So ist das.«
»Ja, ich weiß. Du kannst ja auch nicht ohne. Manchmal bist du eine richtige …« Willow verstummte.
Ihr Bruder seufzte innerlich. Er wusste, was seine Schwester ihm, mal wieder, an den Kopf hatte werfen wollen. Es war nicht das erste Mal, dass sie so etwas angedeutet hatte.
»Sag es ruhig. Für dich bin ich nichts weiter als eine männliche Schlampe. Aber mit deiner Meinung kann ich leben. Ich werde nicht zu Hause versauern, weil es nicht deiner Moralvorstellung entspricht, was ich tue. Wenn mir ein Kerl gefällt, dann nehme ich ihn eben mit. Das Gleiche gilt für Frauen, die Bock auf unverbindlichen Sex haben. Was du tust, ist deine Sache, aber rede mir bitte nicht in mein Leben rein. Solange ich nicht in einer festen Beziehung stecke, vögel ich mit wem ich will und wann ich will. Ist das jetzt angekommen?«
Es dauerte einen schier endlosen Moment, bis Willow antwortete. »Ja, ist es. Ich werde mich zukünftig raushalten, keine Sorge. Und jetzt muss ich … Ich hab noch zu tun. Bis dann.«
»Ja, bis dann.«
Der junge Mann hatte den Satz kaum zu Ende gesprochen, da hatte seine Schwester schon aufgelegt. Alex rieb sich über das Gesicht und knallte das Handy unsanft auf die Tischplatte. Er hatte Willow nicht verletzen wollen, aber so ging das einfach nicht mehr. Sorgen hin oder her, aber diese ständigen Versuche, ihn zu bevormunden, mussten aufhören. Und so unsensibel seine Ansage in den Augen seiner Schwester auch gewesen sein mochte, er hoffte, dass seine Worte nun endlich Wirkung zeigen würden.
Brummend trank er seinen Kaffee aus und stellte die Tasse sowie das restliche Geschirr vom Frühstück in die Spüle. Es war erst kurz nach Mittag. Also überlegte der junge Mann nicht lange, sondern warf sich auf die Couch und schaltete den Fernseher ein. Er switchte die Kanäle rauf und runter, aber es war natürlich nichts Gescheites drin.
Alex wünschte, es wäre schon Freitag, denn dann hätte er sich in ein paar Stunden auf den Weg zu seinem Job in einer Bar in SoHo machen können, wo er gelegentlich am Wochenende arbeitete, oder aber auch ein paar Stunden Nachtschicht bei einem Kumpel schieben können, der ein Taxiunternehmen besaß. Alles war besser als hier herumzusitzen und nichts zu tun.
Seufzend schloss er die Augen und war kurz darauf auf dem Sofa eingeschlafen.
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Es war schon spät, als der junge Mann mit einem Schrei aus seinem Schlaf hochfuhr. Er war in Schweiß gebadet und richtig durcheinander. Alex strich sich durch die feuchten Haare und versuchte, seine Augen an das Halbdunkel des Raumes zu gewöhnen. Nur die Straßenlaterne warf etwas Licht durch die beiden hohen Fenster herein.
Der Dunkelhaarige schwang die Beine über die Sofakante und setzte sich hin. Was zum Teufel hatte er da geträumt? Er konnte sich nur erinnern, dass irgendjemand oder irgendetwas ihn gejagt hatte. Alex hatte schon den Atem des, was auch immer es gewesen war, im Nacken gespürt, da war er aufgewacht. Über sein Schreien hochgeschreckt.
Der junge Mann zündete sich eine Zigarette und anschließend eine Kerze an, die auf dem Couchtisch stand. Als diese das Zimmer in ein warmes Licht tauchte, fiel die Beklemmung allmählich von dem Dunkelhaarigen ab. Was war bloß los mit ihm? Er hatte nie Alpträume. Okay, nicht mehr seit er ein Kind gewesen war. Nach dem Tod seiner Eltern war es häufiger vorgekommen, dass er schreiend wachgeworden war, aber in den letzten Jahren? Nein.
Alex schüttelte sich und stand auf. Das Beste würde sein, wenn er sich auf den Weg in irgendeinen Club machen würde, um sich abzulenken. Er wollte und konnte jetzt nicht alleine bleiben.
Der junge Mann verschwand kurz im Bad, um sich frisch zu machen, bevor er sich in seine Klamotten warf und die Wohnung verließ.
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Eine halbe Stunde später parkte er sein Auto im Hinterhof einer Bar. Für Nichteingeweihte, sprich Menschen, die keine Ahnung von der Existenz anderer Wesen hatten, war das hier ein einfacher Nachtclub, nichts Besonderes. Doch Alex wusste es besser. Hier kamen neben den normalen Gästen auch die hin, die den besonderen Kick suchten. Menschen, die ihrer Befriedigung auf besondere Art und Weise nachgingen und Vampire, die hier freiwillige Spender fanden. Um Sex ging es weniger, aber auch der fand statt, wenn man sich einig war. In erster Linie ging es aber tatsächlich um den roten Lebenssaft.
Der Türsteher am Hintereingang kannte Alex noch und nickte ihm kurz zu, bevor er ihm die Türe öffnete. Der junge Mann war eine ganze Zeit lang fast jede Woche hier gewesen. Doch irgendwann hatte Alex aufgehört, hierherzukommen. Das Ganze hatte für ihn den Reiz verloren, als sein »Stammfreier« den Club nicht mehr aufsuchte. Bei ihrem letzten Treffen hatte der Unsterbliche ihm gesagt, dass er seinen Menschen gefunden hatte und diese Einrichtung nicht mehr brauchen würde. Alex war damals enttäuscht und wütend gewesen und hatte dem Ganzen schließlich auch den Rücken gekehrt.
Nun stand er wieder hier, in dem großen, nur von Kerzen in Wandhaltern und auf den Tischen erleuchteten Raum, mit einer kleinen Bar und mehreren Séparées, wo die Gäste sich erst einmal beschnuppern konnten. Etwas mehr Privatsphäre hatten.
Manche blieben in den kleinen, vor fremden Blicken geschützten Bereichen, andere verschwanden später auf einem der Zimmer, die sich in den oberen beiden Stockwerken des Gebäudes befanden und über einen Aufzug zu erreichen waren.
Alex ging an die Bar und bestellte sich einen Whisky. Es dauerte nicht lange und ein dunkelhaariger Mann nahm auf dem Barhocker neben ihm Platz.
Der junge Hexer schmunzelte, als der leichte Geruch nach Flieder in seine Nase stieg. Diesen Duft kannte er zu gut. Langsam drehte er sich auf seinem Hocker und musterte den Anderen von der Seite. »Was machst du hier? Ich dachte, du hast deinen Menschen gefunden und brauchst das hier nicht mehr …«
Der Angesprochene wandte sich ihm zu und ein Lächeln umspielte seine Lippen, ließ die spitzen Fänge einen Moment lang aufblitzen.
»Nun … sagen wir es so … wir hatten ein paar Meinungsverschiedenheiten und ich habe die Flucht ergriffen, damit ich nichts tue, was ich hinterher bereue. Und da ich meine Wut auch nicht an irgendwem auf der Straße auslassen wollte, bin ich hierhergekommen«, seine smaragdfarbenen Augen musterten Alex. »Und was treibt dich hierher?«
»Alpträume. Ich wollte nicht alleine sein. Warum es mich allerdings ausgerechnet hierhin gezogen hat …«, der junge Hexer zuckte mit den Schultern, »ich weiß es ehrlich gesagt nicht, Vince.«
»Vielleicht sollte es einfach so sein. Du und ich … heute hier.«
»Oh ja«, Alex lachte auf. »Das war garantiert so vorbestimmt. Vincent, du redest Bullshit. Aber wenn wir einmal hier sind, lass uns da rübergehen«, der junge Mann deutete zu den separaten Bereichen, »hier ist es mir zu ungemütlich. Oder hast du dann ein schlechtes Gewissen deinem Menschlein gegenüber? Ich frage lieber vorher.« Alex’ dunkle Augen fixierten den Unsterblichen.
Der lachte leise und rutschte von seinem Hocker. »Nein, bestimmt nicht. Du hast recht. Lass’ uns von der Bar verschwinden.«
Alex wollte sich gerade an den Barkeeper wenden, dass er und Vincent eines der Séparées in Beschlag nehmen würden, als der Unsterbliche ihm die Hand auf den Arm legte. Der junge Mann drehte sich zu dem Vampir und schaute in dessen jetzt blutrote Augen.
»Vielleicht sollten wir besser … rauf gehen?«
Alex zögerte einen Augenblick, bevor er nickte. Ja, wahrscheinlich war das tatsächlich besser. Er rief den Angestellten hinter dem Tresen zu sich und bat um einen Zimmerschlüssel.
Nachdem sie den finanziellen Teil direkt mit erledigt hatten, fuhren sie mit dem kleinen Aufzug in den ersten Stock. Obwohl Vincent eine total vertraute Person war, fühlte es sich für Alex seltsam an. Irgendetwas in ihm sperrte sich gegen die Situation. Gegen das, was gleich passieren würde. Zum Glück hatten sie sich eine Flasche Whisky von der Bar mitgenommen. Dem Vampir würde der Alkohol zwar nichts bringen, denn er hatte keine Wirkung auf ihn, aber Alex würde es seine Hemmungen nehmen. Der junge Mann schloss das Zimmer mit der Nummer 7 auf und betrat den Raum, den Unsterblichen dicht auf den Fersen.
Alex schmunzelte. Es hatte sich nichts verändert, seit er das letzte Mal hier gewesen war. Warum auch? Die Zimmer waren immer noch in Rot und Schwarz gehalten und genau wie die Bar durch Kerzen in Wandhaltern beleuchtet. Alex zog seine Jacke aus und trat sich die Schuhe von den Füßen, während der dunkelhaarige Vampir ihn nicht aus den Augen ließ. Der junge Hexer setzte sich auf das Bett und nahm einen kräftigen Schluck aus der Pulle.
»Du bist unsicher«, schmunzelte Vincent, »das kenne ich nicht von dir. Was ist los?«
Die Schultern zuckend, erwiderte Alex: »Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Aber es ist nichts, was ich nicht mit dem hier ausschalten kann.« Er tippte mit dem Fingernagel auf die Flasche, bevor er die Hand nach dem Anderen ausstreckte. »Komm schon her. Ist ja nicht das erste Mal.«
Unverzüglich kam der Vampir der Aufforderung nach und ließ sich neben Alex auf das Bett fallen. Der nahm noch einen tiefen Schluck des Whiskys und stellte die Pulle dann auf den Boden. Gerade rechtzeitig, denn Vincent drückte ihn auf die Matratze und war in der nächsten Sekunde über ihm. Das leise Knurren an seinem Ohr ließ ihn erschaudern und er schloss die Augen. Als die Fänge des Unsterblichen sich in seinen Hals bohrten, krallte Alex die Finger in das Bettlaken und seine Gedanken gingen auf Wanderschaft; zurück zu der Nacht mit Hiram.
Dessen Gesicht erschien vor dem geistigen Auge des Hexers und sein Magen krampfte sich zusammen. Und plötzlich war ihm klar, wo die Blockade lag, was ihn hemmte. Ein leises Stöhnen entwich ihm. Das konnte doch nicht wahr sein.