Mit laufendem Motor stand der Wagen im Hinterhof des Clubs. Es war kurz nach Mitternacht und Alex hatte keinen Drang, nach Hause zu fahren. Den Rauch seiner Zigarette inhalierend saß er da, starrte durch die Windschutzscheibe nach draußen und ließ die letzten beiden Stunden Revue passieren.
_
Nachdem er es endlich geschaffte hatte, Hiram aus seinem Kopf zu verbannen, hatte Alex sich in wildem, hemmungslosem Sex mit Vincent verloren. Eigentlich war das nicht so geplant gewesen, aber der junge Mann hatte gehofft, wenigstens für eine Weile abschalten zu können. Außerdem hatte er gemerkt, dass der Vampir in seinem Bett es unbedingt wollte und da Alex kein Kostverächter war, hatte er sich dem Anderen schließlich hingegeben. Aber anstatt den Kopf freizubekommen, war dem jungen Hexer nur schmerzlich bewusst geworden, dass die Sache mit Vince nicht mehr wie früher war.
Unbewusst hatte Alex Vergleiche zu der Nacht mit Sandringham gezogen und musste gestehen, dass das, was er mit Vincent gehabt hatte, dem in keiner Weise standhielt. Die Leidenschaft die zwischen Hiram und ihm, Alex, gewesen war, konnte der Andere nicht toppen, nicht einmal annähernd erreichen.
_
Stöhnend rutschte der Dunkelhaarige tiefer in den Fahrersitz. Natürlich war der Sex mit Vince gut gewesen, aber nicht mehr. Sollte das jetzt immer so laufen? Alex schlief mit jemandem und alles, woran er denken konnte, war diese blonde Vampirsünde namens Hiram? Das konnte es doch nicht sein.
Brummend holte der junge Mann sein Handy aus der Jackentasche und schaltete es ein. Nichts! Außer einer SMS seiner Schwester, in der sie sich für ihr Verhalten entschuldigte und ihm eine gute Nacht wünschte. Aber was hatte er auch erwartet? Der, von dem er gerne eine Nachricht oder einen Anruf erhalten hätte, hatte nicht mal seine Nummer.
Alex lachte verbittert auf. Er musste Hiram Sandringham aus seinen Gedanken verbannen. Der Unsterbliche war nicht mehr als ein One-Night-Stand gewesen, einer von vielen, und egal wie stark Alex’ Sehnsüchte nach diesem Mann auch waren, es war vorbei. Eine einmalige Sache.
Ende!
Aus!
Der Dunkelhaarige hatte zwar keinen Schimmer, wie er den Unsterblichen vergessen sollte, aber es musste sein. Alex hatte nicht vor, durch die Gegend zu rennen wie ein liebeskranker Teenager und sich selbst jeglichen Spaß zu verderben.
Der junge Mann schob sich wieder in eine normale Sitzposition, legte den Gang ein und verließ den Hinterhof der Bar.
_
Zu derselben Zeit verließ Lord Sandringham sein Loft und stieg in ein Taxi, um sich in die Londoner Innenstadt bringen zu lassen. Er suchte Zerstreuung und die City schien ihm ein guter Platz dafür zu sein. Das Raubtier in ihm war gerade sehr fordernd und schrie förmlich nach Befriedigung, nach Blut. Außerdem musste er sich ablenken, denn dieser kleine Bastard Alex schlich sich nach wie vor in seinen Kopf und das ging dem Unsterblichen gehörig gegen den Strich.
Knurrend ließ er den Taxifahrer auf der Westminster Bridge kurz anhalten, bezahlte ihn und sprang dann aus dem Wagen. Trotz der fortgeschrittenen Uhrzeit und der Kälte, die einem in die Knochen kroch, waren noch einige Leute unterwegs. Hiram konnte das jedoch nur recht sein. Er schlug den Kragen seiner Jacke hoch, vergrub die Hände in den Taschen und überquerte schnellen Schrittes die Brücke. An deren Ende hielt er einen Moment inne, um sich zu orientieren, denn der Vampir war schon eine Weile nicht mehr hier in dieser Ecke Londons gewesen.
Schließlich ging er weiter. Huschte lautlos durch die dunklen, immer leerer werdenden Straßen. Alle seine Sinne waren aufs Äußerste geschärft, jeder Muskel seines Körpers angespannt. Hin und wieder öffneten sich Türen auf seinem Weg – von Bars, Clubs oder Restaurants – und zogen seine Aufmerksamkeit auf sich. Aber es waren immer mehrere Personen, die die Lokalitäten verließen und Hiram hatte keine Lust darauf, einen Kampf mit seinen Opfern zu führen. Das war ihm gerade viel zu anstrengend. Ihm war nach jagen, stellen und töten. Kurz und schmerzlos. Aber irgendwie fand er nicht das Passende.
So lief er eine ganze Weile durch die Stadt, ohne Erfolg.
Es hatte angefangen zu schneien und das hob die Laune des Vampirs nicht gerade. Er spielte schon mit dem Gedanken, in einen der Clubs zu gehen und sich da jemanden klar zu machen, denn seine Geduld war fast am Ende. Er knurrte ungehalten, als wieder eine Gruppe junger Leute ein paar Meter vor ihm einen Pub verließ und grölend nach einem Taxi rief. Einer der Männer war so betrunken, dass er gegen Hiram taumelte, als dieser an ihm vorbeiging.
»Sei froh, dass du nicht alleine unterwegs bist«, knurrte der Vampir ungehalten und stieß den Anderen weg, sodass dieser gegen einen Laternenmast knallte und zu Boden ging. Hiram lief ohne sich umzusehen weiter. Die wilden Beschimpfungen, die die anderen ihm hinterherriefen, ließen ihn kalt. Er beschleunigte nicht mal seine Schritte. Sollten sie ruhig kommen. Er würde sie in Stücke reißen.
Natürlich kamen sie ihm nicht nach. Die Laune des Unsterblichen wurde minütlich schlechter. Wenn er nicht bald das passende Opfer finden würde, dann …
Und plötzlich war sie da. Sie war wohl aus einer Seitengasse gekommen und lief nun ein paar Meter vor ihm die Straße herunter, sah sich immer wieder gehetzt um, als ob jemand sie verfolgen würde. Hiram war so mit diesen Betrunkenen beschäftigt gewesen, dass er die Frau gar nicht bemerkt hatte. Doch der Wind wehte ihren Geruch jetzt zielsicher zu ihm. Und dieser machte ihn hellwach.
Ein bösartiges Grinsen huschte über das Gesicht des Unsterblichen. Die junge Frau hatte ja keine Ahnung, wie richtig sie mit ihrer Vermutung lag, dass sie jemand verfolgte und wie berechtigt ihre Angst war. Doch noch hielt Hiram Abstand zu seinem vermeintlichen Opfer, folgte ihm lautlos. Er konnte die immer größer werdende Furcht riechen und hörte den viel zu schnellen Herzschlag.
Die Frau bog in eine schmale Gasse zwischen den Häusern ab, offensichtlich eine Abkürzung, die sie trotz ihrer Angst nutzen wollte; der Vampir war ihr dicht auf den Fersen. Hier war es fast stockdunkel, bis auf eine einzelne Lampe in einem Hauseingang, die nur spärliches Licht spendete. Der Unsterbliche lachte innerlich. Die Menschen waren manchmal so dumm und begaben sich leichtsinnig in gefährliche Situationen. Also hatten sie dafür auch nichts anderes als den Tod verdient.
Als die junge Frau fast das Ende des Weges erreicht hatte, kurz bevor dieser wieder auf eine heller erleuchtete Straße mündete, war Hiram da. Er packte sein Opfer am Arm, riss es herum und presste ihm zeitgleich die Hand auf den Mund, erstickte so jede Chance zu schreien im Keim. Der Vampir drängte die Frau gegen eine der Hauswände. Der Schal, den sie sich zum Schutz gegen die Kälte um Kopf und Hals gebunden hatte, löste sich in dem leichten Gerangel und rutschte ein Stück herunter. Ein paar Strähnen ihrer blonden Haare fielen ihr ins Gesicht. Dieses war vor Panik verzerrt und ihre grünen Augen weit aufgerissen. Hiram sah in diese und seine Lippen verzogen sich zu einem breiten Grinsen. Er weidete sich an der panischen Angst der Frau und schürte das Ganze noch, indem er für einen Augenblick seine Fänge entblößte.
Sein Opfer versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien, biss ihm sogar in die Hand, was ihn nicht milder stimmte. Das Herz der Blonden schlug wie wild, brachte ihr Blut zum Kochen, sodass Hiram das Raubtier in sich kaum noch bezähmen konnte. Es kostete ihn eine unmenschliche Beherrschung, sie nicht augenblicklich anzufallen und bis auf den letzten Tropfen auszusaugen; ohne jegliche Rücksicht auf sie zu nehmen. Vor ein paar Jahrhunderten hätte er sich darüber nicht einmal Gedanken gemacht, sondern einfach seinen raubtierhaften Trieben nachgegeben.
»Du kannst es dir aussuchen. Entweder du hältst still und ich bereite dir einen halbwegs schmerzlosen Tod oder du machst weiter wie gerade und ich reiße dich in Stücke. Deine Entscheidung«, knurrte der Unsterbliche und beobachtete sein Gegenüber, das ihm fassungslos auf den Mund starrte. Doch die Gegenwehr ebbte tatsächlich ab.
»Also wirst du ruhig sein?«
Die junge Frau sah ihn mit Tränen in den Augen an und nickte zaghaft.
»Gut, dann …«, Hiram nahm die Hand von ihrem Mund, »keinen Mucks. Verstanden?«
Wieder zaghaftes Nicken, dann fragte die Blonde flüsternd: »Was haben Sie jetzt mit mir vor? Ich will nicht sterben. Bitte, Mister, ich …« Flehend sah sie den Vampir an.
Doch der legte nur einen Finger auf ihre Lippen. »Ssssht!«
Hiram strich über ihr Haar und dann ihren Hals entlang, zog den Schal dort weg und ließ ihn auf den Boden fallen. Die junge Frau zitterte am ganzen Körper und zwei einzelne Tränen rannen ihre Wangen herunter. Als der Vampir sich zu ihr herunterbeugte, schloss sie die Augen.
Der Blick des Unsterblichen glitt noch einmal über das durchaus hübsche Gesicht seines Opfers, bevor er ihm mit einem Knurren die Fänge in den Hals rammte.
Ein schmerzvolles Keuchen entrang sich der Kehle der Blonden. Für einen Moment schien sie erstarrt, doch dann fing sie an, auf den Vampir einzuschlagen und zu treten, woraufhin dieser sie nur noch fester gegen die Wand presste. Gleichzeitig verschloss er ihren Mund wieder mit seiner Hand, sodass sie keine Chance mehr hatte, zu schreien. Gierig trank er ihr Blut, doch sie wehrte sich immer noch verbissen. Hiram ignorierte ihre Bemühungen, freizukommen. Seine Geduld war erschöpft und mit einem dunklen Knurren rammte er die Frau brutal gegen die Mauer. Ein hässliches Knacken und das darauf folgende Zusammensacken des Körpers in seinem Arm zeigten dem Vampir, dass seine Aktion einen Deut zu heftig gewesen war. Aber das berührte ihn nicht wirklich. Dieser Mensch war für ihn nichts gewesen als ein weiteres Opfer und er hätte die Frau sowieso nicht am Leben gelassen.
Hiram bedauerte nur, dass es durch seine Unachtsamkeit und Unbeherrschtheit passiert war – weil er sich nicht unter Kontrolle gehabt hatte. Lieber hätte er ihr die Kehle durchgeschnitten, nachdem er ihr auch den letzten Tropfen ihres kostbaren Lebenssaftes geraubt hatte. Letzteres hatte er zwar geschafft, aber ihr Tod war so nicht in seinem Sinne gewesen. Aber das war jetzt nicht mehr rückgängig zu machen.
Hiram seufzte und legte den schlaffen, blutleeren Körper auf dem Boden hinter ein paar Mülltonnen ab. Das Geräusch von Schritten ließ ihn aufhorchen. Er schaute in die Richtung und sah zwei Gestalten die Gasse herunterkommen, schwankend wie Schiffe auf hoher See.
»Na wenigstens habt ihr mich nicht bei meinem Mitternachtssnack gestört«, brummte der Unsterbliche, drehte sich um und verschwand lautlos in der Nacht.
_
Satt und zufrieden wie eine Katze, die einen Pott Sahne verspeist hatte, kam Hiram eine Stunde später in seinem Loft an. Auf dem Weg dorthin war ihm noch ein weiterer Mensch zum Opfer gefallen, dessen betörenden Duft er nicht hatte ignorieren können. Allerdings war er mit dem jungen Mann noch weniger zimperlich gewesen als mit der blonden Frau. Ihm hatte er kurzerhand die Kehle aufgerissen, weswegen seine Klamotten auch völlig besudelt waren.
Eigentlich hatte er noch in einer der Bars vorbeischauen wollen, wo er hin und wieder einen Cocktail oder auch etwas Härteres trank, aber das war dann natürlich hinfällig geworden. In der Vergangenheit hatte er sich aus diesen Pubs auch schon mal einen One-Night-Stand mitgenommen, wobei er mit den jungen Männern nie in seine Wohnung gegangen war. Entweder hatte er sich zu ihnen nach Hause entführen lassen oder hatte ein Hotelzimmer genommen.
Sein Loft war immer absolute Tabuzone gewesen. Wo und wie er lebte, ging niemanden etwas an und er hatte auch nicht vor, das zu ändern. Zumal es für ihn auch nicht ungefährlich war, wenn die falschen Leute seine Adresse kannten. Schließlich gab es noch immer Jäger, die ihm an den Kragen gehen würden, wenn sie ihn denn fanden. Also vermied Lord Sandringham es, seinen Aufenthaltsort preiszugeben. Das war einfacher als seine Besucher jedes Mal zu manipulieren, denn auch das schlug bei jedem anders an. Je nachdem, wie stark der Wille des Menschen war.
Der Vampir fetzte sich die vom Schnee und dem Blut seines letzten Opfers feuchten, eingesauten Sachen vom Leib und stopfte sie in seine Waschmaschine. Eigentlich machte seine Putzfrau die Wäsche, aber halt nur die normal verschmutzte Kleidung. Nach Nächten wie dieser kümmerte der Unsterbliche sich selbst darum.
Er stellte die Maschine an, schlüpfte in eine Jogginghose und ging hinüber in sein Wohnzimmer. Dort ließ er sich auf das Sofa fallen und seufzte. Dieser Abend hatte ihn wirklich befriedigt. Er goss sich ein Glas Rotwein ein und lehnte sich zurück, legte die Füße auf den Couchtisch. Seinen Gedanken freien Lauf lassend, schloss er die Augen, um sie einen Moment später mit einem leisen Stöhnen wieder zu öffnen, denn erneut hatte sich das Gesicht von Alex vor sein inneres Auge geschoben. Hiram leerte sein Glas in einem Zug und brummte. Eventuell sollte er dem Ganzen einfach nachgeben und sich noch einmal mit dem jungen Mann treffen. Der Unsterbliche streckte sich und gähnte. Er würde später darüber nachdenken … Vielleicht.