Als Alex die Türe zu seiner Wohnung öffnete, stutzte er kurz. Der Flur war zwar stockdunkel, aber aus dem Wohnzimmer drang Licht in diesen. Und der junge Mann war sich sicher, alles ausgeschaltet zu haben, bevor er sein Zuhause verlassen hatte. Er zog die vom Schnee feuchten Schuhe aus und betrat die Wohnung. Leise schlich er die Diele hinunter und linste dann um die Ecke. Erleichtert aufatmend begann er zu lächeln. Der Fernseher lief und auf dem Sofa lag, leise schnarchend, Alex’ Mitbewohner Scott.
Ein Grinsen huschte über das Gesicht des jungen Hexers. Den Reißverschluss seiner Jacke öffnend, ging Alex hinüber zu der Couch und tippte den dunkelblonden Mann an der Schulter an. Dieser fuhr aus dem Schlaf hoch und schaute verwirrt zu ihm auf.
»W-Was zum Teufel …?«
»Ja … Was zum Teufel. Was bitte machst du hier?« Alex zog seine Jacke aus und legte sie über einen der beiden Sessel, bevor er auf dem Couchtisch Platz nahm. Skeptisch musterte er den Anderen. Dass der plötzlich in ihrer gemeinsamen Wohnung auftauchte, alleine, das konnte nichts Gutes bedeuten.
Scott strich sich über das Gesicht und setzte sich langsam auf.
Alex ließ ihm einen Moment, um richtig zu sich zu kommen, bevor er fragte: »Ist was passiert?«
»Hmmm …«, brummte Scott, »wie man es nimmt. Gina hat heute Morgen Schluss gemacht.«
»Einfach so? Nach zwei Jahren?«
»Ja, ich meine nein, sie … hat nen anderen Kerl. Sie meinte, der wäre nicht so langweilig wie ich. Würde sie ausführen und ihr dauernd kleine Geschenke machen.« Der junge Mann sah Alex mit zusammengezogenen Augenbrauen an, bevor er aufstand und hinüber zu dem großen Wohnzimmerfenster ging. »Mann, das schneit ja immer noch.«
»Und weil du nicht ständig mit ihr auf die Piste gegangen bist und sie nicht mit Kram überhäuft hast, hat sie dich sitzen lassen? Echt jetzt? Ich mein, ich wusste ja schon immer, dass sie oberflächlich ist und ein Miststück, aber das toppt alles.« Alex war ebenfalls aufgestanden und ging in die Küche. »Willst du auch ein Bier?«
»Es ist mitten in der Nacht; mitten in der Woche.«
»Und? Ich muss nicht früh raus und du wirst wohl auch zu Hause bleiben, denke ich.«
»Hmmm … ich denke schon«, war die gemurmelte Antwort.
Alex seufzte. Das konnte ja lustig werden.
Als der junge Hexer mit dem Bier zurück ins Wohnzimmer kam, saß Scott wieder auf dem Sofa und starrte auf den Fußboden, strich sich gedankenverloren immer wieder durch die dunkelblonden Haare. Alex ließ sich neben ihm nieder und hielt ihm eine Flasche hin. »Und jetzt hörst du auf, Trübsal zu blasen. Das ist es echt nicht wert. Wenn du was blasen willst, hätte ich ‘ne bessere Idee.«
Scott hob den Blick und schaute seinen Freund einen Moment total verwirrt an, was Alex in schallendes Gelächter ausbrechen ließ.
»Mann, guck nicht so. Du kennst mich doch. Aber keine Sorge, ich werde dir nicht zu nahe kommen. Das war ein Scherz«, damit zwinkerte er seinem Kumpel zu und nahm einen kräftigen Schluck aus der Pulle. »Obwohl ich dich bestimmt sehr gut von deinen trübsinnigen Gedanken ablenken könnte, wenn du mich lassen würdest.«
»Du bist ein Spinner. Ich bin nicht schwul, also nein!«
»Na, das bin ich auch nicht«, kicherte Alex und beobachtete Scott, der die Flasche ansetzte und in einem Zug leer trank, während er seinen Kumpel ansah, als käme der von einem anderen Stern, weil er solche absurden Äußerungen von sich gab. Der junge Hexer schmunzelte. Ob sein Freund tatsächlich verdrängt hatte, was damals zwischen ihnen gewesen war? In diesem einen Sommer, bevor der Blonde seine Freundin kennengelernt hatte; die ihn sofort voll im Griff gehabt und von Alex ferngehalten hatte – zumindest für eine ganze Weile. Dass Scott die WG nicht aufgegeben hatte, grenzte schon an ein Wunder. Nachdenklich stand der Dunkelhaarige wieder auf und ging erneut in die Küche. Diesmal brachte er den ganzen Bierkasten mit ins Wohnzimmer.
»So! Das sollte reichen. Jetzt muss ich wenigstens nicht dauernd laufen, wenn du säufst wie ein Pferd. Nur gut, dass genug da ist.«
Scott grinste schief, stellte die leere Flasche in den Kasten und nahm sich die nächste, die er mit seinem Feuerzeug öffnete, während Alex ihn schmunzelnd beobachtete. Das konnte noch interessant werden, wenn Scott in dem Tempo weitersaufen würde. Der junge Hexer setzte sich zu seinem Freund auf das Sofa, nahm sich ebenfalls ein Bier und legte die Beine auf den Couchtisch.
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Als Alex einige Zeit später die Augen aufschlug, war er im ersten Moment ein wenig desorientiert. Hatte er nicht gerade noch mit Scott im Wohnzimmer gesessen und geredet, während sie eine Flasche Bier nach der anderen geleert hatten und schließlich zu Whisky übergegangen waren? Sich über das Gesicht reibend stellte Alex fest, dass er immer noch auf dem Sofa saß. Sein Kumpel hingegen … der junge Hexer sah nach unten und seine Augen weiteten sich. Dort hockte Scott auf dem Boden und war gerade dabei, die Jeans seines Kumpels zu öffnen. Für einen Augenblick war der wie gelähmt und starrte nur auf die Hände des Blonden. Der fummelte mit flinken Fingern Alex‘ bestes Stück aus dessen Hose und ließ schon den Bruchteil einer Sekunde später seine vollen Lippen über die beginnende Erektion des Dunkelhaarigen gleiten. Leise aufkeuchend legte Alex den Kopf zurück und schloss die Augen, während seine Hände durch Scotts Haar glitten. Doch nur für einen Moment, dann wurde dem jungen Hexer schlagartig bewusst, was hier passierte und mit einem energischen »Nein« schob er Scott von sich weg.
»Verdammt, Alex, was soll’n das?«, protestierte dieser und man konnte deutlich hören, dass er alles andere als nüchtern war. »Isch dachte, du wolltest, dass isch … was an-anderes als Trübsal blase.«
Alex musterte Scott amüsiert, bevor er sich vom Sofa erhob und seine Hose wieder an Ort und Stelle brachte. »Ja, ich … Nein! Das war nur ein Spruch, um dich zu ärgern. Ich will keinen Blowjob von dir und auch sonst nichts Sexuelles. Steh auf und geh schlafen. Wir haben beide genug für heute.«
»Och Maaann, das könnte aber … interessant werden«, murrte der Blonde, stand aber ebenfalls auf und blieb schwankend vor Alex stehen. »Du bist sexy und sooo scharf«, schnurrte Scott weiter, schnappte sich eine dunkle Haarsträhne seines Kumpels und drehte sie um den Finger.
Leise lachend ergriff Alex die Hand des Anderen. »Und du bist total besoffen. Du weißt nicht mehr, was du tust und würdest es später bitter bereuen. Glaub mir. Was wäre ich für ein Freund, wenn ich das zulassen würde, nur um ein bisschen zu vögeln.«
»Isch bin nisch betrunk’n. Gib mir deinen Schwanz wieder«, nuschelte Scott und griff erneut nach seinem Freund, der ihm allerdings schmunzelnd auswich. Er selbst fühlte sich komischerweise saugut und so, als hätte er nichts Alkoholisches angerührt.
Brummend ließ der Blonde sich auf das Sofa fallen. »Du bist ein Spielver… ...derber. Du Spießer, du.«
Der junge Hexer nahm ein Kissen und schob es unter Scotts Kopf, bevor er eine Wolldecke über den blonden Mann zog.
»Ja, ich weiß, Baby, später wirst du mir dankbar dafür sein. Und jetzt schlaf.«
Doch das hörte Scott schon nicht mehr, denn der war bereits weggeratzt. Leise ging der junge Hexer ins Bad, um einen Eimer zu holen und stellte diesen neben das Sofa.
»Nur für alle Fälle«, flüsterte Alex und strich seinem Kumpel sanft über die Wange, bevor er sich abwandte und den Raum verließ.
In seinem Schlafzimmer ließ der Dunkelhaarige sich auf das Bett fallen. Was zum Teufel war da gerade passiert? Nicht das, was Scott hatte tun wollen – das wäre ja nicht das erste Mal gewesen. Nein, seine, Alex’, eigene Reaktion darauf. Er hatte noch nie Skrupel bei so etwas gehabt, Alkohol hin oder her. Alex liebte Sex und für einen guten Blowjob konnte man ihn immer gewinnen. Dazu kam, dass Scotts Lippen sich so verdammt gut angefühlt hatten. Trotzdem hatte ihn der junge Hexer gestoppt und er hatte keine Ahnung, warum er das getan hatte.
»Super … hoffentlich mutiere ich nicht zu einem dieser Moralapostel.«
Seufzend drehte er sich auf die Seite und schloss die Augen. Im Moment wollte er nicht mehr drüber nachdenken, warum er sich selbst um sein Vergnügen gebracht hatte. Das konnte er später immer noch tun … oder auch nicht.
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Es war schon Nachmittag, als Alex die Augen aufschlug. Nachdem er sich frisch gemacht hatte, schlurfte er nur in Boxershorts hinüber in die Küche, um Kaffee aufzuschütten. Eigentlich bevorzugte der junge Mann Tee, aber jetzt brauchte er etwas Stärkeres, um wach zu werden. Selbst die Dusche hatte das dieses Mal nicht geschafft und die war normalerweise ein Garant dafür, Alex nach durchzechten Nächten zurück zu den Lebenden zu bringen.
Während die Maschine lief, warf der junge Mann eine Ibuprofen gegen seine hämmernden Kopfschmerzen ein, die für ihn der eindeutige Beweis waren, dass Scott nicht alleine getrunken hatte. Apropos Scott! Wo war der eigentlich hin? Das Sofa war leer und die Schlafzimmertüre des Blonden hatte offen gestanden, sodass Alex auf dem Weg zum Wohnzimmer einen Blick hatte hineinwerfen und sehen können, dass das Bett seines Kumpels unberührt war. So fertig wie der gewesen war, hatte der junge Hexer eher nicht damit gerechnet, dass Scott schon wieder fit sein und erst recht nicht, dass er die Wohnung verlassen würde. Aber vielleicht hatte Gina sich ja gemeldet. Der Blonde hatte im Laufe der Nacht mehrfach erwähnt, dass er seine Ex noch liebte und die Beziehung für ihn noch nicht vorbei sei. Nun, Scott war alt genug, um zu wissen, was er tat. Das war nicht Alex’ Problem und er würde es auch nicht zu seinem machen.
Sich die Schläfen massierend, stöhnte der junge Mann gequält auf. Diese verdammten Schmerzen würden ihn noch mal umbringen. Es war höchste Zeit, seine Grandma zu bitten, ihm wieder diesen speziellen Trank zusammenzubrauen, der so hervorragend gegen seine Migräne half. Wenn alles wie geplant lief, würde Alex zusammen mit seiner Schwester an Weihnachten zu der alten Dame fahren. Der junge Mann entschied, sie die nächsten Tage anzurufen, damit Emilia Bennett das Gebräu in Ruhe herstellen konnte. An Tagen wie heute wünschte Alex sich, er wäre etwas geschickter in der Kunst der »Zaubertränke«, aber dafür fehlte ihm die Geduld und das Interesse. Seine Begabung lag auf anderen Gebieten der Hexenkräfte, aber diese konnten ihm im Moment nicht helfen. Alex ging hinüber zu dem hohen Küchenschrank und holte eine Schachtel mit selbstgedrehten Kippen heraus. Ein bisschen Gras linderte die Schmerzen normalerweise auch immer, also warum sich weiter damit belasten? Sich an den Tisch setzend, zündete Alex sich einen Joint an und wandte den Blick dem Fenster zu, vor dem wieder feine Flocken tanzten. Vielleicht sollte er sich später noch aufraffen und einen Spaziergang machen. Frische Luft würde ihm bestimmt nicht schaden. In diesem Moment wünschte er sich zu wissen, wo Hiram wohnte. Er hatte plötzlich das unbändige Verlangen, den Vampir wiederzusehen.
Aber Alex hatte ja nichts von ihm. Keine Adresse, keine Telefonnummer! Wenigstens nach letzterer hätte er den Unsterblichen fragen sollen. Aber zu dem Zeitpunkt …
Es war ja nur ein One-Night-Stand gewesen, wozu also hätte man irgendwelche persönlichen Dinge austauschen sollen? Man vögelte ‘ne Runde und dann ging wieder jeder seiner Wege. So funktionierte das.
Alex knurrte leise. Warum zum Teufel ging der Unsterbliche ihm dann nicht mehr aus dem Kopf? Er konnte das einfach nicht verstehen. So etwas war ihm bisher noch nicht passiert und er hatte schon einige kleine, schmutzige Abenteuer dieser Art gehabt. Aber keines hatte ihn so nachhaltig berührt.
So seinen Gedanken nachhängend saß der junge Mann eine ganze Weile da und konnte spüren, wie die Schmerzen zunehmend nachließen. Die Mischung aus Tablette und Gras zeigte endlich die gewünschte Wirkung. Langsam entspannte sich Alex’ Körper.
Während der junge Mann sich eine Tasse Kaffee holte, überlegte er, wie er Hiram finden konnte, ohne einen riesigen Aufwand zu betreiben und sich irgendwelche Zauber von seiner Grandma oder Schwester zeigen zu lassen, um den Vampir zu orten. Alex war sich, wenn er ehrlich war, auch nicht sicher, ob so etwas überhaupt funktionieren würde, denn er hatte sich damit noch nie befasst. Bisher war das nicht nötig gewesen.
»Natürlich. Ich bin vielleicht ein Idiot«, brummte er, als ihm einfiel, dass er ja einfach Luca fragen konnte. Der sollte schließlich wissen, wo sein Onkel wohnte. Oder nicht? Alex fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Nun, es war zumindest den Versuch wert. Der Gedanke an den Unsterblichen und das Verlangen, diesen wiederzusehen, war gerade so übermächtig in dem jungen Hexer, dass er sein Handy nahm und Lucas Nummer wählte. Es klingelte einige Male, bis der Jugendliche den Anruf annahm.
»Hey, Alex!«
»Hi, Lu! Ich hoffe, ich stör dich gerade nich. Könntest du mir einen Gefallen tun?«
»Klar, schieß los. Was soll ich machen?«
Alex druckste ein wenig herum. »Nun ja, ich hab mich gefragt, ob du … ob du mir Hirams Adresse geben würdest?«
Einen Moment herrschte Stille, bevor Luca sich räusperte. »Würde ich gerne tun. Nur habe ich die selbst nicht. Ich war noch nie bei ihm Zuhause, weil … er macht ein ziemliches Geheimnis darum, wo er wohnt. Keine Ahnung wieso.«
Alex verdrehte die Augen und seufzte leise. Er hatte es insgeheim befürchtet. »Und eine Telefonnummer? Hast du da vielleicht was für mich?«
»Nein! In letzter Zeit hat er sich immer bei mir gemeldet. Er hatte mal eine Festnetznummer, aber die existiert schon eine Weile nicht mehr.«
»Na, ganz toll«, knurrte der Dunkelhaarige, »trotzdem danke.«
»Kein Ding. Ich wünschte, ich hätte dir helfen können«, antwortete der Jugendliche und fügte hinzu, »ich muss jetzt aber auch wieder an die Arbeit. Sorry.«
»Schon okay«, brummte Alex. »Und sag Willow besser nichts von diesem Gespräch. Du weißt, wie sie über Hiram und seinesgleichen denkt. Sie hat mich eh schon angemacht, weil ich mit ihm zusammen war. Also halt einfach die Klappe, okay?«
Luca lachte leise. »Klar, Mann, kein Problem. Ich werde schweigen wie ein Grab.«
Damit beendeten sie das Telefonat und Alex stand vom Tisch auf, um sich mit seinem Kaffee auf das Sofa zu verziehen.
Das war ja ein voller Erfolg gewesen. Jetzt war der junge Hexer genauso schlau wie vorher, nur seine Laune, die war nun auf dem Nullpunkt. Unzufrieden vor sich hinbrummend, schaltete er den Fernseher an und versuchte, sich abzulenken, aber das wollte nicht so wirklich funktionieren.
So konnte das auf Dauer nicht weitergehen. Alex musste den Unsterblichen aus seinem Kopf verbannen und falls ihm das nicht gelingen sollte … Nun, dann würde er wohl einmal mit Vincent reden müssen, ob der ihm seine Erinnerung an Hiram nehmen konnte. Auf dieses Gefühl des Vermissens und die innere Unruhe, die ihn, Alex, quälte, hatte er jedenfalls keine Lust. Seufzend rollte er sich auf der Couch zusammen und schloss die Augen.