In einem Hotelzimmer irgendwo in London, wurde Hiram vom Schnarchen des jungen Mannes auf der anderen Bettseite geweckt. Langsam setzte der Unsterbliche sich auf und rieb sich über das Gesicht. Was zum Teufel machte er hier? Und wieso lebte der Kerl in seinem Bett noch? Hiram konnte sich vage erinnern, dass er irgendwann in der Nacht noch einmal das Haus verlassen hatte, weil ihn irgendetwas hinausgetrieben hatte.
Natürlich, der Gedanke an Alex hatte ihn irre gemacht und so war er losgezogen, um sich auf den Weg zu eben jenem zu machen. Auf halbem Weg war Hiram dann aber in einem ziemlich verruchten Pub gelandet, weil er einem Mann gefolgt war, der ihn an Alex erinnert hatte – ein junger Student für Naturwissenschaften. Die fortgeschrittene Nachtzeit hatte ihr Übriges getan und Hiram wieder zur Vernunft gebracht, denn Alex zu wecken, das war dann doch keine Option gewesen. Der hätte ihn wahrscheinlich für gestört erklärt und eh nicht in die Wohnung gelassen. Doch Hirams verdammtes Hirn hatte nicht aufgehört, ihm immer wieder das Bild des jungen Hexers vor die Augen zu projizieren und so hatte der Vampir sich den Kerl, der tatsächlich Ähnlichkeit mit Alex hatte, klar gemacht und war mit ihm kurzerhand auf eines der Zimmer über dem Pub verschwunden. Nachdem die beiden ein, zwei Joints geraucht hatten, waren sie schließlich zur Sache gekommen.
Hiram warf einen erneuten Blick auf den jungen Mann, der sich in dem Moment leise stöhnend mit dem Gesicht zu ihm drehte. Der Vampir schüttelte unwillig den Kopf und knurrte leise. »Bist ja ein hübsches Kerlchen, aber leider nicht er.«
Mit einem Brummen stand der Unsterbliche auf und verschwand im Badezimmer. Während er am Waschbecken stand und sich die Zähne mit einer hoteleigenen Einwegzahnbürste schrubbte, kam Bewegung in den Dunkelhaarigen im Bett und kurz darauf schlurfte dieser ebenfalls ins Bad.
Ein »Hey« in Hirams Richtung nuschelnd, verschwand er unter der Dusche.
Der Unsterbliche kümmerte sich nicht weiter darum, sondern warf sich etwas Wasser ins Gesicht und verließ den Raum.
Eigentlich wollte Hiram nur noch weg hier. Irgendwie hatte diese Nacht einen miesen Nachgeschmack hinterlassen. Dazu kam, dass der Vampir auch noch den ganzen Tag hier mit Schlafen vergeudet hatte – draußen wurde es schon wieder dunkel.
Hirams Laune wurde minütlich schlechter und so sprang er in seine Klamotten, legte dem Studenten noch ein paar Geldscheine aufs Bett und machte sich dann auf den Weg nach unten.
In dem kleinen Pub herrschte schon wieder Hochbetrieb. Die Luft war geschwängert vom Geruch nach Alkohol, Schweiß und Marihuana.
Hiram verzog das Gesicht und schüttelte sich angewidert. Er ging hinüber an den Tresen und winkte den Wirt zu sich, um seine Schuldigkeit für das Zimmer zu begleichen, bevor er die übelriechende Location endgültig verließ.
Erleichtert sog er vor der Tür des Pubs die reine, kalte Luft in seine Lungen, bevor er sich langsam in Bewegung setzte und die Straße entlang ging. Es war tatsächlich schon wieder komplett dunkel und nur die diffuse Beleuchtung durch einige Laternen, von denen die Hälfte auf die eine oder andere Weise defekt war, erhellte den Weg. Nicht, dass der Vampir das Licht nötig gehabt hätte. Er konnte auch so genug sehen, aber es gab der Gegend einen noch etwas stärker heruntergekommenen Touch.
Der Unsterbliche hielt nach einem Taxistand Ausschau, aber konnte nichts Derartiges ausmachen. Auch Autos kamen nur gelegentlich an ihm vorbei. Aber wen wunderte es bei diesem Wetter? Durch die andauernden Schneefälle lag die weiße Pracht mittlerweile zentimeterhoch überall, vor allem hier in den Nebenstraßen. Mitten in der Stadt, wo das Leben tobte, wo sich Auto um Auto über den Asphalt schob, waren die Straßen geräumt, aber hier machte sich keiner die Arbeit.
Der Vampir beschleunigte seine Schritte. Er musste sehen, dass er wieder in eine belebtere Gegend kam, damit er ein Taxi erwischte. Er hatte ehrlich gesagt keinen Schimmer, wo er war. In dieser Ecke von London hatte er sich vorher noch nicht herumgetrieben. Der Vampir seufzte. Das kam davon, wenn man einem Opfer folgte, ohne nachzudenken.
Mit einem Mal hörte er schnelle Schritte hinter sich und eine Stimme rief seinen Namen. Neugierig blieb er stehen und drehte sich um.
Der Student war ihm gefolgt und schlitterte nun auf dem verschneiten Gehweg auf ihn zu. Der junge Mann krachte gegen die Brust des Unsterblichen und instinktiv hielt dieser ihn fest, damit er nicht stürzte.
»Was zum Teufel machst du hier? Warum rennst du mir nach?«
»Als ich aus dem Bad kam, warst du weg. Hast dich nicht mal verabschiedet«, brummte der Dunkelhaarige und sah zu Hiram herauf, der ihn um mindestens einen halben Kopf überragte.
»Ja, so ist das, wenn man nur ne Fickbekanntschaft ist. Ganz unverbindlich. Oder dachtest du, ich heirate dich jetzt, weil wir mal in der Kiste waren?« Der Vampir verdrehte die Augen und schob den Jungen ein Stück von sich weg. »Geh nach Hause. Ich hab keine Zeit.« Hiram drehte sich um und ging weiter.
»Du bist ein Arsch. Weißt du das?«
»Ja, ich weiß. Erzähl mir was Neues«, brummte der Unsterbliche, ohne sich umzudrehen. Er passierte gerade die Einfahrt zu einem unbeleuchteten Hinterhof, als er einen Zug an seinem Mantel merkte. Genervt seufzend blieb Hiram stehen und wandte sich langsam um.
»Du bist lästig wie eine Zecke. Ich sagte: Geh. Nach. Hause! Ich hab keine Zeit für Spielchen.«
Doch der Student schob nur trotzig die Unterlippe vor. Er reckte sich und versuchte, Hiram zu küssen, wobei er ihm zeitgleich die Hand unter den Mantel schob. Der Vampir reagierte jedoch blitzschnell, packte den Jungen an beiden Handgelenken und schob ihn weg. Hirams Augen funkelten unheilvoll und ein leises Knurren bahnte sich den Weg seine Kehle herauf. »Lass es bleiben. Mach. Das. Du. Wegkommst.«
Der junge Mann musterte ihn und als er das rote Glühen in den Augen seines Gegenübers wahrnahm, weiteten sich seine eigenen. Er riss sich los und machte einen Schritt nach hinten.
»Was zum Teufel bist du?«
Langsam wich er weiter vor Hiram zurück, der nun lächelnd seine Fänge präsentierte, was den Studenten aufkeuchen ließ. Zitternd brachte er noch mehr Abstand zwischen sie beide, wobei er den Unsterblichen nicht aus den Augen ließ. Allerdings merkte der Student dadurch nicht, dass er beim blinden Rückwärtsgehen Schlenker machte und sich so der Einfahrt des Hinterhofes näherte. Als ihm dies auffiel, war es zu spät, um das zu ändern, denn Hiram versperrte ihm mit einem Grinsen den Weg nach vorne.
Das Zittern des jungen Mannes verstärkte sich und er stammelte: »L-Lass mich in Ruhe, d-du Monster.«
»Ach ja? Vorhin hast du noch an mir geklebt und jetzt bin ich ein Monster?«
Einem Raubtier gleich, folgte der Unsterbliche dem Jungen, der sich nun schneller von dem Vampir weg bewegte und dem jetzt die blanke Panik ins Gesicht geschrieben stand. Seine Stimme überschlug sich fast, als er Hiram anschrie. »Bleib weg von mir. Verdammter Blutsauger. Hau ab!«
Doch anstatt dieser Aufforderung nachzukommen, tat der Unsterbliche genau das Gegenteil. Er näherte sich dem jungen Mann blitzschnell und packte ihn an den Schultern. Der Student schrie auf vor Schmerz, als Hiram ihn mit voller Wut gegen einen Container rammte, der mitten auf dem leerstehenden Hof neben einem Haufen Bauschutt stand.
»B-bitte, lass mich gehen. Ich werde auch niemandem etwas von dir erzählen«, wimmerte der junge Mann.
»Dazu wirst du wohl auch keine Gelegenheit mehr haben. Ich hätte dich sofort töten sollen, als ich im Bett mit dir fertig war«, knurrte der Unsterbliche. Er konnte die Angst des Jungen riechen und der zitterte mittlerweile so stark, dass er sich trotz seiner Panik an Hirams Mantel festklammerte. Anderenfalls hätten wohl die Beine des Dunkelhaarigen ihren Dienst versagt und er wäre auf seinem Hintern gelandet.
»W-was hast du jetzt mit mir vor?«, flüsterte der Student kaum hörbar.
Der Vampir löste die Finger des Jungen, trat einen halben Schritt zurück und sah in die braunen Augen seines Gegenübers, die sich mit Tränen gefüllt hatten.
Einen Moment lang schwieg Hiram, bevor er antwortete: »Ich sollte dir deinen verdammten Hals brechen …«
»Aber …?« Im Blick des jungen Mannes keimte Hoffnung auf.
Den Studenten am Kragen seiner Jacke packend, hielt Lord Sandringham einen weiteren Augenblick schweigend inne, bevor er den Dunkelhaarigen von sich wegschleuderte.
»Du bekommst etwas, das noch keiner von mir bekommen hat bisher. Eine letzte Chance zu verschwinden. Lauf um …!« Ein hässliches Knacken unterbrach den Unsterblichen. Der Student war bei dem Versuch, das Gleichgewicht auf seinen wackligen Beinen zu halten, ausgerutscht. Er war hintenüber auf den kleinen Berg Schutt gekippt und dort unglücklich auf der Kante einer größeren Betonplatte gelandet, die ihm kurzerhand das Genick gebrochen hatte.
Dieses Geräusch kannte der Vampir zu gut. Das hatte er schon unzählige Male zuvor gehört. Trotzdem ging er hinüber zu dem Jungen und hockte sich neben ihn, um sich zu vergewissern, dass er auch wirklich tot war. Seufzend erhob der Unsterbliche sich wieder, nachdem er den Nacken des Studenten einer kurzen Untersuchung unterzogen hatte. Der Dunkelhaarige hatte es definitiv hinter sich.
»Scheiße!«, fluchte Hiram, drehte sich um und verschwand in der Dunkelheit.
-
Das Vibrieren seines Handys auf der Tischplatte riss Alex aus einem unruhigen Schlaf. Total neben der Rolle schaute der junge Mann auf das Display und fluchte vernehmlich, als er die SMS seines Kumpels las, in dessen Pub er an den Wochenenden schon mal hinter der Bar jobbte. Sasha wollte, dass Alex an diesem Freitag und Samstag antrabte zum Arbeiten. Danach stand dem jungen Mann nun gerade wirklich nicht der Sinn. Also schrieb er kurzerhand eine Nachricht zurück.
Sorry, bin krank. Du musst dir nen Anderen suchen
Alex wusste, dass Sasha ihm das nicht übel nehmen würde, denn in den vier Jahren, die der junge Hexer den Job schon machte, war er erst einmal so mies dran gewesen, dass er sich hatte krankmelden müssen. Außerdem kannte sein Boss ihn gut genug, um zu wissen, dass Alex nicht ohne Grund blau machte.
Wie erwartet, kam als Antwort auch nur ein Okay! Gute Besserung zurück.
Der junge Mann legte das Handy wieder auf den Tisch und drehte sich auf die Seite, aber an Schlaf war nicht mehr zu denken. Alex hatte sowieso extrem schlecht geschlafen und es hatten ihn wieder verschiedene Alpträume gequält. An einen konnte er sich sogar bruchstückweise erinnern. Zumindest an die Parts, als er von Etwas durch die Stadt gejagt worden war. Diese Art von Traum hatte er in letzter Zeit ja schon mehrmals gehabt und es machte ihm Angst. Vielleicht sollte er das Kiffen doch wieder einschränken.
Seufzend erhob Alex sich, nachdem er sich noch eine Weile vergeblich hin und her gewälzt hatte, und ging hinüber ins Bad.
Während er Wasser in die Wanne laufen ließ, putzte er seine Zähne, um den widerlichen Geschmack in seinem Mund loszuwerden und rasierte sich anschließend.
»Du siehst aus wie ein Penner«, brummte er sein Spiegelbild an, musste dann aber lachen. Wen interessierte es schon, ob er einen Drei-Tage-Bart hatte oder nicht? Alex war alleine hier, erwartete auch keinen Besuch in den nächsten Tagen und es zwang ihn auch niemand, die Wohnung zu verlassen.
Als er wieder wie er selbst aussah, zog er sich aus und wollte gerade in die Wanne steigen, als es klingelte. Das konnte doch jetzt nicht wahr sein. Alex wartete einen Moment, denn eigentlich hatte er keine Lust auf niemanden. Er wollte allein sein. Einfach nur seine Ruhe haben. Doch es klingelte wieder und wieder. Schließlich war der junge Mann es leid, schlüpfte in seinen Bademantel und ging den Flur hinunter zur Tür.
»Wer du auch bist, du hast gewonnen. Also hör auf, meine Klingel zu vergewaltigen«, knurrte er vor sich hin.
Wer zum Geier konnte das bloß sein? Vielleicht wieder Scott? Aber der hatte doch einen Schlüssel. Alex drückte auf den Türöffner und wartete. Schritte kamen die Treppe herauf und verstummten vor seiner Wohnung. Dann klopfte es.
Einen kurzen Moment noch zögerte der junge Hexer. Er fühlte sich irgendwie ziemlich nackt, nur in seinem Bademantel. Vielleicht sollte er den Besucher vor der Türe einen Moment vertrösten und sich besser etwas anderes überziehen? Wenigstens eine Hose?
Es klopfte erneut.
»Ja, Moment. Ich bin sofort da. Ich …«
»Alex, ich bin’s. Mach auf.«
Das Herz des jungen Mannes schien einen Moment auszusetzen, als er die Stimme erkannte und ihm bewusst wurde, zu wem sie gehörte. Das konnte doch jetzt nicht wahr sein. Er merkte, dass seine Finger leicht zu zittern anfingen.
»Alex! Mach die verdammte Tür auf!«, kam es erneut von der anderen Seite.
Der junge Hexer konnte die Ungeduld und Gereiztheit des Anderen heraushören.
»Ja, doch«, brummte Alex und drückte endlich die Klinke herunter.