Der Umzug
Ich fing an zu weinen, als ich meine beste Freundin umarmte. Ab heute würde alles anders werden. Nachdem meine Eltern mir vor vier Wochen eröffnet hatten, dass Papa den Job an der Uni bekommen hat, wir aber dafür aus unserer kleinen Stadt nach Boston umziehen mussten, war eine Welt für mich zusammen gebrochen. Wir wohnten hier schon mein ganzes Leben. Ich hatte hier meine Freunde, die ich schon seit dem Kindergarten kannte und einen Freund, mit dem ich schon seit zwei Jahren war, aber immer noch unglaublich verliebt in ihn bin, wie am ersten Tag.
Außerdem mussten wir Sky, unsere Golden Retriever Hündin, weggeben, da in unserer neuen Wohnung keine Haustiere erlaubt waren. Zum Glück wusste ich sie in guten Händen, dank der Eltern meines Freundes Ben, die sich bereit erklärt hatten, Sky zu übernehmen.
Als ich mich von Tessa löste und sie ansah, merkte ich, dass auch ihr die Tränen über die Wangen liefen.
„Du wirst mir so unglaublich fehlen“, sagte sie und ich fing an zu schluchzen. „Wer wird mit mir denn jetzt nach der Schule Donuts essen gehen? Oder wer hilft mir Mittwochs bei Grammy?“
Seit Tessas Großmutter vor 1 ½ Jahren einen Schlaganfall hatte, sind wie jeden Mittwochnachmittag zu ihr gefahren, um für sie einkaufen zu gehen und ihr im Haushalt zu helfen.
Doch nun war das nicht mehr möglich, denn ab heute Abend würden ca. 400 km zwischen mir und meiner Heimatstadt liegen. Bei dem Gedanken daran, traten mir erneut die Tränen in die Augen und verschleierten meinen Blick.
„ich werde die so oft wie nur möglich besuchen und dann essen wir so viele Donuts wie wir können. Okay?“
Tessa nickte, lachte und wischte sich die Tränen ab.
Ich drehte mich kurz um, da meine Mutter meinen Namen rief. „Wir müssen in 10 Minuten los, wenn wir nicht zu spät ankommen wollen“, meinte sie. „Ja ich komme gleich“, rief ich zurück und wandte mich wieder meiner besten Freundin zu. „Auf Wiedersehen, Tess“, flüsterte ich ihr ins Ohr, während ich sie fest an mich drückte. Plötzlich legte mir jemand seine Hand auf meine Schulter und ich zuckte zusammen. Als ich mich umdrehte, blickte ich in zwei wunderschöne grüne Augen, die mich jedes mal aufs neue umhauten. Doch der Gedanke daran, Ben nicht mehr jeden Tag zusehen, schmerzte so sehr, dass ich ihn beiseite schob und meinem Freund um den Hals fiel. Abermals kämpfte ich mit den Tränen, als er mir einen Kuss auf die Stirn gab. Das würde ich am meisten vermissen. Seine Küsse, die so voller Leidenschaft waren, dass ich jedes mal fürchtete ohnmächtig zu werden.
Ich lernte ihn vor zwei Jahren kennen. Mein Vater hatte seinen Kollegen und deren Frau und Sohn zum Abendessen eingeladen. Es war wie Liebe auf den ersten Blick, als ich ihm in die Augen blickte. Bis dahin hatte ich nicht daran geglaubt, eher an große Zuneigung oder ähnlichem, aber ich war wie von Donner gerührt, als ich Ben das erste mal sah. Für den Rest des Abends konnte ich kaum meine Blicke von ihm lassen. Und ihm schien es genauso zu gehen. Denn immer dann, wenn ich ihn nicht wie eine Liebeskranke an schmachtete, spürte ich seine Blicke um so deutlicher auf mir ruhen. Als der Abend schließlich zu Ende ging und sich alle verabschiedeten, steckte Ben mir eine Servierte zu auf die er, wie ich später in meinem Zimmer gesehen habe, in aller Eile seine Handynummer gekritzelt hatte. Seit dem Abend haben wir gefühlt ununterbrochen geschrieben und telefoniert. Irgendwann haben wir bemerkt, dass wir die gleichen Gefühle füreinander hegten und von diesem Moment waren wir unzertrennlich.
Um diese Gedanken schüttelte ich den Kopf und löste mich ruckartig aus seinen Armen, sodass ich nach hinten stolperte und Tessa, die immer noch hinter mir stand, mich stützen musste.
„Ich muss los“, murmelte ich und stürzte an ihm vor zum Umzugswagen. Es brach mir das Herz, doch ich konnte es nicht mehr ertragen in seinen Armen zu liegen, ohne zu wissen, wann wir uns wieder sehen. Es könnte nächste Woche sein, aber auch erst in einem Monat. Und genau diese Unkenntnis machte mich beinahe verrückt.
Als ich beim Wagen an kam und die Tür aufriss, hörte ich Ben meinen Namen rufen. Er war mir nach gelaufen und stand nur dicht vor mir. Er küsste mich ein allerletztes mal, bevor er sich endgültig von mir löste und mir noch ins Ohr flüsterte: „Bis bald, mein Schatz. Mach dir keine Sorgen, wir sehen uns sehr bald wieder.“
Ich hatte keine Zeit, nach zu fragen, was er damit gemeinte, denn meine Mutter hatte sich schon an ihm vorbei gedrängt und mich ins Auto geschoben. „Auf wiedersehen“, flüsterte ich Ben noch zu und zog dann die Tür zu. Eine Minute später startete mein Vater den Motor und fuhr langsam an. Ein letztes mal winkte ich Tessa und meinem Freund zu. Als wir um die nächste Ecke bogen und somit außer Sicht waren, fing ich hemmungslos an zu schluchzen. Mein älterer Bruder Philipp legte tröstend seinen Arm um meine Schulter und zog mich an ihn ran. Von einem Weinkrampf gerüttelt, lehnte ich mich an seine Schulter. Nach einer Weile hörte ich Philipp leise singen. Es war ein Lied, dass er mir früher immer vorgesungen hatte, wenn ich geweint habe. Ich war irritiert, aber auch unendlich dankbar und berührt. Augenblicklich fühlte ich mich wieder als ein kleines Kind und beruhigte mich allmählich. Gebannt lauschte ich seiner tiefen Stimme. Nach ein paar Minuten schlief ich erschöpft ein, während wir stetig in unsere neue Zukunft fuhren.
Fünf Tage später schlängelte ich mich durch die Umzugskartons, die noch immer in meinem Zimmer herum standen, als ich die Türklingel hörte. „Machst du bitte auf, Elena“, rief mein Vater aus der Küche. „Ja, mache ich“, rief ich zurück und warf die Schere auf mein Bett. Anschließend schob ich ein paar Kartons beiseite und machte mir den Weg zur Zimmertür frei. Als ich sie erreichte, schlitterte durch den Flur zur Wohnungstür und riss sie auf. Augenblicklich erstarrte ich und tausende Gedanken schossen durch meinen Kopf. 'Das kann nicht sein. Oder doch? Träume ich?' Nach einer gefühlten Ewigkeit löste ich mich aus meiner Starre und hauchte: „Ben...“
„Hey, mein Schatz.“ Wie in einem dieser kitschigen Romantikfilmen, stand er mit einem Strauß roter Rosen und einer Tafel meiner Lieblingsschokolade vor der Türschwelle und lächelte sein verschmitztes und unwiderstehliches Lächeln, wie ich es liebte. Schließlich hielt ich es nicht mehr aus und warf mich mit Tränen in den Augen in seine Arme. Ich weiß nicht, wie lange wir dort so standen, ob es nur ein paar Sekunden waren oder mehrere Minuten, doch irgendwann, löste und lautes Bellen aus der Umarmung. „SKY!“, brüllte ich, wobei sich meine Stimme überschlug. Ich beugte mich runter zu dem aufgeregten Hund runter und kraulte ihm das Fell. „Du hast ihn mitgebracht. Aber warum?“, flüsterte ich gerührt. Erst die Blumen und die Schokolade und dann Sky. Wieder einmal wurde mir bewusst, wie sehr ich ihn liebte. „Ich dachte, du willst ihn doch sicher wieder sehen und wie ich sehe, lag ich damit nicht falsch“, schmunzelte er. „Wollen wir spazieren gehen?“ „Ja, gerne. Ich hole mir nur eben eine Jacke und sag Bescheid, dass wir spazieren sind.“, antwortete ich freudestrahlend. „Klar. Mach das. Und Elena?“ „Ja?“
In der nächsten Sekunde hatte er meine Hand gepackt und zog mich zurück in einen innigen Kuss. Meine Knie drohten schon nach zugeben, als er sich schließlich von mir löste und dicht an meinen Lippen flüsterte: „Hallo.“
Zehn Minuten spazierten Hand in Hand durch die mittlerweile zugeschneiten Straßen von Boston. Durch Sky kamen wir kaum voran, denn er meinte überall schnuppern und hin pinkeln zu müssen. Aber es störte mich nicht. Ich war glücklich. Glücklich hier mit Ben schweigend lang zu gehen.
Irgendwann brach Ben das Schweigen zwischen uns: „Komm. Ich möchte dir etwas zeigen.“ Dann zog er mich mit an der Hand sanft durch die Straßen, bis wir vor einem dreistöckigen Wohnhaus stehen blieben. „Das wolltest du mir zeigen? Ein Haus? Ist ja nicht so, dass es die hier in Boston überall gibt“, spottete ich. „Nein, das wollte ich dir natürlich nicht zeigen“, sagte er mit einem geheimnisvollen Glitzern in den Augen. „Kommt mit.“ Er zog mich weiter Richtung Hauseingang, was sich als äußerst schwierig erwies, da Sky überall anhalten wollte.
„Nein, Sky. Komm jetzt mit“, sagte ich langsam genervt und zerrte ungeduldig an der Leine. Am Eingang angekommen, fischte Ben einen Schlüssel aus seiner Jackentasche und schloss auf. „Woher hast du einen Schlüssel für diese Haus?“, fragte ich verwundert. „Erkläre ich dir gleich.“ Wir gingen die Treppen bis in den zweiten Stock hoch. Dort schloss er ebenfalls eine Tür auf und traten in die dunkle Wohnung. Im nächsten Augenblick erhellte Licht den Flur. Wie bei ihr zu Hause sah es so aus, als wäre hier gerade erst jemand eingezogen. Überall standen Umzugskartons herum. „Und?“, fragte Ben aufgeregt. „Gefällt sie dir?“ „Ben.... Ist das deine Wohnung?“, fragte ich erstaunt.
„Ähm, ja. Das sollte eine Überraschung sein. Ich habe mich hier für die Uni eingeschrieben. Für die Wohnung habe ich mich vor ein paar Wochen beworben. Ich habe den Gedanken nicht ertragen können, 400 Km von dir entfernt zu sein.“
Fassungslos starrte ich ihn an. Unendlich viele Gefühle strömten auf mich ein. Ich war wütend, weil er mir seit Wochen verschwiegen hatte, dass er ebenfalls nach Boston zieht und mich hat leiden lassen. Aber auch unendlich glücklich. Einerseits wollte ich ihm die Rübe einschlagen, andererseits wollte ich...ach, ich wollte so vieles. Doch in in diesem Moment überwog das Gefühl des Glücks. Wortlos bewegte ich mich auf ihn zu. Dicht vor ihm blieb ich stehen. An seinem Gesichtsausdruck konnte ich erkennen, dass er nicht wusste welche Reaktion auf seine Offenbarung folgte und war sichtlich erleichtert, als ich ihn schließlich zu mir runter zog. „Mistkerl“,flüsterte ich, bevor ich ihn leidenschaftlich küsste.
Und auf einmal wurde mir klar, dass ich, trotz meiner jungen 17 Jahren, meinen Seelenverwandten gefunden habe. Denjenigen, mit dem ich mein Leben verbringen wollte.
Ende