Interpretation. Man kann sie nicht vorschreiben. Interpretation lässt schließlich Freiraum für die eigene Wahrnehmung, für das, was man selbst sieht. Da fließt so viel mit ein. Seine eigenen Erfahrungen, seine eigenen Ansichten von Freiheit und Nicht-Freiheit, von gut und schlecht, von richtig und falsch. Wenn ich finde, Goethe drückt hier seinen Schmerz aus, dann habe ich vielleicht Schmerz so empfunden, wie er es hier beschreibt. Währenddessen kann ein anderer gnadenlos behaupten, das sei lediglich eine simple Schilderung der Situation, ohne jegliche Wertung. Jede Situation lässt Spielraum für seine eigene Interpretation. Jede Situation lässt mich an ein Ereignis der Vergangenheit erinnern oder eben nicht. Interpretation lässt mir sowohl die Möglichkeit, Vergangenes zu reflektieren, aber auch Zukünftiges Handeln zu überdenken. Manche Situationen lassen mich nachdenken über mein eigenes Tun. Ich interpretiere die Situation aus dem Hintergrund meiner Geschichte heraus. Meine bisherigen Erfahrungen und die Interpretation meiner Lehrer - damit meine ich nicht nur die Lehrer in der Schule, die mir Mathe und Deutsch beibringen oder mir erklären, wie ich den dritten Satz von Mozarts Sonate in C-Dur zu interpretieren habe, sondern vor allem auch diejenigen, die mich das Leben lehren - prägen mich und meine Interpretation jeglicher Situation. Vor fünf Jahren zum Beispiel habe ich die gleiche Situation sicher völlig anders interpretiert, als ich es jetzt vielleicht tun würde, einfach aufgrund meiner Erfahrung oder eben Nicht-Erfahrung, die ich in diesem Augenblick besaß. "Vielleicht" aus diesem Grund, weil auch meine innere Emotion und das Umfeld eine große Rolle spielen. Ein gleicher Satz von zwei unterschiedlichen Personen in unterschiedlichen Räumen gibt Hintergrund für unterschiedliche Interpretationen. Ein Beispiel: Wenn jetzt die Mutter ihrem acht-jährigen Sohn erklärt, er solle sein Zimmer aufräumen, könnte dieser sich denken: " [Raum für Interpretationsmöglichkeit] " Wenn jetzt aber ein Vater zu seiner 17-jährigen Tochter sagt, sie solle ihr Zimmer aufräumen, könnte sie sich denken: " [Raum für Interpretationsmöglichkeit] " Wenn man jetzt die beiden exakt selben Sätze in dem Hintergrund der Situation heraus betrachtet, ergeben sich völlig verschiedene Interpretationen und ich schätze auch bei jedem einzelnen von uns wird es unterschiedliche Interpretationsergebnisse geben. Allein schon deshalb, weil es für manche selbstverständlich ist, sein Zimmer aufzuräumen, während andere entweder in ihrem ständigen Chaos leben oder sie eine scheinbar unsichtbare Putzhilfe haben. Interpretation ist also immer eine Sache des Betrachters... und eben reine Interpretationssache.
Wir sollten also jedem Raum für seine eigene Interpretation der Situation lassen und uns gleichzeitig erlauben, die Situation aus einem anderen Blickwinkel aus zu betrachten. Es ist wunderbar zu sehen, wie viele Interpretationsmöglichkeiten es für ein und dieselbe Situation geben kann. Findet es heraus, vielleicht schon bei der nächsten zu interpretierenden Situation. Und diese ist genau jetzt oder jetzt oder auch jetzt. Interpretation ist immer.