Kapitel 1 (https://www.youtube.com/watch?v=FczC8xfNleE)
Die Welt ist ein verwirrender Ort und damit meine ich vorerst mal die Welt, die wir alle kennen.
Dann gibt es aber noch fast unendlich viele andere Welten, von denen die meisten Menschen noch nie etwas gehört haben.
Nun, ich persönlich lebe im Moment in zwei dieser Welten.
Einerseits in der, nennen wir sie, „reale Welt“ und in einer Parallelwelt, in der Fabelwesen sowas von existent sind, dass sie dir schon mal morgens beim Aufstehen begegnen können.
Ich mag es aber, immer wieder aufs Neue überrascht zu werden und nicht zu wissen ob mich jetzt ein Spatz oder vielleicht ein singender Drache aufweckt.
Oh entschuldigt, ich habe ganz vergessen mich vorzustellen!
Also.
Gestatten? Mein Name ist Ceridwen und ich bin Keltin.
Jaja, ihr habt da schon ganz richtig gelesen!
Keltin, nicht etwa Irin oder Schottin, nein, nein, Keltin.
Ich gehöre dem alten Volk der Kelten an, das schon seit Ewigkeiten nicht mehr über die reale Erde wandert.
Trauriger Weise sind sie auch in allen anderen Welten verschwunden, soweit ich das beurteilen kann.
Jetzt fragt ihr euch sicher, wieso ich dann noch lebe, oder?
Tjaaa, „leben“ ist dann immer relativ.
Puh…ich sag’s lieber gerade heraus: Ich bin ein Geist. Ganz klassisch.
Wenn ihr mich sehen könntet, dann würdet ihr wissen, dass ich waldgrüne Augen, braune Haare und ein sehr blasse Haut habe.
Außerdem trage ich, wie für Geister eben typisch, weiße Kleidung. In meinem Fall handelt es sich dabei um ein Hochzeitskleid…mein Hochzeitskleid.
Aber das ist eine andere Geschichte.
Fakt ist, dass ich meine Haare mit der Kapuze des Kleides gerne verdecke.
Wieso? Naja, all die anderen Geister (und glaubt mir, es gibt viel, viel mehr als ihr euch alle zusammen vorstellen könnt) haben kein oder weißes Haar.
Ich bin dann immer die Außenseiterin.
Warum ich so aussehe wie ich aussehe, also kein ganzer Geist bin, weiß ich auch nicht. Ich weiß nur eines, nämlich, dass ich mein ödes Schloss in Irland verlassen wollte und das dann auch getan habe.
Seither sehe ich mir die beiden Welten an und finde immer neue Bekannte, Freunde und auch Feinde.
Eines schönen Abends ereignete sich folgende Begebenheit:
Transsilvanien. Siebenbürgen. Ein wunderschönes Stück Erde, wenn man es durchwandern möchte und an Burgen mangelt es einem auch nicht.
Also habe ich mich entschieden dort ein paar Wochen meines (unendlichen) Lebens zu verbringen.
Ich bin von Burg zu Burg gezogen und konnte es mir natürlich nicht verkneifen einige Touristen zu erschrecken wozu ist man denn ein Geist?
Die Wälder dieser Gegend sind wunderschön. Dunkel, tief und geheimnisvoll. Ich liebe es, wenn man ungestört die Natur genießen kann und tagelang auf keine Menschenseele trifft.
Vor allem aber genieße ich die Anwesenheit der Wildtiere. Ich habe mir in den Jahrtausenden, die ich nun schon auf dieser Erde wandle, die Sprache der Vögel, der Rehe und der Wölfe angeeignet und kann so ihren Gesprächen lauschen.
Eigentlich bin ich ja ein Mensch, aber meine physische Gestalt ist nicht mehr wirklich vorhanden.
Wenn ich wollte, könnte ich mich auch in eine Nebelschwade verwandeln. Es ist nur so, dass ich mich in Form einer Frau einfach wohler fühle…vielleicht, weil ich mir dann irgendwie einreden kann, dass noch ein kleiner Funken Mensch in mir steckt? Wer weiß? Auf jeden Fall streifte ich in diesem Frühjahr durch die Wälder Siebenbürgens und kam schließlich eines Abends an das Tor einer Burg, die mir von allen bis jetzt am gruseligsten erschien.
Als Geist fürchtet man sich aber nicht mehr wirklich vor gruseligen Orten und so habe ich entschieden anzuklopfen.
Ja, ich habe Manieren und spaziere nicht einfach so durch Wände.
Der alte Sack aus Canterville hat den Menschen da ja anscheinend was anderes beigebracht.
Nach mehrmaligem Klopfen öffnete schließlich eine blasse Frau. Kurz betrachtete ich sie und bemerkte sofort, dass ihre Augen blutunterlaufen und rot waren.
„Was wünscht Ihr?“, schnarrte sie und sah mich abschätzend an.
Die Anrede „Ihr“ hätte mich stutzig machen sollen. So redet kein Mensch aus dem 21. Jahrhundert, wenn er nicht gerade auf einer Bühne steht und ein Stück von Shakespeare rezitiert.
Trotz meines unwohlen Gefühls stellte ich mich vor und bat um einen Platz für die Nacht. Missmutig ließ mich die bleiche Frau ein und führte mich an vielen, vielen Türen vorbei zu einem großen Saal.
Hier sollte ich auf den Hausherren warten, meinte sie und verschwand. Endlich hatte ich Zeit mich in Ruhe umzusehen.
Der Raum, in dem ich mich befand war dunkel und gerade so weit mit Kerzen erhellt, dass man die Schatten der Möbelstücke erahnen konnte.
Es handelte sich dabei um eine lange Tafel mit dreizehn Stühlen und einigen Kästen sowie Kommoden. Interessant war, dass ich ein ganz bestimmtes Gefühl vermisste. Das Gefühl von Leben.
Dazu sollte ich vielleicht noch erwähnen, dass man als Geist ganz genau spürt, wenn sich ein lebendiges Wesen nähert und ich, als naturverbundene Keltin, merke oft auch um welches Lebewesen es sich handelt.
Aber auf dem Schloss spürte ich nichts, nicht einmal eine Spinne.
Hätte ich noch Puls gehab, wäre er sicherlich in die Höhe geschossen, denn mit einem unheilverkündenden Knarren öffnete sich die große Flügeltür am anderen Ende des Raumes.
Um ehrlich zu sein, schoss mir in diesem Moment ein einziger Gedanke durch den Kopf.
Wow.
Vor mir stand ein Mann, Mitte 30, schwarzes, schulterlanges Haar und schneeweiße Haut. Seine Lippen waren rot, seine Augen schwarz.
Er hätte auch Schneewittchen sein können, nur löste er in mir ein anderes Gefühl aus als diese Ziege.
Es war…nun wie soll ich sagen…ich fühlte mich irgendwie angezogen von diesem Mann. Auch wenn ich sofort wusste, dass ich keinem Lebenden gegenüberstand, wollte ich nicht gehen. Nein, ich wollte bleiben und sehen was passierte.
„Ihr batet also um ein Nachtlager?“
Seine Stimme war kühl, ja um nicht zu sagen eiskalt.
„Ja, das tat ich. Seid Ihr der Herr dieser Burg?“
Meine Stimme hingegen klang dagegen dünn und schwach.
„In der Tat, der bin ich. Mit wem habe ich das Vergnügen?“
„Ceridwen“, antwortete ich wahrheitsgemäß.
Der Mann war einige Schritte auf mich zu gekommen und beäugte mich interessiert. „Ceridwen“, wiederholte er und es wirkte als ließe er sich den Namen auf der Zunge zergehen.
„Wie darf ich Euch nennen?“, erkundigte ich mich und ein Lächeln huschte über die Lippen meines Gegenübers. Kurz kamen weiße Zähne zum Vorschein und wenn mich nicht alles täuschte, dann waren seine Eckzähne ziemlich spitz.
„Vlad, nennt mich Vlad.“
Mit einer eleganten Handbewegung bot er mir einen Platz an der Tafel an, ohne mich jedoch aus den Augen zu lassen.
Höflich, wie ich war, setzte ich mich. Irgendetwas war hier ganz und gar nicht geheuer. Ich schwöre bei all meinen Göttern, dass ich noch nie so ein unangenehmes und gleichzeitig prickelndes Gefühl gespürt hatte.
„Habt Ihr Hunger?“ Ich verneinte.
Geister essen grundsätzlich eher wenig.
„Durst?“ Erneut lehnte ich dankend ab.
Geister trinken zwar, doch im Moment wollte sicherlich nichts meine Speiseröhre hinunter. (Für diejenigen unter euch, die glauben, dass man alles sieht, was Geister essen: Stimmt nicht! Alles eine Lüge!)
Eine peinliche Stille war eingetreten, die der Burgherr wohlweißlich nutzte, um mich weiter unter die Lupe zu nehmen.
„Ihr seid blass“, sagte er schließlich.
„Ihr seid aber auch kein sonnengebräunter Beachboy“, konterte ich.
Vlad zog eine Augenbraue hoch und lächelte.
„Touché.“
Das Anstarren hatte plötzlich ein Ende als die Frau, die mir auch das Tor geöffnet hatte, mit einem Tableau aus Holz hereinkam.
Sofort roch ich etwas, das ich seit vielen Jahrhunderten nicht mehr so intensiv gerochen hatte, wenn man von den Schlachtfeldern dieser Welt absah.
Blut.
Was ich bis zu diesem Moment nur geahnt und befürchtet hatte, wurde mir schlagartig klar. Der attraktive Mann, der keine zwei Meter neben mir an der Tafel saß, war ein Vampir.
Und wenn ich mir die geografische Lage und den Fakt, dass der mit Vornamen Vlad hieß, ins Gedächtnis rief, war er nicht irgendein Blutsauger, sondern DER Blutsauger. Die Frau stellte einen Kelch vor meinen Gastgeber und er trank einen Schluck.
„Sagt mir, was führt Euch in diese Gegend?“
„Ich wollte allein sein, ungestört.“
„Ein guter Ort, um Einsamkeit zu suchen.“
„Wie wahr.“
„Man trifft nur selten auf lebende Menschen.“
Bei dem Wort ‚lebende‘ leuchteten seine Augen kurz auf. Glaubte er etwa ich sei lebendig? Tja, dann hatte er sich wohl geschnitten (oder gebissen?)
Nachdem der Hausherr seine Mahlzeit eingenommen hatte, begleitete er mich auf eines der vielen Zimmer.
Vampir hin oder her, gastfreundlich war er, das musste ich zugeben. Ich war in einen hellen, freundlichen Raum gebracht worden, den man auf so einer dunklen Burg nicht erwarten würde.
„Für meine Gäste nur das Beste“, antwortete Vlad auf meinen Dank.
Erschöpft wie ich war, warf ich mich auf das weiche Bett. (Ja, auch Geister müssen schlafen.)
Einerseits fühlte ich mich in dem Schloss sehr wohl, andererseits ahnte ich, dass es sicherlich nicht bei diesen vielsagenden Blicken bleiben würde.
Dieser Blutsauger hatte sichtlich noch etwas vor. Trotz all der Sorgen, die ich mir machte, schlief ich schneller ein als ich gedacht hatte.
Heißer Atem weckte mich mitten in der Nacht auf. Ich spürte ihn an meinem Hals so wie ich auch Zähne an ihm spürte.
Das war es also, was dieser Kerl noch vorgehabt hatte. Ich war sein Mitternachtssnack! Doch da kein Blut mehr durch meine Adern floss und ich auch keine Haut mehr hatte, die er hätte durchbeißen können, blieb ich seelenruhig liegen und tat als würde ich schlafen.
Was würde er tun, wenn er entdecken würde, dass ich kein lebendiges Wesen aus Fleisch und Blut war?
Trotz meiner Blutleerheit glaubte ich zu fühlen wie meine Wangen sich erwärmten. Der Mann hatte Charme, das musste man ihm lassen und seine Nähe…puh…jetzt wusste ich auch woher die vielen Opfer kamen.
Das waren wohl zu 99% Frauen.
In dem Moment hörte ich wie seine Zähne knirschten. Dracula hatte wohl durch mich durchgebissen. Das sagte mir auch der Schmerz, den ich dumpf spürte.
An dieser Stelle sollte ich wohl erwähnen, dass ich durchaus alles spüren kann, was mit meinem Körper passieren würde.
Also Geist ist nicht gleich gefühlslos oder so.
„Was…?“, hörte ich ihn leise flüstern.
Tja, Pech gehabt, Freundchen, dachte ich bei mir und unterdrückte ein Grinsen.
Aber was dann geschah, hätte ich in einer Milliarde Jahren nicht erraten können.
Der große Graf Dracula küsste meine Stirn und flüsterte leise in mein Ohr: „Somn ușor.“
Dann verschwand er und ich blieb ratlos zurück. Naja, er hatte kein Blut erbeuten können, aber ich hätte meinem Opfer deshalb trotzdem keinen Kuss gegeben und ihm eine gute Nacht gewünscht. Rätsel über Rätsel, die ich am nächsten Morgen knacken wollte.
Das Rätsellösen musste warten, denn den Tag über fand ich meinen Gastgeber nirgends. Im Nachhinein betrachtet war das nur logisch, denn er schlief schließlich tagsüber.
So hatte ich Zeit die Burg zu besichtigen. Sie hatte wirklich sehr, sehr viele Türen und ich wollte lieber nicht hinter alle sehen.
Oft sollten Geheimnisse auch geheim bleiben und davon gab es hier sicherlich genug. Erst als die Sonne hinter den Tannenwipfeln versank, traf ich Vlad in seiner Waffenkammer.
„Nächtigt Ihr noch eine Nacht hier?“, fragte er ohne von einem silbernen Dolch in einer Vitrine aufzublicken.
„Wenn Ihr es erlaubt, Graf.“
„Graf? Sagte ich nicht Ihr sollt mich Vlad nennen?“
Ich nickte kurz und nahm dann all meinen Mut zusammen.
„Ihr wisst wohl schon, dass ich nicht ganz so…nun so lebendig bin, wie Ihr es wohl gerne hättet.“
Ohne den Blick zu heben antwortete er: „Ja, das habe ich in der Tat schon herausgefunden.“
„Und dennoch wollt Ihr mich eine weiter Nacht beherbergen?“, erkundigte ich mich unsicher.
Der Graf nickte: „Gastfreundschaft wurde bei den Țepeș schon immer großgeschrieben. Egal ob Freund oder Feind.“
Ich schluckte. Feind?
„Ich hoffe, dass Ihr mich nicht als letzteres betrachtet, Vlad.“
Bei meinen Worten war ich einen Schritt auf ihn zu gegangen. Nun endlich hob er den Blick.
„Warum sollte ich? Nur weil Ihr mir nicht als Mitternachtshäppchen gedient habt? Seid bitte nicht töricht.“
„Keines Falls“, meinte ich und war erleichtert.
Den großen Dracula zum Feind zu haben, wäre sicherlich keine gute Sache.
Ich blickte mich um. Es war ein schön gestalteter Raum.
An der Wand hingen Bilder von Jagden und Festen. Eines der Werke ließ mich länger hinsehen. Es zeigte einen Wolf.
„Wisst Ihr, dass ich jemanden kenne, der Euch auch schon besucht hat? Nun zumindest seinen Geschichten zufolge…“
Der Vampir sah mich an, so als wolle er sagen, ich solle weitersprechen.
„Kennt Ihr Marvin?“
Mit einem Mal verhärtete sich der Blick des Schwarzhaarigen und er kam bedrohlich einen Schritt näher.
„Durchaus.“
Kurz schloss ich die Augen. Warum konnte ich meine Klappte nicht halten?
Der Graf war sichtlich schlecht auf meinen Bekannten zu sprechen.
„Schlechte Erfahrungen?“, fragte ich mit dünner Stimme und den Blick zu Boden gerichtet.
Kühl antwortete mein Gastgeber: „Sprachbarrieren.“
Nach unendlich langen Minuten des Schweigens schließlich räusperte er sich und ich blickt auf.
Der Vampir sagte: „Ich habe wunderschöne Gärten, die Ihr gesehen haben solltet“ und bot mir seinen Arm an.
Erleichtert über den Themenwechsel, hakte ich mich ein und wir verließen die Waffenkammer.
Zwei weitere Nächte verbrachte ich auf der Burg von Dracula und verließ ihn mit dem Versprechen ihm zu schreiben.