Prolog
Sie lebte in einer wilden Welt, auf einer wunderschönen, grünen Insel mit gewaltigen, grauen Klippen, weiten, weissen Stränden und rauem Klima. Ihr Heim war hoch oben auf einer der Klippen und das Haus in dem sie wohnte bestand aus verwitterten, grauen Gestein und war mit einem Strohdach bedeckt. Ihre ständigen Begleiter waren drei weisse Pferde: Ein Hengst, eine Stute und ein Fohlen. Diese waren ihr treu ergeben und doch lebten sie frei und eigenständig. Die Tiere liebten es über die weiten, saftig grünen, vom Wind zerzausten, teilweise von uralten, niedrigen Steinmauern befriedeten Wiesen, zu streifen und dort gemütlich zu grasen. Doch wenn sie von ihr gerufen wurden, kamen sie sogleich herangaloppiert. Egal wo sie sich auch immer befanden. Die Tiere waren schnell wie der Wind, manchmal schien es, als würden sie fliegen.
Sie lebte einsam und allein, was ihr jedoch sehr gefiel und unternahm oft ausgedehnte Ausritte, auf einem der Pferde, welche sie Blitz (Stute), Donner (Hengst) und Stern (Fohlen) nannte. Sie war eine sehr gute Reiterin, trug meistens bequeme, wallende Gewänder aus Leinen, oft in weiss- blauen, gold- weissen oder grün- weissen Farben. Sie war ganz besonders verbunden mit dem weiten Meer, das manchmal silbern, manchmal golden, manchmal tiefblau glänzte, je nach Witterung, oder Tageszeit. Jeden Tag stand sie mit der Sonne auf und ging auch wieder mit der Sonne zur Ruhe.
Manchmal, wenn sie nicht schlafen konnte, unternahm sie lange, nächtliche Spaziergänge, in der näheren Umgebung. Sie liebte es, wie der Mond sich silbern in den weiten Wassern spiegelte. Wie die wilden, mit Gischt gekrönten Wellen, gegen die Felsen brandeten und diese immer mehr unterhöhlten. Es gab viele Höhlen und Grotten in der Gegend. Voll mit Geheimnissen, geschaffen von den Kräften der Natur, der gewaltigen Macht des Wassers. Das Wasser war ihr ganz besonderes Element und sie konnte sich dessen Magie, dessen Medizin zunutze machen. Sie fühlte sich verbunden mit aller lebenden Kreatur und stand als Uralte auch in enger Verbindung mit der Anderswelt und den darin lebenden Geschöpfen. Manchmal war sie auch etwas traurig, denn die Menschen hatten sie schon oft enttäuscht und sie hatte schon lange kein wirkliches Vertrauen mehr zu ihnen. Darum lebte sie hier so zurückgezogen. Sie war frei, sie war kämpferisch und wunderschön, mit langem Haar, das an goldenen Weizen erinnerte und Augen die wie die reinsten Smaragde glänzten. Wenn sie wollte, konnte sie selbst zu einer schneeweissen Stute werden und über die Weiten der Insel preschen. Die Insel war wahrlich wunderschön, mit dichten Wäldern, Bächen, Wasserfällen und den endlos weiten Graslandschaften, die manchmal durchbrochen wurden von Heidekraut. Viele wussten von ihr, nur wenige kannten sie wirklich. Aber eines hatten alle gemein: Sie nannten sie Die Pferdefrau.
1. Kapitel
Der Baum
Lea erwachte aus ihrem tiefen, fast totenähnlichen Schlaf und öffnete ihre Augen. Sie rechnete damit, wieder daheim bei ihrer Familie zu sein. Doch weit gefehlt! Sie befand sich an einem gänzlich anderen, jedoch ebenfalls wundervollen Ort. Einem Ort, den sie schon mal glaubte in ihrer Jugend gesehen zu haben. Es war in Wales, in Grossbritannien und sie befand sich hoch oben auf einer Klippe. Ein gewundener Weg, führte von der Klippe hinunter zu einem herrlichen, weiten und erstaunlich flachen Strand, der auf Landseite von Geröll und Steilwänden umschlossen war. Es war ein wundervoller Blick von hier herunter, wo sie gerade stand. Ja, tatsächlich war sie einst hier gewesen, während ihres Sprachaufenthaltes in England. Dennoch wirkte alles irgendwie anders, viel magischer. Das Meer glitzerte in klarem Hellblau. Der von einigen Wolkenfeldern durchbrochene Himmel, spiegelte sich darin. Alles wirkte wild und ungezähmt.
Sie beobachtete die hohen Wellen, welche gegen die Klippen brandeten und ihre Gischt glitzerte wundersam. Als sie näher hinschaute, glaubte sie kleine, beinahe durchsichtige Wesen auszumachen, welche auf den Wellenkämmen ritten. Wenn sie jeweils auf die Steilwände trafen, zersprangen diese in tausend glitzernde Perlen, die sich dann jedoch kurz darauf wieder zu einem weiteren solchen Wesen formten, welche sich einen Spass daraus zu machen schienen, mit möglichst viel Kraft gegen die Felsen zu krachen. Es schien ihnen nicht auszumachen, dass sie dabei in ihre glitzernden Bestandteile zersplittert wurden, denn sie setzten sich gleich wieder zusammen und versuchten es erneut. Lea wohnte dem Schauspiel ein paar Minuten atemlos bei, dann ging sie langsam den kleinen Trampelpfad entlang, auf welchen sie hinunter zum Strand gelangen konnte.
Zuerst führte der Pfad jedoch noch eine Weile oben am Klippenrand entlang, bis Lea zu einem Felsvorsprung kam, auf der sich ein riesiger, wunderschöner Baum befand. Es war eine Buche. Seltsam, was machte eine Buche hier an diesem unwirtlichen Ort? Der Wind blies kühl und zerrte an ihren ausladenden Ästen. Lea wurde sich bewusst, dass sie ein einfaches und bequemes, eierschalenfarbiges Wollgewand trug. Es hatte eine lange, mit goldenen Fibeln an den Schultern befestigte Schleppe, die im kühlen Wind flatterte. Ihr Haar war von der Farbe her wie immer, aber etwas länger, ein Bisschen bis über die Schultern. Ein kunstvoll geschmiedetes Diadem aus Bronze schmückte ihre Stirn.
Sie ging zu dem besonderen Baum und in diesem Moment erkannten sie ihn wieder! Es war jener Baum, auf dem sie als Kind immer herumgeklettert war. Damals als ihre Welt noch intakt und unbeschwert gewesen war. Was aber machte dieser Baum hier? Warum war sie überhaupt an diesem Ort gelandet? Gerade noch, war sie doch im Wald er Rabenfrau gewesen. Sie entsann sich wieder ihrer Schwäche, die sie vor kurzem übermannt hatte und die Ohnmacht dem dunklen Ritter gegenüber, von dem sie einfach nicht wusste, wie sie ihn loswerden sollte. Er haftete noch immer an ihr, wie ein dunkler, klebrigen Schatten, obwohl sie ihn doch eigentlich in einem fairen Kampf besiegt hatte. Doch nun war sie einfach hier und wusste noch weniger, was sie tun sollte. Sie ging zu dem mächtigen Baum, deren kleine, rundliche Blätter leise rauschten und lehnte ihren Kopf an seine erstaunlich glatte, gräulich-braune Rinde.
Auf einmal durchströmten sie Bilder ihrer Erinnerungen. Sie sah sich wieder als kleines, etwa 7 jähriges Mädchen, das glückliche, wundervoll befreiende Stunden in den Ästen dieses Baumes, jedoch auch sonst im Wald, verbracht hatte, stets begleitet von ihrer damals besten Freundin Ella. Ella lebte auf einem Bauernhof, wo es immer viel Interessantes zu sehen und zu erleben gab. Der Wald in dem sie sich oft tummelten, gehörte ebenfalls zum Hof. An der grossen Buche hatte man damals eine Jägerleiter angebracht. Von der Jägerleiter aus, waren sie dann jeweils ins Geäst des mächtigen, mittlerweile sicher uralten Baumes, gelangt. Sie hatten dort gespielt, gepicknickt, alles Mögliche. Ja die Zeit damals, sie war wohl wichtiger für Lea gewesen, als sie sich bisher hatte eingestehen wollen. Damals war sie noch mit ihrem inneren Kind verbunden gewesen nun jedoch… Auf einmal übermannte sie Trauer und Tränen liefen ihr über die, vom kühlen Wind gestreiften, Wangen. Die Tränen flossen wie leuchtende Perlen hinab auf die Rinde des Baumes und dann weiter zu seinem Wurzelwerk, welches zum Teil sichtbar war. Dort versickerten sie, eine silberne Spur hinterlassend. Und… auf einmal war es Lea, als täte der Baum einen tiefen Atemzug. Sie blickte erstaunt am Stamm empor in das dichte, von mattem Licht der Sonne durchbrochene Blattwerk und dies raschelte nun noch mehr, als würde der Baum sich regen. Aber… wie war das möglich? Sie legte ihr Ohr gegen den Stamm und es war als würde ihr Herzschlag zu dem des Baumes werden. Und… auf einmal… glaubte sie seine Seele zu spüren! Sie tauchte tief in dessen Bewusstsein ein. Wenn man bei einem Bau überhaupt Bewusstsein sagen konnte. Nun… hier in der Zwischenwelt war alles möglich. Die Rabenfrau hatte ihr ja auch gesagt, dass alle lebendigen Wesen eine Seele besassen. Warum eigentlich dieser Baum nicht?
Sie begann nun ganz natürlich mit ihm zu sprechen, als ob es sich bei der Buche um einen engen Freund handeln würde „Was ist nur aus mir geworden?“ fragte sie ihn und wieder begannen ihre Tränen in ihren Augen zu brennen. „Warum nur, ist das alles verloren gegangen? Du bist noch das einzige Symbol, das mir aus jener Zeit geblieben ist. Aus jener Zeit, als alles… noch in Ordnung gewesen ist. Als ich noch kaum Leid kannte. Als… ich noch ein glückliches Kind war. Was ist wohl im realen Leben aus dir geworden? Stehst du überhaupt noch? Wie geht es Ella? Ich habe schon so lange nichts mehr von ihr gehört? Ach du lieber, guter Baum meiner Kindheit, ich würde so gerne etwas tun, um dir meine Dankbarkeit zu zeigen… die Dankbarkeit dafür, dass du mir meine Kindheit damals so verschönert hast…“
Und… auf einmal glaubte sie eine leise Stimme in ihrem Herzen zu vernehmen: „Werde für mich zu Regen und tränke mich!“ Sie horchte auf und schaute den Baum erneut voller Erstaunen und mit gerunzelter Stirn an. „Hast… du gerade zu mir gesprochen?“ fragte sie ihn. Keine Antwort, nur das sichere Gefühl, dass sie zu Regen werden musste, für ihren geliebten Baum. Die Frage nach dem Warum, stellte sie sich in jenem Moment nicht, sie gehorchte einfach dieser leisen Stimme und… langsam ganz langsam wurde ihr Körper zu Wasser. Sie bestand aus vielen, klaren, kühlen Tropfen, die glitzerten und funkelten und sie liess ihren Baum davon trinken. Sie sah seine Wurzeln deutlich vor sich, stark, dick und tief mit der Erde verwurzelt. Sie sah sich selbst als Regen in die Tiefen der Erde vordringen. Sie sickerte immer weiter und weiter hinab und dann landete sie plötzlich in einer Art unterirdischen Grotte…