Sie versuchte sich irgendwo festzuhalten und Entsetzen machte sich in ihr breit. Sie schrie nach Hilfe, doch da waren nur ihre eigenen Schreie, welche von den Felswänden widerhallten. Es war wie in einem dieser Alpträume, wo man jeweils in irgendwelche Tiefen stürzte und die Angst die einem dabei ergriff, nahm sich auch hier mehr und mehr ihren Raum. „Papi!“ schrie sie schluchzend „Warum?“
Doch dann nahm ihr Fall auf einmal ein abruptes Ende und sie landete unsanft, aber unversehrt auf einem groben, leicht rutschigen Untergrund. Sie blickte sich um. Langsam gewöhnten sich ihre Augen an die nun doch nicht mehr völlige Dunkelheit und sie sah unter ihren Füssen, etwas Weissliches schimmern. Immer schärfer und schärfer wurden die Konturen und sie bemerkte, dass sie auf einem Haufen rundlicher Gegenstände stand. Sie hob einen dieser Gegenstände auf und nahm in genauer in Augenschein. Ein leiser Schrei entfuhr ihr: Es war ein menschlicher Schädel! Und unter ihr lagen noch hunderte mehr davon. Sie bewegte sich etwas und die Schädel begannen leicht zu rutschen. Doch seltsamerweise konnte sie sich gut ausbalancieren und das war wohl so, weil ihre Füsse nun nackt waren.
Sie spürte ganz genau jede Rundung, jede Kante unter ihren Fusssohlen und fühlte sich auf einmal eigenartig stark und selbstsicher. Fast triumphal stand sie auf all diesen menschlichen Überresten. Waren sie doch Symbol einer vergänglichen Welt, einer Welt welche schlussendlich nur eine Illusion war. Ein Schleier, geworfen über die eigentliche Wirklichkeit. Sie fürchtete sich auf einmal gar nicht mehr, glaubte mehr und mehr zu wachsen, grösser und stärker zu werden. Ihre Haut wurde dunkelblau, sie trug Kleidung, welche nur noch das allernötigsten bedeckte und neben ihrem einen Paar Arme, wuchsen noch zwei weitere Paare. In jeder dieser 6 Hände trug sie Waffen: Vorwiegend Sicheln und Schwerter. Totenschädel und Knochenketten, waren um ihre Gelenke und ihren Bauch geschlungen. Diese rasselten leicht bei jeder Erschütterung. Lea wurde sich gewahr, dass sie langes, buschiges, schwarzes Haar hatte und ein ziemlich furchterregendes Gesicht. Sie wusste nicht, was hier mit ihr genau passierte, aber es fühlte sich wirklich gut an. Sie war zur hinduistischen Toten- und Erneuerungs- Göttin Kali geworden!
Instinktiv begann sie nun auf dem Haufen von Schädeln zu tanzen, während ihre Ketten rasselten und sie laute Schreie des Triumphes ausstiess. Gerade machte sie sich keine Gedanken mehr, wer oder was sie war. Es fühlte sich einfach zu gut an und sie glaubte allem irgendwie gewachsen zu sein. So manches, was ihr bisher so wichtig erschienen war, was ihr Kopfzerbrechen bereitet hatte, war unbedeutend geworden und sie tanzte immer weiter, wild, ungezähmt und ungestüm, während sie die Schädel unter ihren überaus kräftigen Füssen zu Staub zermalmte. Nichts Irdisches, sollte mehr übrigbleiben, alles musste vernichtet werden und in die Schöpfung zurückfliessen.
Ihre ganze Furcht vor dem Versagen, all ihre Ängste vor dem Leben, fielen von ihr ab. Einen Augenblick lang, erschrak sie vor sich selbst, vor dieser wilden Seite, doch noch mehr genoss sie sie, denn nun konnte ihr keiner mehr etwas anhaben. Und… während sie so wild tanzte, betrat auf einmal eine weitere, dunkle Gestalt das unheimliche Gewölbe…
6. Kapitel
Kampf den Illusionen
Lea spürte, dass sie nicht mehr alleine war und hielt einen Augenblick in ihrem wilden Tanze inne. Vor ihr stand erneut der dunkle Mann, nun jedoch war sie gleichgross wie er! Er kam langsam näher, wieder flackerten die Gesichter verschiedenster Leute abwechselnd über sein Antlitz. Lea, welche nun die starke Gestalt von Kali angenommen hatte aber, fürchtete sich kaum. Sie spürte eher, wie in ihr ein unbändiger Zorn aufflackerte, weil dieser Dämon einfach nicht sein wahres Gesicht offenbaren wollte. Immer und immer wieder schaute sie abwechselnd in das Gesicht ihres Vaters, ihrer Mutter und von anderen Leuten aus ihrem Leben. Ihr Zorn wuchs und wuchs, wurde zu einer wilden Feuersbrunst, welche sich durch ihre Eingeweide frass. „Halt endlich still!“ schrie sie „und zeige dich mir in deiner wahren Gestalt! Stell dich mir endlich, Auge in Auge! Na los!“ Sie sprang mit einem riesigen, behänden Satz von dem Schädelhaufen herunter und hielt dem Mann ihre zwei Sicheln über Kreuz an den Hals. Sie musste sich beherrschen ihm nicht einfach seine verfluchte, ständig anders aussehende Kehle, durchzuschneiden. Sie sehnte sich danach, sein Blut in Strömen fliessen zu sehen und ihn dann unter ihren Füssen zu zermalmen. Doch der Mann lachte nur hämisch und sprach: „Na los, nur zu! Vernichte mich doch!“ Lea zögerte einen Augenblick und es fiel ihr auf, dass der Mann nun sein Aussehen nicht mehr ständig veränderte. Er war jetzt einfach eine düstere, dunkle Gestalt mit zerzaustem Haar und wieder musste sie an Mara den Herrn des Leidens, aus der Legende von Buddha, denken.
Sie zog ihre Sicheln zurück und schaute den Mann einen Augenblick lang prüfend an. „Wenigstens sehe ich dich jetzt in deiner wahren Gestalt. Es reicht wirklich! Du wirst nicht mehr das Aussehen meiner Eltern, oder sonstiger Leute aus meinem Leben annehmen! Du wirst mich jetzt endlich in Ruhe lassen, ist das klar!?“ „Du glaubst mir Befehle erteilen zu können?“ sprach der Mann höhnisch. „Ja, ich glaube allerdings, dass ich dir Befehle erteilen kann!“ erwiderte Lea, während sie in sich die Stärke der Göttin Kali und ihren Kampfgeist fühlte. „Immerhin pfuscht du nun schon viel zu lange in meinem Leben herum! Ich werde das nicht weiter dulden!“ der Dämon lacht hämisch: „Ach tatsächlich? Wer lässt denn zu, dass ich das tue? Du selbst! Du machtest mich über all die Jahre so stark und mächtig. Du warst meine Sklavin und bist es immer noch!“ „Nein! Ich sage dir endgültig den Kampf an!“ schrie Lea und hob erneut ihre Waffen. „Das glaubst du wohl selbst nicht!“ lachte der Dämon. „Ausgerechnet du redest davon mir den Kampf anzusagen, du kleines, schwaches Mädchen, welches doch schon sein ganzes Leben nur zu gerne in seiner Opferrolle verharrt, voller Selbstmitleid und Zweifel. Du bist eine Schande, du widerst mich nur noch an!“ die letzten Worte stiess der Mann mit solchem Hass aus, dass dieser im Raum beinahe greifbar wurde. Doch Lea ging nun mehr und mehr ein Licht auf und eine seltsame Gelassenheit kehrte in ihr Herz ein. Sie sprach: „Dann würde ich dir empfehlen mich genauer anzusehen! Ich habe mich verändert. Ich stehe nun in der Gestalt der Kali vor dir. Warum ist das so? Weil ich nun an einem Punkt im Leben bin, wo es Zeit wird, dass ich die Illusionen, die mich umgeben und zu denen auch du gehörst, durchbreche und diese zerstören kann. Zerstören, damit meine ich nicht die herkömmliche Art der Zerstörung, sondern einfach das Niederreissen von Dingen, deren Zeit abgelaufen ist. So wie es bei dir ist. Deine Zeit, Dämon des Inneren Richters, ist abgelaufen!“ Finde dich damit ab!“ Und was die Gesichter, vor allem meiner Eltern betrifft, welche du anfangs so mit Begeisterung angenommen hast…, es hat seine Wirkung schlussendlich verfehlt, denn ich wurde dadurch all der Illusionen gewahr, in denen auch sie teils gefangen gewesen sind. Sie haben ihre Fehler gemacht, doch das war doch nur, weil sie aus ihrer Sicht nicht anders handeln konnten. Ich habe darunter gelitten, lange Zeit. Vor allem darunter, dass mein Vater gestorben ist, ohne dass wir uns richtig versöhnen konnten. Doch letzte Nacht ist er zu mir gekommen und er hat mich auch hierher geführt. Er und auch meine Mutter, haben ihr Bestes gegeben, in der Situation, in der sie sich jeweils befanden und ich weiss heute, dass der Weg zur Heilwerdung darin liegt, ihnen zu vergeben, denn sie sind eigentlich nicht Schuld an dem Ganzen. Schuld sind ihre eigenen, traurigen Geschichten. Ihre eigenen Dämonen, die sie dann durch ihre Erziehung auch auf mich übertragen haben. Doch ich werde diese Dämonen nicht mehr weitergeben. Dazu, bin ich fest entschlossen! Zu diesen Dämonen gehörst auch du...