»Eines Tages wird es keinen Krieg mehr geben. Dafür kämpfen wir doch. Und dann wird die Welt ein besserer Ort sein. Solange das nicht so ist, ist meine heile Welt hier bei dir. Ich komme bald zurück, ich verspreche es dir.«
Kentins Worte bei seinem letzten Abschied hallten noch immer in ihrem Ohr wider. Der Klang seiner Stimme war noch immer so nah. Sie hatte ihn schon so lange nicht mehr gesehen. Dabei hätte er schon längst wieder auf Heimaturlaub kommen sollen …
Müde erhob sich die junge Frau, als es an der Haustür läutete. Sie strich sich das blonde Haar glatt und rieb sich über die Augen. Sie war über dem Buch eingeschlafen.
Wer verlangte da nach ihr an einem Sonntag Nachmittag? Erwarten tat sie nur eine Person und die würde nicht klingeln, sondern besaß einen Schlüssel. Und hätte sich mit einem Brief oder einem Anruf vorher angekündigt.
Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Was, wenn er sie überraschen wollte?
Einen flüchtigen Blick in den Spiegel werfend, schob sie sich ein Pfefferminz in den Mund und fuhr sich mit den Fingern nochmals durch die Haare, um ihre Locken etwas zu richten. Aufgeregt und neugierig ging sie an die Tür, als es ein zweites Mal läutete.
Doch davor stand nicht der Mann, den sie hoffte, zu sehen. Stattdessen war da ein älterer, untersetzter Herr mit einem freundlichen Gesicht und ein junger Mann mit Schnauzer. Beide trugen sie die unverkennbare Uniform der Streitkräfte.
»Nein«, sagte sie dumpf, machte einen Schritt zurück und wollte die Tür wieder schließen, als der ältere Herr sie sanft daran hinderte. Sie wollte nicht hören, was er zu sagen hatte!
»Mademoiselle Fronsac?«, fragte er und sie hielt inne. Nickte schließlich.
»Ja?«
Der ältere Soldat stellte sich als Major Rousseau vor und die junge Frau glaubte, sich an diesen Namen zu erinnern. Aus Kentins Erzählungen.
»Der Major ist ein harter Hund, ein Schinder und Sklaventreiber. Aber vermutlich auch der tapferste Kerl, den man weit und breit finden kann. Der reißt sich den Arsch für seine Männer auf. Ich finde ihn beeindruckend.«
»Es … es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Monsieur Kentin McCormac vergangenen Donnerstag in Ausübung seiner Pflicht in Syrien … gefallen ist.« Die Stimme des Mannes klang ehrlich mitfühlend und tröstend. Doch all das wollte die junge Frau gar nicht hören.
»Sie … Sie müssen sich irren, Monsieur. Kentin ist auf dem Weg in den Heimaturlaub. Er hat es versprochen. Ich erwarte ihn jeden Augenblick zurück.« Sie lächelte den Soldaten an, so froh wie sie es vermochte. Es konnte nicht stimmen, was er sagte.
Kentin konnte nicht …
»Mademoiselle, verzeihen Sie … doch ich sage leider die Wahrheit. Es tut mir schrecklich leid. Er … Kentin hat bestimmt, dass Sie das hier erhalten sollen, wenn ihm etwas zustößt.«
Major Rousseau ließ sich von seinem jüngeren Begleiter eine Schatulle aushändigen, die er der jungen Frau nun überreichte. Mit zitternden Fingern nahm sie diese und wagte kaum, sie zu öffnen.
Wenn sie es tat, war es wie das Eingeständnis, dass er fort war.
»Ich kann das nicht glauben. Kentin ist sicher jeden Moment hier, ich sage es Ihnen!«, beharrte die junge Frau, während sich ihre Finger um das Kästchen klammerten.
»Nein, Mademoiselle. Verzeihen Sie, doch … sein Leichnam wird zur Stunde überführt, damit er in seiner Heimat bestattet werden kann.« Die Stimme des Mannes klang, als müsse er sich zu jedem Wort zwingen. Es kam oft vor, dass gerade junge Frauen es nicht glauben wollten, dass ihre Lebensgefährten im Krieg gefallen waren.
Mit dem Gefühl einer kalten Hand um ihr Herz öffnete die junge Frau nun doch das Kästchen und fand darin Krimskrams, doch alles Dinge, die Kentin gehörten.
Einen kleinen Plüschbären, den sie ihm geschenkt hatte als Andenken; einen alten Militärorden, den er von seinem Großvater geschenkt bekommen hatte; Liebesbriefe, die sie ihm an die Front geschickt hatte; ein Taschentuch, das nach ihrem Parfum duftete. Und eine kleine Schachtel aus schwarzem Samt. Sie griff danach und öffnete sie.
Ihre Knie wurden weich und mit einem Scheppern fiel ihr das Kästchen mit den Andenken aus der Hand. Sie schluchzte auf und drohte, zusammenzubrechen, hätte der ältere Soldat sie nicht aufgefangen.
»Nein, nein, nein ...«, weinte sie und der Anblick des kleinen Diamantringes verschwamm vor ihren tränenverschleierten Augen.
Sie hatten niemals ernsthaft über Heirat gesprochen. Er hatte sich immer darüber lustig gemacht und doch hatte er einen Ring gekauft? Er hatte ihr einen Antrag machen wollen?
»Heiraten? Das ist was für alte Leute. Ich brauche keinen Trauschein, um zu wissen, wie sehr ich dich liebe. Ich bin verrückt nach dir. Ein Ring an deinem Finger kann dieses Gefühl unmöglich noch stärker machen.«
»Er kann nicht tot sein, das kann er einfach nicht«, schluchzte sie laut an der Schulter des Majors, der sie festhielt. Sie umklammerte die Schachtel mit dem Ring fest mit den Fingern und klopfte mit den Fäusten in schierer Verzweiflung immer wieder auf das Revers des Majors.
Dieser ertrug es mit Engelsgeduld. Ihm tat die junge Frau schrecklich leid. Er kannte Kentin noch aus der Zeit im Ausbildungscamp und hatte ihn viel von seiner großen Liebe reden hören. Er hätte es dem jungen Mann gegönnt, zu heiraten und eine glückliche Familie zu gründen.
Doch das Leben war nicht fair und der Tod ereilte oft die, die ihn am wenigsten verdient hatten.
Der Major und sein Begleiter blieben noch einige Zeit, bis sich die junge Frau von ihrem Weinkrampf erholt hatte.
»Haben Sie jemanden, den Sie anrufen können? Sie sollten jetzt besser nicht allein bleiben, meinen Sie nicht?«
Die junge Frau zuckte nur mit den Achseln. Sie würde von nun an ohnehin allein sein, dann könnte sie auch gleich jetzt damit beginnen.
»Meine … meine Mutter, ich werde sie gleich anrufen«, sagte sie aber dennoch, um den Major zu beruhigen. Dieser nickte und wollte sich gerade zum Gehen wenden, als sich sein junger Begleiter leise räusperte, um ihn an etwas zu erinnern.
»Bevor ich es vergesse: Die Beisetzung wird am Mittwoch Mittag auf dem Veteranenfriedhof stattfinden. Ich bin mir sicher, dass Sie daran teilnehmen möchten, um Abschied zu nehmen.«
Die junge Frau nickte nur und bedankte sich bei den beiden Soldaten für ihre Hilfe.
Als sie allein war, betrachtete sie Kentins Kästchen und blätterte in den Briefen, die sie ihm geschrieben hatte. Belangloses Geplänkel über die Arbeit, über die Nachbarn, über Blumen, die sie für den Küchentisch gekauft hatte. Wie nichtig kam ihr all das nun vor. Wie konnte sie seine Zeit mit solchem Unsinn verschwenden, anstatt ihm zu sagen, wie sehr sie ihn liebte?
»Du bist der einzige Mensch, den ich kenne, der reden kann ohne Punkt und Komma und das völlig ohne ein Thema. Ich liebe dich dafür, denn das ist so süß!«
»Das hat dich sicher unglaublich gelangweilt, nicht wahr, Ken? Dieses unnötige Geplapper. Wie dumm ich war.« Sie redete, als säße er neben ihr und könne jedes Wort verstehen.
Tatsächlich glaubte sie, ihn neben sich zu spüren, obwohl ihr ihr gemeinsames kleines Traumhaus nun wie ein Grab vorkam. Kalt und totenstill.
Sie zwang sich, nicht auf das Schächtelchen mit dem Ring zu schauen, doch etwas zog ihre Augen wie ein Magnet an und diese füllten sich wieder mit Wasser.
Er hatte gegen seinen Vorsatz verstoßen. Er hatte ihr gesagt, wenn sie heirateten, dann erst, wenn sie beide alt und grau waren, denn erst dann hätte es Stil. Er war manchmal so ein Kindskopf. Und nun hatte er doch einen Ring gekauft, einen wunder-, wunderschönen Ring und hatte vor gehabt, ihr die Frage der Fragen zu stellen.
Welcher ungerechte Gott hatte ihr den liebsten Menschen auf Erden genommen? Warum musste ihnen beiden das geschehen? War es, weil Kentin aus Überzeugung Soldat geworden war? Machte ihn das zu einem Mörder, zu einem schlechten Menschen und daher weniger wert, zu leben?
Sie griff nach der Schachtel mit dem Ring und fuhr mit den Fingern über den Samt.
»Du hättest ihn mir anstecken sollen. Aber ich möchte nicht, dass du ihn umsonst gekauft hast«, flüsterte sie in die zunehmende Dunkelheit des frühen Abends, nahm den Ring und steckte ihn sich schluchzend an den Ringfinger. Er passte wie angegossen und Tränen tropften auf ihre Finger.
Kentin hatte zu seinem letzten Auftrag nicht aufbrechen wollen. Er hatte zuhause bleiben wollen. Er hatte ihr berichtet, wie sehr ihn das Kriegsgeschehen belasten würde und dass er es nicht mehr ertragen könne, das Elend zu sehen, das tägliche Sterben, das Leid der Menschen.
»Manchmal glaube ich, ich bin in der Hölle und verbrenne bei lebendigem Leibe.«
Doch er ist aufgebrochen, weil es seine Pflicht war. Er war Soldat. Er war ein guter Soldat und er kämpfte für den Frieden.
Sie liebte ihn für seinen guten Geist. Er war ein guter Mensch, der immer nur anderen hatte helfen wollen. Doch der Preis dafür war einfach zu hoch. Sein Leben war zu viel des Guten. Sie wollte ihn wieder haben!
»Ich schaff' das nicht ohne dich, Ken!«, flüsterte sie, als sie sich in das Polster des Sofas kauerte, dem Sonnenlicht beim Sterben zusah und die Tränen ungehindert flossen.
Die Tage bis zur Beisetzung verbrachte die junge Frau in Schweigen und Einsamkeit. Ihre Mutter hatte sie besucht und versucht, sie dazu zu bewegen, zu ihr zu ziehen. Jetzt war dieses Haus für sie allein doch viel zu groß. Doch die junge Frau dachte nicht im Traum daran, ihr Heim zu verlassen, das sie mit Liebe für sich, Kentin und ihre gemeinsamen Kinder eingerichtet hatte. Nur weil es nun nicht mehr dazu kommen sollte, hieß das nicht, dass sie es einfach so aufgeben konnte.
Sie konnte nicht weg. Nur hier spürte sie Kentins Nähe. Nur hier konnte sie noch mit ihm zusammen sein.
Der Schmerz hatte nicht nachgelassen. Eher kam weiterer hinzu, je mehr sich die Erkenntnis ausbreitete, dass der Major tatsächlich die Wahrheit gesagt hatte, dass Kentin nicht wieder nach Frankreich zurückkehren würde. Dass nur sein Körper, verstaut in einem glänzenden Sarg, die Heimreise angetreten hatte und bald auf einem stillen Friedhof bestattet werden würde.
Sie konnte und wollte sich nicht vorstellen, dass alles, was sie von Kentin noch hatte, seine Bilder waren, die überall im Haus herumstanden. Dass sie niemals wieder seine Stimme hören sollte. Niemals wieder seine Lippen in ihrem Nacken spüren würde, wenn er sie zur Nacht küsste und in den Arm nahm.
Dass sie niemals würde Kinder von ihm haben können …
Ein Kind … hätte sie ein Kind von Kentin, hätte sie einen Anker, der sie halten würde. So trieb sie hilflos in einem Meer aus Verzweiflung und drohte, immer weiter fortzutreiben.
Sie konnte einfach nicht mehr. Der Schmerz war für sie etwas, das sie niemals für möglich gehalten hätte. Sie konnte ihn nicht ertragen.
Am Tag der Beisetzung regnete es in Strömen. Viele Menschen waren nicht gekommen. Einige Soldatenkollegen, die momentan auf Heimaturlaub waren; der Major, der der jungen Frau die Nachricht überbracht hatte; sein schnauzbärtiger Begleiter; Kentins Eltern, die der jungen Frau mit Tränen in den Augen die Arme um die Schultern legten; ihre eigene Familie, die Kentin liebte wie einen eigenen Sohn und einige wenige Freunde noch aus der Schulzeit.
Es stimmte die junge Frau traurig, dass so viele, die ihm gern die letzte Ehre erwiesen hätten, dies nicht konnten, weil sie in einem Kriegsgebiet feststeckten und es nicht verlassen konnten. Sie waren bereits in der Hölle. Kentin hatte es da raus geschafft.
Der strömende Regen passte zum Anlass und spülte die heißen Tränen vom Gesicht der jungen Frau, als ihre Finger ein letztes Mal Kentins Sarg berührten, bevor er in die Erde hinabgelassen wurde.
Sie würde hier nicht bleiben. Sie würde die Zeit nicht ohne Kentin verbringen, das hatte sie sich geschworen. Nichts konnte sie halten, nun da sie ihren Lebensmittelpunkt verloren hatte. Den Menschen, der sie überhaupt ins Leben geholt hatte, aus einem Loch aus Verzweiflung und Depressionen.
Der Pfarrer sprach heilige Worte, die die junge Frau kaum hörte, weil sie nicht zu Kentin passten. Es hatte nichts mit ihm zu tun, denn er glaubte nicht an Gott, hatte es nie. Stattdessen betrachtete sie die Gesichter der Menschen um sich, die alle mehr und weniger gramgebeugt aussahen. Kentins Mutter war wie versteinert, ihr Gesicht war grau und leblos. Sie hatte ihre Energie verbraucht und konnte nicht mehr weinen.
So ähnlich muss auch ich aussehen, dachte die junge Frau beiläufig, doch sie kümmerte sich nicht darum. Niemals wieder würde ihr Aussehen eine Rolle spielen. Warum auch?
Als die Besucher der Beerdigung mit dem »Asche zu Asche« begannen, hätte sich die junge Frau nur zu gern mit in die Grube geworfen. Sie wollte bei ihm sein, ihn noch ein letztes Mal spüren. Diese Sehnsucht war so stark, dass sie beinahe körperlich schmerzte.
»Wir sehen uns wieder, mein Liebling«, flüsterte sie und warf als letzte eine Handvoll Erde und eine rote Rose in die Grube. Ihr Hals schmerzte, als hätte sie ein Messer verschluckt und ihr Herz lag blutend bei Kentin im Grab.
»Möchtest du noch zu uns kommen, Liebes?« Ihre Schwiegermutter in spe, zu der sie immer ein gutes Verhältnis gehabt hatte, hielt die junge Frau am Ausgang des Friedhofes sanft am Arm fest und lächelte sie liebevoll an.
»Danke, das ist lieb von dir. Aber ich bin so erschöpft. Ich möchte mich zuhause hinlegen. Vielleicht ein andermal.«
Die ältere Dame nickte und strich ihr über die Wange, bevor sie sie herzlich umarmte.
»Kentin hätte niemals ein besseres Mädchen als dich finden können. Er liebte dich so sehr.« Ein leises Schluchzen und ein diskret gezücktes Taschentuch hielten die Tränen von Kentins Mutter zurück.
»Ich liebe ihn auch so sehr«, flüsterte die junge Frau und sah ihre Schwiegermutter mit tränennassen Augen an.
Sie verabschiedeten sich und die blonde Frau ließ sich von ihrer Mutter zuhause absetzen. Sie verweigerte die Gesellschaft und verschloss sich in ihrem Schlafzimmer, bis draußen die Nacht hereinbrach und der Mond hell und silbern über den Ufern der Hafenstadt aufging.
Ihr mattgoldenes Haar tanzte ihr in feinen Locken über die bloßen Schultern, als sie barfuß den Sandstrand entlang lief. Das Wasser der Brandung umspülte ihre nackten Füße kühl und der Wind spielte mit dem feinen, weißen Kleid, das sie trug.
Kentin und sie liebten das Meer und verbrachten jede freie Minute dort, selbst wenn das Wetter stürmisch war oder die Temperaturen auf Null zugingen. Kentin sehnte sich nach der Freiheit des Ozeans und dem Frieden, der in ihm ruhte.
Der silberne Mond ließ die Gischt der Wellen funkeln wie Edelsteine und das Rauschen klang in den Ohren der jungen Frau wie der Gesang von Meerjungfrauen, die sie zu sich riefen, um bei ihnen zu leben und endlich Ruhe und Erlösung zu finden.
Ohne Angst vor dem Kommenden zu haben, machte die junge Frau einen Schritt nach dem anderen, vom Strand weg, immer weiter dem Wasser zu, bis es sie umspülte. Erst ihre Waden, dann ihre Hüften, ihre Brust und schließlich ihre Schultern. Die Strömung zog sie zu sich wie Kentin es getan hatte, wenn er sie in seine Arme nahm, um sie zu küssen und herumzuwirbeln.
Sie fühlte sich geborgen und gut aufgehoben und endlich hörte ihr Herz auf, wehzutun.
Endlich war sie wieder frei.
»Kentin und ich werden niemals wieder getrennt sein.«