Zwar hörte er alle Geräusche und Stimmen. Sah auch die blauen Lichter, die sich in den Fenstern der umliegenden Autos spiegelten und dabei ein seltsames Muster abbildeten. Je mehr er darauf starrte, um so bizarrer wirkten die Reflektionen. Aber so richtig klar war ihm nicht, was er eigentlich hier so mitten auf der Autobahn machte? Sollte er nicht eigentlich im Auto sitzen. Komisch! Dachte er. Der Gedanke hallte in seinem Kopf wider und überlagerte sich, wie ein vielfaches Echo. Warum fühlte er sich so leicht? Konnte es sein, dass er über dem Boden schwebte? Eine Angst, die er noch nie zuvor gespürt hatte, kroch an seinem Bein herauf und bahnte sich ihren Weg in sein Herz. Hektisch drehte er sich um seine eigene Achse und versuchte herauszufinden, was hier eigentlich vor sich geht.
Dabei bemerkte er einen Rettungssanitäter der auf den Körper eines am Boden liegenden Menschen drückte. Es waren Wiederbelebungsmaßnahmen. Um vielleicht zu helfen, aber auch um zu erkennen, um wen es sich handelt, ging er näher ans Geschehen heran. Das Gehen kam ihm eher vor, wie ein Schweben. Links neben sich sah er zwei völlig ineinander gekeilte Fahrzeuge, die halb über die Böschung ragten. Daneben, oh wie grausig, zwei mit Tüchern bedeckte Leichen. Noch nie hatte er einen Toten gesehen. In seinem ganzen Leben noch nicht. Und jetzt waren es gleich zwei auf einmal. Er wollte sich hinsetzen. Ihm war schwindelig. Doch ein Schrei des Sanitäters ließ ihn aufhorchen.
"Wir verlieren ihn, wir verlieren ihn!" Rief der Sanitäter über seine Schulter und begann jetzt heftig auf den Mann unter ihm einzuwirken. Mit kräftigen, geübten Bewegungen drückte er den Brustkorb ein. Ein Knacken war zu hören. Wirklich ein widerliches Geräusch. Er wollte etwas sagen. Sowas, wie passen sie doch auf oder wenigstens, kann ich ihnen irgendwie helfen? Aber über seine Lippen kamen nur dumpfe Worte. Seine eigene Stimme kam ihm gedämpft und unreal vor. Der Sanitäter, falls er überhaupt was gehört hat, reagierte jedenfalls nicht auf ihn.
Die nächsten Worte bestürzten ihn zu tiefst. "Er ist verloren! Er ist verloren!"
Der Sanitäter blickte auf und schüttelte leicht den Kopf. Es schien, als blickte er durch ihn hindurch. Eine zierliche Frau kam hinter ihm zum Vorschein und fing an ein Tuch auszubreiten. Das dritte Leichentuch. Ein Schauer durchfuhr ihn. Aber die Neugier siegte trotzdem. Er riskierte einen Blick auf das Gesicht des nunmehr Verstorbenen.
Zwar konnte er sehen und erkennen, welch armen Kerl er da vor sich hatte, doch glauben, wollte er es nicht. Die Angst, die eben noch sein Herz erreichte, schnürte ihm jetzt schon den Hals zu. Er konnte nicht mehr atmen. Dann blickte er nochmal zurück zu den Wracks. Und ja, das kam hin. Das hintere Auto, war mit viel Fantasie ein silberner Golf V. Sein Golf V. Er blickte wieder zurück ins Gesicht des Toten. Der Mann, den er dort sah, war er selbst. Er sah in das tote Antlitz seiner Selbst.
Er wollte schreien. Er schrie auch. "Was hat das zu bedeuten?" Wollte er von dem Sanitäter wissen. Doch der beachtete ihn nicht weiter und ging einfach an ihm vorbei. "Hey, ich rede mit Ihnen. Warum haben sie aufgehört mit der Wiederbelebung? Hey...!" Der Sani ging einfach weiter und stieg in seinen Wagen.
Panik schnürte ihn ein, wie Bonbon Papier eine Süßigkeit.
War er etwa tot? Hastig versuchte er das Tuch vom Körper des Mannes zu heben. Von seinem Körper. Doch seine Finger gingen einfach durch das Tuch hindurch. "Was passiert hier?"
... Er ist verloren, er ist verloren ... kamen die Worte des Rettungssanitäters plötzlich wie vom Wind getragen an sein Ohr. Ihm wurde kalt, denn er war nackt. Nackt und bloß.
Plötzlich zog sein ganzes Leben an ihm vorbei. Jede Tat, jedes Wort, jeder Gedanke, sei es gut oder böse gewesen kam ihm auf einmal in den Sinn. Und er realisierte, dass er in seinen 23 Jahren so ziemlich alles verbockt hatte, was man verbocken kann. Sein ganzes Dasein, sein Potenzial, eine reine Verschwendung.
Er sank auf die Knie und wurde ganz still. Nur seine Lippen zitterten. Die Angst und Panik sind nunmehr der völligen Verzweiflung gewichen.
Bevor die Finsternis sich unter ihm auftat, um ihn zu verschlucken, waren seine letzten Worte: "Ich bin verloren, ich bin verloren! Oh, Gott nein."
Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden. Psalm 90,12