Als Jane den Raum betrat, wo die Ausgewachsenen warteten, war von Caspar noch nichts zu sehen. Sie trat zögerlich auf die Größeren zu. Die Frau mit der dunklen Haut lächelte ihr zu und deutete auf einen Sitz. Jane zog das Gebilde aus Holz zu sich und setzte sich langsam darauf. Sie traute dem Sitz nicht. Zuhause hatte sie auf dem Boden gesessen, auf Baumstümpfen oder Steinsitzen. Keiner dieser Sitze hatte sich von seinem Platz bewegen lassen.
Sie legte nervös die Hände auf die Holzfläche, um die die Sitze verteilt standen. Nachdenklich kaute sie auf einem Fingernagel und hoffte, dass Caspar bald kam. Die Blicke der vier Ausgewachsenen waren ihr unangenehm.
Caspar kam tatsächlich nur wenig später. Er humpelte in den Raum bemüht, keinen Lärm zu machen. Jane runzelte die Stirn. Dass die Sitten hier anders waren, wusste sie schon. Zuhause waren Leute wie Caspar hoch angesehen. Weil sie manchmal eine andere Welt sehen konnten oder, wie Caspar, trotz der Versehrtheit überlebt hatten. Menschen wie Caspar waren intelligent, hatte Jane gelernt, seit sie ein Jungling gewesen war. Hier waren sie Außenseiter, als ob nur ihr Äußeres zählte.
Caspar setzte sich auf den letzten freien Sitz neben Jane. Der jüngere Mann räusperte sich und legte etwas auf der Holzplatte ab. Jane beugte sich neugierig vor. Leder, und zwischen dem Leder waren ganz viele rechteckige Wände. Oder - Wände war nicht das richtige Wort. Die Sachen waren jedenfalls hauchdünn und weiß mit einem seltsamen, schwarzen Muster. Der jüngere Mann fuhr mit dem Finger die Linien entlang und sah dann Caspar und sie an.
"Als Papilionis müsst ihr viel wissen. Ihr müsst Geschichte studieren, denn euer Leben hängt davon ab, dass ihr euch darin auskennt. Außerdem ist es hilfreich, so viele Sprachen wie möglich zu sprechen."
Jane beobachtete, wie Caspar das Gesicht verzog. Er trommelte mit der gesunden Hand auf den Tisch. Die verkrüppelte Linke ruhte in seinem Schoß, als ob er sie verstecken wollte.
"Wir fangen aber zuerst mit der stabilen Geschichte an", erklärte die blasse, rotäugige Frau.
Caspar zog die Augenbrauen zusammen: "Stabile Geschichte?"
"Unsere Geschichte. Die sich nicht verändert", sagte der junge Mann. Caspars Vater. Jane sollte das besser nicht vergessen, obwohl die beiden es vergessen zu haben schienen.
"Okay", sagte Caspar, was wohl eine Art Einverständnis war. Jane wusste nicht genau, wie dieses Babel funktionierte, aber viele Worte waren ihr noch unverständlich. Sie kaute auf ihrer Unterlippe und lauschte aufmerksam. Wenn sie jetzt hier lebte, musste sie aufpassen.
"Also, wir fangen so früh an, wie wir die Geschichte kennen. Das wäre bei Juriko und Carla", sagte Caspars Vater.
"Juriko und Carla?", wiederholte Caspar: "Und wer ist das?"
"Das sind die frühesten Schmetterlinge, von denen wir wissen", erklärte die bleiche Frau: "Unsere Mentoren."
"Also die Leute, die euch ausgebildet haben?", fragte Caspar und deutete dabei mit den Fingern auf die beiden älteren Ausgewachsenen, die blasse Frau und den alten Mann.
Der Mann neigte leicht den Kopf.
"Was ist mit ihnen passiert?", fragte Caspar.
Sein Vater antwortete: "Sie sind tot. Carla wurde von Tinea erwischt, und Juriko hat seine ganze Lebenskraft in den Strom der Zeit gesteckt."
Caspar schluckte: "Äh. Das tut mir leid."
"Es ist lange her", sagte die blasse Frau mit schwacher Stimme: "Jedenfalls für uns. In der jetzigen Zeitleiste haben sie nie existiert."
Janes Blick huschte zu Caspar. Verstand er auch nur die Hälfte von dem, worüber die Ausgewachsenen sprachen? Sie musste es hoffen. Immerhin musste er intelligent sein, richtig? Sie hatte Kraft, er hatte Kopf.
"Juriko und Carla haben nie von ihren Meistern gesprochen", sagte Caspars Vater und riss damit Janes Aufmerksamkeit wieder auf sich: "Deswegen müssen wir mit ihnen anfangen: Sie haben entdeckt, warum wir Papilionis heißen."
"Und warum?", Caspar beugte sich vor.
"Wir bilden Teams", erklärte die blasse Frau: "Immer ein Junge und ein Mädchen."
Jane vermutete, dass ein "Team" also eine Gruppe aus zwei Personen war.
"Dakuri und ich bilden ein Team. Liam und Daria sind das zweite Team. Ihr seid das Dritte.
Caspar tauschte einen Blick mit Jane. Er sah nicht gerade überglücklich aus, bemerkte Jane mit einem Stich. Aber wenigstens beschwerte er sich nicht. Er sagte überhaupt nichts und seine Miene blieb fast ausdruckslos.
"Diese Teams bilden ein Schmetterlingspaar", erklärte die dunkelhäutige Daria. Jane kratzte sich am Kopf. Musste sie sich das merken? Sie konnte sich ja kaum die Namen der Ausgewachsenen merken!
"Jedes Team hat einen Schmetterling. Juriko und Carla hatten zum Beispiel einen Schwalbenschwanz.
"Und ihr?", fragte Caspar.
Die Ausgewachsenen tauschten Blicke. Dann öffnete der Alte plötzlich die Hand, und in ihrer Fläche entfalteten sich zwei weiße Flügel. Jane riss die Augen aus, als sie das lebendige Insekt erkannte, das eben noch nicht dort gewesen war. Es war ein weißer Schmetterling mit zwei schwarzen Punkten wie Augen auf dem äußeren Rand der Flügel. Der Körper war von einem sanften Grau.
"Schwarzer Apollo", sagte der Alte. Dann schlug der Schmetterling plötzlich mit den Flügeln und flatterte davon.
Die dunkelhäutige Frau lächelte Caspars Vater an, der jedoch nicht reagierte. So war sie es, die die Handfläche öffnete. Ihr Schmetterling war orange mit schwarzen Rändern um die Flügel, und dann noch einem weißen Streifen jenseits des Schwarzen.
"Großer Feuerfalter", sagte die Frau.
Auch ihr Schmetterling flog davon. Die Tiere fanden ein Loch in der Wand des Hauses, da, wo die durchsichtige Scheibe eigentlich war, aber jetzt war die Scheibe in den Raum gezogen, dass der Wind ins Innere drang.
Jane starrte auf die Scheibe, bis ihr der Name einfiel. Fenster!
Caspar war in der Zeit damit beschäftigt, seine Hand zu öffnen und zu schließen wie wahnsinnig: "Wie mache ich das?"
Die dunkelhäutige Frau legte ihre Hand auf Seine und hielt ihn auf: "Du musst vorher wissen, welcher Schmetterling zu euch gehört. Und dazu müsst ihr von einem Schmetterling auserwählt werden. Das braucht Zeit."
Caspar seufzte und ließ sich zurück auf die Lehne des Sitzes fallen. Jane starrte auf ihre eigene Hand. Sie mochte nicht glauben, dass ein Insekt dort auftauchen könnte. Dann wiederum hatte sie in der letzten Zeit viel zu viel Verrücktes gesehen, um es nicht zu glauben.
Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ
"Wiederholung", befahl Caspars Vater.
Caspar rollte mit den Augen: "Das ist jetzt wirklich nicht nötig..."
"Doch."
Nach einem Seufzen leierte Caspar: "Juriko und Carla haben Dakuri und Lydia ausgebildet. Sie sind gestorben, bevor sie fertig waren. Als ihr auftauchtet, haben Dakuri und Lydia euch ausgebildet und so viel wie möglich vom Wissen der beiden anderen übertragen. Und jetzt bildet ihr uns aus."
Liam nickte: "Deswegen ist es wichtig, dass ihr unsere Geschichte lernt. Dadurch, dass Juriko und Carla so wenig erzählt haben, wissen wir vieles nicht. Wir wissen nicht, ob es eine richtige Zeitleiste gibt, oder wie man sie wiederherstellt."
"Aber sie haben etwas in der Art angedeutet", sagte die blasse Frau leise. Jane hörte Trauer in ihrer Stimme. Sie zog die Augenbrauen zusammen.
"Und wir wissen nur von den Tinea, ja?", fragte Caspar.
"Es gibt noch mehr", sagte sein Vater: "Aber die Geschichtsstunde für heute ist vorbei."
Caspar streckte sich und sein Rücken knackte: "Endlich!"
Jane schwieg. Sie hätte gerne noch mehr erfahren.
"Wir werden später mit Sprachen weiter machen", sagte die blasse Frau: "Daria wird euch kämpfen beibringen, und Dakuri geht mit euch die Geschichte der Zeitleisten durch."
Caspar sackte nach vorne und sein Kopf stieß auf die Holzplatte: "Och neee!"
"Ihr müsst es lernen!", bestand sein Vater: "Erst einmal gibt es Mittagessen. Und ich erwarte eine bessere Einstellung zum Unterricht, Caspar."
So, dass nur Jane es sehen konnte, schnitt Caspar eine Grimasse. Sie verkniff sich ein Lachen.
Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ
Zum Essen gab es Fleischstreifen und kleine, grüne Kugeln, die zwar süß schmeckten, aber nicht gerade leicht in den Mund zu beschaffen waren. Erst recht nicht mit den Metalldingern, die die anderen zum Essen benutzten. Jane gab es schließlich auf, als alle nur noch auf sie warteten, und schaufelte sich die Kugeln einfach so in den Mund. Caspar verzog das Gesicht, aber die Ausgewachsenen reagieren überhaupt nicht darauf.
Kaum waren sie mit dem Essen fertig, musste sie mit Caspar der bleichen Frau in einen anderen Raum folgen. Sie setzten sich auf zwei Sitze und Lydia baute sich vor ihnen auf: „Wir fangen heute mit einer Übersicht an. Caspar – was war zu deiner Zeit die Sprache mit den meisten Sprechern?“
„Ähh – Englisch?“, fragte Caspar.
„Chinesisch“, erwiderte Lydia: „Was war über den Verlauf der Erdgeschichte die Sprache mit dem meisten Sprechern überhaupt?“
„Ähh“, machte Caspar und sah sich hilfesuchend um. Sein Blick bleib ausgerechnet an Jane hängen. Sie zischte: „Guck mich nicht an! Ich habe von keiner dieser Sprachen auch nur gehört!“
Caspar sah weg: „Latein?“
Lydia seufzte schwer: „Ich sehe, wir müssen ganz vorne anfangen.“
Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ
Nach der Stunde schwirrte Jane der Kopf vor lauter -Ischen. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass es so viele Menschen gab, die so viele Sprachen sprachen. Sie war immer davon ausgegangen, dass es nur eine einzige Sprache gab.
Sie schwieg, während sie Caspar durch das Haus folgte, zu irgendeinem Garten, dessen Position Caspar offenbar kannte, während sie nicht einmal wusste, was das genau sein sollte. Es stellte sich heraus, dass mitten im Haus plötzlich eine Wand war, und hinter der Wand fehlte die Decke und es wuchsen mehrere Blumen in einem Viereck.
Dort wartete Daria und warf ihnen beiden einen Holzstock zu. Sie sollten ein paar Bewegungen üben, durften sich aber nicht gegenseitig schlagen. Jane musste an ihre jüngeren Geschwister denken, mit denen sie sich oft mit Stöcken geprügelt hatte und wurde traurig. Caspar riss sie damit aus den Gedanken, dass er ihren Arm traf und wenig später tobten sie sehr zum Missfallen der dunkelhaarigen Ausgewachsenen durch den Garten, bis Caspar über sein schlimmes Bein stolperte und sich lachend ergab.
Daria nahm ihnen die Stöcke wieder ab und schickte sie zu Dakuri, der ihnen aufmalte, wie lange Janes Zeit vorbei war.
Hier hörte sie sogar wieder zu, denn die unterschiedlichen Zeitleisten interessierten sie. Dakuri rollte mehrere Papierrollen auf dem Boden aus, auf denen unterschiedliche Zeitleisten gemalt waren. Jane konnte mit den Strichen wenig anfangen.
„Die Zeit verläuft immer ähnlich“, erklärte Dakuri: „Auch, wenn sich die Zeitleiste ändert, gibt es immer noch ähnliche Entwicklungen. Steinzeit, Mittelalter, Moderne. Nur die Details sind anders, die Dichter und ihre Werke verschwinden meistens, es werden andere Maschinen erfunden und in anderer Reihenfolge, und manchmal dauern die Zeitalter sehr lange. Aber fast immer steuert es auf das gleiche Ziel zu – lange Jahre der Postmoderne.“
„Postmoderne?“, fragte Caspar, der seinen Arm betastete, wo sich ein blauer Fleck bildete.
„Deiner Heimatzeit liegt an ihrem Anfang. Irgendwann kommen die neuen Erfindungen ins Stocken, und alles pendelt sich auf etwas ein, das wir als höchsten Entwicklungsstand ansehen müssen. Irgendwann gibt es nichts Neues mehr zu entdecken.“
„Und so bleibt das dann für immer?“, fragte Caspar neugierig.
Dakuri runzelte die Stirn. Jetzt wurde Jane wirklich hellhörig.
„Nicht für immer“, sagte Dakuri: „Nur für lange Zeit. Wir reisen nie so weit in die Zukunft, aber Juriko und Carla haben sie gesehen. Die Zukunft, die nach der Postmoderne kommt.“
Der alte Ausgewachsene schwieg, und Jane schluckte. Etwas an seiner Stimme übermittelte ihr Angst.
Auch Caspar schien das zu hören: „Was ist mit der Zukunft?“, fragte er.
„Juriko und Carla haben nie darüber gesprochen. Sie – sie sind so weit in die Zukunft gereist, dass Juriko auf der Rückreise gestorben ist. Carla war nie mehr dieselbe. Sie starb, bevor sie so weit gewesen wäre, darüber zu reden.“
Dakuri bemerkte ihre ängstlichen Gesichter und lächelte: „Aber die Zukunft spielt für uns keine Rolle! Was ihr wissen müsst, ist, welche Stadien die Zivilisation fast immer durchläuft. Ihr werdet mir auch helfen, die neue Zeitleiste zu untersuchen.“
„Wir untersuchen die neue Zeitleiste?“, fragte Caspar aufgeregt.
Dakuri lächelte: „Ihr habt die Suppe eingeschenkt, jetzt löffelt sie aus!“
Jane sah die Begeisterung in Caspars Gesicht. Und versuchte ein zaghaftes Lächeln.