Jane starrte misstrauisch auf die hohen Bäume mit deren grünen Stacheln. Zuhause waren die Bäume ganz anders gewesen. Nackter. Sie hatten keine piksenden Stacheln gehabt und auch nicht so streng nach dem goldenen Baumblut gerochen.
Jane verzog das Gesicht. Sie hatte das Baumblut einmal probiert, weil sie wirklich sehr hungrig gewesen war. Es schmeckte nicht. Kein bisschen. Aber es klebte die Zähne und Finger zusammen. Es war sauer gewesen und ein bisschen scharf und sie hatte es einfach nicht ausspucken können, weil es in ihrem Mund klebte.
Die Ausgewachsenen und Caspar redeten über ganz viele komplizierte Dinge, die Jane nicht verstand. Es ging um Flüsse und verschiedene Zeiten und andere Dinge, von denen ihr der Kopf schwirrte, als habe sie faule Äpfel gegessen.
Nein, sie war kein Kopfmensch. Das hatte auch Tom immer gesagt, der gute, alte Tom, der sie ausgebildet hatte. „Jane“, hatte er gesagt und sich dabei am Hintern gekratzt: „Es gibt Kopfmenschen und es gibt Kraftmenschen. Du bist ein Kraftmensch, du brauchst keinen Kopf.“
Ja, Jane war stark. Sie ballte die krummen Finger zu einer Faust, wie Tom und ihr Papa es ihr beigebracht hatten. Sie musste diese Papilionis-Dinge nicht verstehen, sie musste nur stark genug sein, um sie zu überstehen.
Alles weitere konnte Caspar machen. Er war ein Tyrn, das hatte er bewiesen. Genau wie Balla, der kleine Junge mit dem schiefen Blick, genau wie Georgy mit den kurzen Beinen, genau wie Maicy, die Stimmen hörte. Caspar konnte genau wie sie Zauberdinge tun. Er war ein Kopfmensch, aber ein Kopfmensch, dem Niemand gesagt hatte, dass er nur ein Kopfmensch zu sein brauchte und kein Kraftmensch.
Jane war ganz in ihre Gedanken vertieft, als sie das Geräusch hörte. Etwas knackte im Unterholz. Äste brachen unter schwerem Gewicht. Sie blieb wie angewurzelt stehen, bis die beiden alten Ausgewachsenen – Dakuri und Lydia – in sie hinein rannten.
„Was hast du, Jane?“, fragte die dunkelhäutige Daria.
Jane lauschte schweigend. Jetzt sahen auch die anderen auf und hörten die Geräusche.
„Was ist das?“, fragte Caspar leise. Die Stimme des bleichen Jungen zitterte.
„Große Tiere?“, riet Jane und trat näher an Caspar, um ihn notfalls mit sich ziehen zu können. Er war ein Tyrn und sie musste ihn beschützen.
„Sie kommen direkt auf uns zu!“, zischte Daria und hob ihre seltsame, aufspannbare Waffe.
Caspars Vater schob sich mit gezückten Knallstöcken vor seinen Sohn und Jane. Lydia schob Dakuri zu ihnen und hob ihre eigene Waffe. Dakuri dagegen schützte sich erschöpft auf seinen langen Stock.
Das Knacken um sie her wurde immer lauter. Bald merkte Jane, dass es von allen Seiten zu kommen schien. Die Ausgewachsenen drängten sich um sie und hielten ihre Waffen bereit. Caspar war ganz blass geworden und seine Augen huschten blitzschnell hin und her, auf der Suche nach einem Ausweg.
„Ich bringe uns weg!“, rief Dakuri über den lauter werdenden Krach.
„Nein!“, schrie Lydia zurück, ohne den alten Mann anzusehen.
„Ich weiß, wo wir sicher sind!“, beharrte Dakuri.
Jane sah die ersten Schatten im Unterholz. Es waren Wesen, die wage an Menschen erinnerten, missgebildet wie manche Tyrns, die sie gesehen hatte. Aber schon die Geräusche, die sie ausstießen, machten klar, dass es sich nicht um Kopfmenschen handeln konnte. Das waren Tiere. Monster!
Jane fasste, ohne es zu wollen, nach Caspars Hand und drückte sie leicht. Caspar umklammerte mit der gesunden Hand ihr Handgelenk.
„Blatta!“, zischte Daria.
Ihre Gegner wimmelten aus dem Wald heraus wie ein aufgeregter Ameisenhaufen. Ihre Gliedmaßen waren verzogen. Es war nicht so schlimm, wie es mit den beiden Wesen im Steinhaus gewesen war. Mal war ein Arm in die Länge gezogen, mal ein Bein verkürzt, häufig der Körper zu einer Seite hin eingerollt, als sei auf der einen zu wenig, auf der anderen Flanke zu viel Fleisch. Die Wesen bewegten sich schneller als Menschen und dabei langsamer als Arachnid und Behemoth, sie humpelten ungeschickt auf ihren unförmigen Gliedmaßen vorwärts und trugen noch die Reste von Kleidung am Leib.
Es ertönten laute Knalle. Jane fuhr bei jedem zusammen. Es waren Liams Knallstöcke, die den Lärm verursachten. Jane konnte Rauch riechen und sah einige Blatta getroffen auf den Boden fallen und nicht wieder aufstehen.
Sie verstand diese unheimliche Waffe nicht und fürchtete sehr, dass ein Knall davon sie verletzten könnte. Aber in Liams Rücken schien es sicher zu sein.
„Wie haben sie uns so schnell gefunden?“, schrie Lydia laut über den Kampflärm. Die Blatta kreischten und fauchten jetzt. Sie huschten in schnellen Kreisen um sie herum, wie Wölfe. Jane merkte, dass die Feinde nach einer Schwachstelle in ihren Reihen suchten, nach einem Verteidiger, dem die Kraft ausging.
Das war Dakuri, der müde und langsam war. Die Blatta merkten, dass der Stock des Alten immer später reagierte, und drängten nach dieser Stelle. Lydia sprang Dakuri zur Seite, aber dafür öffnete sich eine andere Lücke, die die Frau eigentlich beschützen sollte. Und die Blatta wurden immer mehr, ein riesiges Rudel.
„Es sind zu viele“, rief Liam: „Wir müssen springen.“
„Dakuri – sag mir, wohin!“, rief Daria und streckte eine Hand in die Mitte, um nach Jane zu greifen, während sie mit der anderen weiterhin die Blatta abwehrte.
„20 Jahre nach vorne“, gab der Mann knapp zurück und fasste mit einer zittrigen Hand die Schulter von Liam, der unvermindert in die anstürmenden Blatta schoss.
Lydia griff nach Daria und Dakuri und ließ dazu ihre Waffe fallen: „Jetzt!“
Liam griff nach Caspar.
Im nächsten Moment spürte Jane ein Ziehen im Bauch, als ob dort ein Haken steckte, der sie nach vorne zöge.
Sie bekam den Aufenthalt im Strom der Zeit kaum mit, so kurz war er. Schon stolperte sie mit wimmerndem Einatmen in einen neuen Wald, der sich in Nichts von dem anderen Wald unterschied. Nach kurzem Umsehen, erkannte sie, dass sie auf dem gleichen Weg standen, der jedoch überwuchert war. Ein paar Bäume waren umgestürzt, ein paar neue gewachsen.
„Wir haben etwa 20 Minuten“, verkündete Liam mit einem Blick auf einen kleinen, goldenen Gegenstand, der an einer dünnen Kette aus seiner Tasche ragte.
„Bis die Blatta kommen?“, fragte Caspar und sein Vater nickte, bevor die Ausgewachsenen mit ihrer seltsamen Art, zu diskutieren begannen. In knappen Worten wurden Vorschläge gemacht, Einwände bedacht und ganz vieles anderes getan, für das Jane eine Woche gebraucht hätte. Die Ausgewachsenen waren darauf eingespielt. Sie und Caspar konnten nur in der Mitte der Größeren stehen und zuhören, wie Daten und Orte über ihren Köpfen dahin flogen. Jane versuchte, den Überblick zu behalten, doch das war sehr schwer.
Es war vielleicht eine Minute vergangen, als ein misstönender Schrei erklang.
Die sechs Papilionis wirbelten herum.
„Da!“, schrie Caspar aufgeregt und deutete in die tiefen Schatten unter den Bäumen, wo sich etwas mit der rücksichtslosen Schnelligkeit eines Blatta bewegte.
„Viel zu schnell“, murmelte Liam.
„Springen, Rasch!“, befahl Dakuri und griff nach ihren Händen. Jane fand die Hand von Daria – Caspar hatte sie noch nicht losgelassen – da wurde sie wieder nach vorne gerissen. Beim dritten Mal in so schneller Folge tat der Sprung mehr weh. Jane biss die Zähne aufeinander, als ihr übel wurde.
Schon standen sie an einem neuen Ort, ein belebter Platz. Unzählige Menschen in langen Gewändern schrien auf, als plötzlich die sechs Reisenden mitten unter ihnen erschienen. Die Menschen flohen, aber Jane hörte über dem Kreischen den gleichen Schrei wie zuvor, ein Kreischen wie von einem Vogel, das in drei lauten Stoßen endete. Ein „Iaaaaaaaaaaaah! Ack! Ack! Ack!“
Wieder trieb sich ein Haken aus glühendem Stahl in ihren Körper, und diesmal landeten sie auf einer friedlichen, grünen Wiese.
Dakuri stolperte vornüber und hustete gequält. Lydia kniete sich eilig neben ihn und hielt ihn fest. Jane sah erschrocken, dass der Mann blau anlief und nach Atem rang. Jetzt spannte sich die Haut über Dakuris Schädel, als wäre er bald ein Totenkopf. Der Mann war in sich zusammengesunken, knochig und abgemagert, die Haut durchscheinend über seinen Adern und nur noch wenige Haare auf dem Kopf. Sogar der weiße Bart war dünner geworden.
Lydia strich ihrem Freund sanft über den Kopf: „He. Atmen, ja?“
Dakuri beruhigte sich langsam. Die sechs Papilionis sahen sich um.
„Hierher? Warum hast du uns hierher gebracht?“, fragte Liam nervös.
Auch Jane erkannte diesen Ort wieder. Es war der Kreis aus riesenhaften Steinen, wo die Ausgewachsenen sie zum ersten Mal gefunden hatten. Hier war sie mit Caspar aufgewacht, zu einer Zeit, die nicht so lange her zu sein schien.
Aber jetzt war dieser Ort wie verändert. Die Steine hatten eine ganz andere Anordnung und waren sehr viel weniger. In der neuen Zeitleiste waren die Steine schwarz, und um ihren Kreis herum hatte man einen tiefen Graben ausgehoben und geflutet. Trotzdem wusste Jane, dass dies der Ort war. Wie hatten die Ausgewachsenen und Caspar ihn genannt? Stonehenge.
„Wir sind … hier sicher“, keuchte Dakuri mühsam.
Liam sah auf den Mann herunter: „Ich will nicht mit dir streiten, Dakuri. Aber wir haben uns versprochen, diesen Ort zu meiden.“
„Es sei denn, es geht nicht mehr anders“, sagte Lydia scharf und half Dakuri dabei, sich im hohen Gras auszustrecken: „Aber jetzt sind wir in großer Gefahr. Und die Blatta betreten diesen Ort nicht.“
„Was ist dieser Ort?“, fragte Caspar: „Warum sind wir hier sicher?“
„Stonehenge ist das Zeittor“, erklärte Daria. Während sich Liam und Lydia um Dakuri kümmerten, zog die dunkelhäutige Frau sie ein Stück zur Seite: „Wir wissen nicht hundertprozentig, was es hiermit auf sich hat. Juriko und Carla haben klar gemacht, dass dieser Ort von großer Bedeutung ist. Und dass man nur hier vor den Motten sicher ist. Wir vermuten, dass die Quelle des Zeitstromes einmal hier lag. Vor ewigen Zeiten. Jedenfalls – in allen Zeitleisten und in allen Zeiten ist dieser Ort immer gekennzeichnet worden. Eine rätselhafte Macht schützt ihn. Aber Juriko und Carla haben Lydia und Dakuri auch davor gewarnt, diesen Ort zu betreten. Man darf hier nichts verändern, oder diese Macht wird geschwächt.“
„Warum wissen wir über alles zu wenig?“, murrte Caspar.
Daria lächelte traurig: „Weil Juriko und Carla früh gestorben sind und Dakuri und Lydia wenig von ihnen erfahren haben.“
Sie sahen zurück zu dem alten Mann im Steinkreis, dessen Atem sich langsam beruhigte.
Daria sagte etwas Seltsames, dass sich Jane gerade deswegen einprägte: „Ich fürchte, es beginnt eine neue Ära. Ein neues Zeitalter in der Rechnung des Memento. Ich fürchte um uns.“
Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ
Sie verbrachten diese Nacht in der Stille des Stonehenge. Draußen, außerhalb des Rings aus Steinen, zirpten Grillen.
Jane hatte einmal, als sie noch in der leeren Holzhöhle voller Staub gewohnt hatten und gerade erst begannen, ihr neues Leben zu erforschen, eine Grille gefangen. Sie war einfach dem Zirpen hinterher gelaufen, und dann hatte sie das springende Insekt endlich gefasst. Es war ein zerbrechliches, braunes Ding gewesen, mit langen Fühlern und sechs Beinen.
Jane hatte aus ihrer Heimat nur eines der Wesen gekannt, die die Menschen hier als Insekten bezeichneten: Es hatte nur Kakerlaken gegeben. Aber in den Zeiten gab es so viel zu entdeckten, das Dakuri ihr nach und nach erklärt hatte: Marienkäfer, Grillen, Heuschrecken – die fand sie gruselig – aber auch Motten und Schmetterlinge, Hirschkäfer, Maikäfer, Mistkäfer, Wanzen. Manche waren unauffällig braun, andere schillerten. Dakuri hatte ihr erklärt, dass es viele der Tiere auch in der Steinzeit gegeben hatte. Aber Jane hatte dort niemals Grillen zirpen gehört.
Das Geräusch war unheimlich. Wie konnten so kleine Wesen so laut sein? Jane hatte gelernt, dass etwas umso gefährlicher war, je mehr Krach es machte.
Aber Grillen waren harmlos, und sie war so müde, dass sie bald doch einschlief, im Gras zusammengerollt und den gleichmäßigen Atem ihrer Gefährten im Ohr.
Sie erwachte nicht viel später, wie ihr der wandernde Mond mitteilte. Jane schlug die Augen auf und wusste sofort, dass etwas nicht stimmte. Ihr Herz schlug schnell.
Gefahr! Irgendetwas musste sie geweckt haben, das zu einer Gefahr gehörte.
Sie drehte sich lautlos auf die Seite und spähte in die Nacht hinaus. Die gewaltigen Steine waren schwarze Schatten vor den Sternen, die Nacht kalt und einsam. Jane wünschte sich ein Feuer, dass die Dunkelheit endlich vertrieb, Lichtschein, um die Monster und Raubtiere zu vertreiben.
Sie drehte lauschend den Kopf.
Da! Das Geräusch erklang erneut. Warum nur wachen die Ausgewachsenen nicht davon auf?Keckern und Schnaufen, leise Schritte, das Rascheln im Gras – etwas lief gerade außerhalb des Steinkreises herum.
Jetzt hörte Jane auch ein Knurren, bei dem sich ihr sämtliche Nackenhaare aufstellten.
In welche Zeit hatte Dakuri sie gebracht? Was für Wesen lauerten dort draußen?
Der Zeitkern schrie los. Jane erschrak bei dem Geräusch, dem hohen Kreischen, das noch größere Gefahr bedeutete. Sie sprang auf, um sie her erhoben sich die anderen, noch schlaftrunken und benommen, aber wachsam.
Die Schatten am Rand des Kreises waren schnell. Sie bewegten sich unnatürlich.
„Blatta! Blatta im Kreis!“, rief Liam und es blitze und knallte laut aus seinem Knallstock. Blatta kreischten. Im Blitz sah Jane die Wesen, die auf ihr Lager zu huschten. Sie sah auch Caspar, der sich nicht auf die Beine erheben konnte. Sie packte seinen Arm und zog ihn hoch, dann flüchtete sie zu Daria, die ihre Waffe aufgespannt hatte. Auch Darias Waffe knallte. Es war ein furchtbares Chaos. Jane drückte sich eng an Daria und schloss die Augen. Sie fürchtete sich. Sie fürchtete sich so sehr.
Die Ausgewachsenen schrien durcheinander. Dakuri stolperte zu ihnen und fasste Caspars Vater. Irgendwo rief Lydia nach Hilfe. Dakuri befahl Daria etwas und schubste Liam zu ihnen.
Ein Blatta ragte plötzlich vor Jane auf, schief, großer als ein Ausgewachsener, den Kopf seitlich durch die Fehlhaltung des Halses, die Augen schimmerten blass im Mondlicht. Ein Knall. Der Blatta flog fort und kreischte.
Liam stand bei Caspar.
„Los!“, rief er.
„Nein!“, schrie Daria und ein Schmerz zerriss Janes Bauch. Sie tauchten in Gold, das ihr mehr und mehr wie Baumblut vorkam, übel schmeckend, unangenehm und klebrig.
Sie sprangen nur zu viert. Das letzte, was Jane von der anderen Zeit hörte, war ein lauter Schmerzensschrei.
Sie landeten in Kälte.
Alles war kalt, selbst durch ihre Kleidung hindurch, die sie vor vielem abschirmte.
„Masken auf“, sagte Liam in die Stille, ein kurzer, harter Ton. Jane suchte ihre Maske und fand bloß die von Caspar, die sie für ihn getragen hatte. Es war Daria, die ihr die Gazelle aus Holz gab.
Die Luft schmeckte sauer, bevor Jane die Maske aufzog. Sie waren nur zu viert, unter einem Himmel ohne Sterne. Die einzigen Bäume, die sie sahen, trugen keine Blätter.
„Wir sind in der Zukunft“, erklärte Liam gedämpft durch die Maske mit dem Krokodil: „3.645, eines der spätesten Daten dieser Erde.“
Jane sah Caspars weit aufgerissene Augen hinter dessen Maske. Ihr Herz klopfte ihr bis zum Hals.
„Was ist nur aus der Erde geworden?“, fragte Daria leise und sah sich um.
„Wir sollen hier auf Dakuri und Lydia warten“, erklärte ihnen Liam und hielt mit langsamen Schritten auf einen kleinen Hügel zu, der sich als einziger Fixpunkt über der mit Schnee gesprenkelten, grauen Erde erstreckte. Ein paar Flocken trieben durch die Luft.
„Sie werden hier in der Nähe ankommen. Und die Blatta brauchen lange, um uns hier zu erreichen.“
„Ich dachte, der Steinkreis sei sicher!“, sagte Caspar laut, während sie auf dem Hügel saßen, der Totenstille lauschten und warteten.
„Offenbar nicht mehr“, sagte Liam düster: „Vielleicht gibt es keine sicheren Orte mehr.“
„Die Blatta haben uns eine Falle gestellt“, sagte Daria mit einem Seufzen: „Sie hatten sich überall in der Zeit verteilt, wie es scheint. Nur nicht in der Zukunft.“
„Warum nicht hier?“, stellte Caspar die Frage.
„Die Zukunft ist … anders“, sagte Liam langsam und bedachte Caspar mit einem Blick, der durch die Maske kaum zu deuten war.
„Wir waren ein paar Mal hier“, erzählte Daria: „Und egal, in welcher Zeitleiste wir sind, die Zukunft ist immer gleich.“
„Gleich?“, echote Caspar.
„Es ist, als würde die Erde, egal, was zuvor passiert, immer auf das gleiche Ende zusteuern. Der Sumpf, in dem der Strom der Zeit versickert“, erklärte Liam und machte eine ausholende Bewegung: „In diesem Sumpf. Mit jeder neuen Zeitleiste, so scheint mir, rückt er etwas näher.“
„W-was kommt danach?“, fragte Caspar.
Liam und Daria zuckten mit den Schultern. „Das Ende der Welt. Der Tod. Nichts“, sagte Daria: „Der Strom der Zeit bringt uns nicht weiter als bis hierhin, und vielleicht noch 10, 20 Jahre in die Zukunft. Dann … Ende.“
„Ende“, wiederholte Caspar und sah über das tote Land.
„Es ist traurig“, meinte Daria: „Und vielleicht kommen die Blatta deswegen nie hierher. Vielleicht auch aus einem anderen Grund. Wir wissen es nicht. Wir sind selbst nur hier, wenn es sein muss.“
Es folgte langes Schweigen. Jane spielte mit den Fingern in der Erde, bis endlich die Sonne aufging. Von Lydia und Dakuri fehlte noch immer jede Spur, doch in dem feuerroten Schein, der sich entfaltete, konnten sie die graue, schneebedeckte Welt endlich im Licht betrachten.
Kein Baum trug noch Blätter. Es herrschte jene Stille, die die Abwesenheit von Leben begleitete. Nicht weit entfernt erhob sich eine weitere Hügelkette, kleine, niedrige Buckel auf dem Gesicht des Planeten. Der Mond hing neben der blutroten, fernen Sonne, oder die Splitter, die von ihm geblieben waren.
Jane starrte hinauf.
Große Splitter, die vor einem roten Himmel trieben, schwarze Scherben, die zerbrochene Schale von dem Ei, aus dem sich die Welt befreit hatte.
Die trostlose Welt war dunkler, nicht so tief im Schnee versunken, aber auch so merkte Jane, dass sie die Hügelkette kannte.
Sie kannte deren Anblick von der anderen Seite.
Ohne sich um die überraschten Rufe ihrer Begleiter zu kümmern, sprang sie auf und ging auf die Hügel zu, zuerst mit schweren Schritten, dann rennend, als müsse sie die Berge vor dem Wind erreichen.
Sie erreichte deren Rücken und blickte in das Tal hinab, auf ein kleines Dorf aus Holzhütten. Menschen lebten dort, Menschen, die in den Hütten wohnten oder in den natürlichen Felsen im Berg. Jane konnte nur hinab starren, bis Caspar und die beiden Ausgewachsenen sie erreicht hatten.
„Jane! Was hast du?“, fragte Caspar.
Kakerlaken huschten über den Boden, fast alles, was hier noch lebte. Mit einem zitternden Finger deutete Jane auf das einsame Tal.
„Da wohne ich. Das ist mein Zuhause.“