Die Zukunftsmenschen trugen Dakuri und Lydia auf zwei Tragen in das Dorf. Daria lief neben ihnen, und Liam, dessen Suchtrupp eiligst verständigt worden war, traf bald zu ihnen.
Die Tragen wurden auf dem Platz in der Mitte des Dorfes abgesetzt, auf dem sich schnell die Menschen versammelten, wie es auch bei der Ankunft der vier jüngeren Papilionis geschehen war.
Diesmal waren die Menschen jedoch still bis auf eine Hintergrundmusik besorgten Murmelns.
Caspar und Jane drängten sich durch die Menge nach vorne, wo Liam und Daria bereits bei den Älteren saßen.
Lydia hatte einen großen, klaffenden Schnitt im Bauch. Caspar spürte, wie sein Magen bei dem Anblick rebellierte, bevor Liam eiligst eine Decke über den Riss zog, die sich sofort rot verfärbte. Die blasse Frau sah jetzt beinahe durchscheinend aus, die Wangen eingefallen und alle Farbe aus ihrem ohnehin schon hellen Körper gezogen. Tiefe Falten hatten sich in ihr angespanntes Gesicht gegraben und ihre Haare, die an Spinnweben erinnerten, waren wirr und von Dreck verklebt.
Lydia schien zu schlafen, in den Fängen eines Alptraums gefangen. Daria legte eine Hand auf die Stirn der Älteren und flüsterte: „Sie brennt!“
Dakuri, auf der zweiten Liege, hatte die Augen auf den Himmel gerichtet und atmete langsam und mühevoll. Er war nicht verletzt, dafür aber gealtert. Er schien in sich zusammen gefallen zu sein, der Kopf saß lächerlich groß auf einem dürren Hals, und alle Kraft, die der Mann einmal besessen hatte, war verschwunden. Sein Körper wirkte aufgedunsen und verzogen, weil Beine und Arme dünn wie der Knochen darunter war. Die Haut warf Falten, war viel zu groß für den geschrumpften Körper, die Gelenke stachen geschwollen hervor, die Hände und Füße sahen zu groß für die Streichholzbeine aus.
Dakuri bemerkte sie nicht. Er reagierte nur auf sehr laute Geräusche, seine Augen waren grau und fixierten keinen festen Punkt, folgten nur helleren Lichtflecken. Seine Hände zitterten unkontrolliert, aber es war, als wäre Dakuri nicht mehr da.
„Bring die Kinder weg“, sagte Liam zu Daria. Caspar wurde an der Schulter gefasst und fort geführt. Er merkte, dass ihm sehr kalt geworden war.
„Was passiert jetzt?“, fragte er leise.
Daria seufzte leise. Sie hielt inne. Caspar, Jane und die Frau standen kurz vor der Hütte, die ihnen zugeteilt worden war.
„Wir werden sehen“, sagte Daria: „Wunden können heilen.“
Sie schob sie beide durch die Türöffnung: „Bleibt hier.“
Wie von weit her hörte Caspar seinen Vater auf dem Platz rufen: „Ist hier kein Arzt? Helft uns! Heffl. Heffl!“
Im Inneren der Hütte war es dunkel. Caspar setzte sich auf den Hocker, den man ihm gebracht hatte. Ihm war kalt. Jane stand ihm gegenüber, schweigend. Draußen hörten sie Bewegung, gedämpfte Rufe, Menschen liefen hin und her, aber die beiden Kinder waren ausgeschlossen. Caspar fühlte sich so hilflos wie nie zuvor. Er wusste nicht, was draußen geschah. Er wollte es wissen, aber gleichzeitig fürchtete er sich vor der Antwort. Starben Lydia und Dakuri jetzt? Gab es etwas, das er tun konnte?
Die Angst und Ungewissheit zerriss ihn innerlich. Er suchte Janes Blick und sah die gleiche Furcht in ihren Augen gespiegelt.
Aber Jane war ruhiger. Obwohl sie Angst hatte, schien sie daran gewöhnt. Sie trat schweigend zu ihm, hockte sich neben den Hocker und fasste seine Hand. Caspar merkte, dass sein Atem krampfartig ging. Er weinte.
Es war einfach, von dem Baumstumpf zu gleichen und das Gesicht an Janes Schulter zu vergraben. Ein Teil von ihm fragte sich, ob er weinen durfte. Er war ein Junge, er war vielleicht bereits erwachsen. Aber in diesem Moment fühlte er sich jung wie ein sechsjähriger. Jane hielt ihn fest und brummte beruhigend. Die Angst kroch über seinen Rücken und er war so dankbar dafür, in der fahlen Dunkelheit nicht allein zu sein.
Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ
Die ältesten Papilionis waren in eine leerstehende Hütte geschafft worden. Man hatte ihnen aus Stoffen und Lumpen zwei Betten gemacht. Lydia war in schmutzige Verbände gehüllt. Sie hatte die Augen geöffnet und lächelte schwach, als Caspar und Jane vorsichtig die Hütte betraten.
Liam saß neben Dakuri und hielt die Hand des alten Mannes. Der schweigende, düstere Liam, der keine Reaktion zeigte, nur einen kurzen Blick, um das Eintreten der Kinder zu registrieren, machte Caspar Angst.
Daria folgte ihnen mit leisen Schritte. Sie hatte beide gerufen.
Denn Dakuri war tot.
Die Luft in der kleinen Hütte wirkte fremd, kühl und außerweltlich. Liams Gesicht war eine Maske, die kein Gefühl zeigte und doch eine furchtbare Trauer ausdrückte. Dakuri lag einfach da und Caspar fröstelte, weil er spürte, dass es nicht Dakuri war. Daria und Lydia weinten offen, aber Caspar stellte fest, dass er überhaupt nichts empfand. Nur große Angst.
Er wusste nicht, was er tun sollte. Er starrte auf Dakuris Körper hinunter und fühlte sich wie ein Eindringling in etwas sehr Privates.
Etwas flatterte an ihm vorbei.
Ein weißer Schmetterling hatte den Weg durch die offene Tür gefunden und flatterte durch das dunkle Innere. Nach kurzem Suchen ließ sich das Insekt auf Dakuris Brust nieder und fächerte sanft mit den Flügeln. Caspar bestaunte den Schmetterling, dessen weiße Flügel vorne in durchscheinendem Grau endeten. Er trug zwei weiße Punkte auf jedem Flügel und der Körper war ebenfalls dunkelgrau.
Einen Moment blieb der Schmetterling sitzen, dann flatterte er wieder hoch, kreiste ein paar Mal suchend in der Hütte und flog dann so nah an Caspars Gesicht nach draußen, dass ihn ein leichter Windzug streifte.
Daria ging zu Liam und berührte dessen Schulter. Liam stand auf und umarmte sie. Weinend vergrub Daria ihr Gesicht an seiner Schulter.
Es war ein verrückter, unwirklicher Moment, der davon unterbrochen wurde, dass Lydia einen Schmerzlaut ausstieß, nachdem sie versucht hatte, lautlos zu weinen.
Daria kniete sich neben sie und hielt ihre Hand. Liam suchte eine kleine Sammlung Tontöpfe nach irgendetwas ab, das ihnen helfen könnte.
„Ich werde springen“, entschied er.
„Wohin denn?“, fragte Daria mit schwacher Stimme.
„Irgendwo in der Vergangenheit wird es etwas geben, dass uns helfen kann“, sagte Liam und war im nächsten Moment verschwunden, bevor einer von ihnen reagieren konnte.
„Nicht!“, sagte Daria verspätet und seufzte dann. „Idiot.“
„Kö-können wir irgendwas tun?“, fragte Caspar nervös.
Daria zwang sich zu einem Lächeln, das Caspar sofort durchschaute: „Nein. Ihr könnt gehen, wenn ihr wollt.“
Caspar wollte nicht gehen und sich weg schicken lassen wie ein Kind. Er wollte aber auch nicht länger nutzlos in dieser Hütte stehen. Jane berührte seinen Arm. „Wir suchen jemanden, der Dakuri raus bringt“, schlug sie vor.
„Tut das“, sagte Daria, die sich über Lydia beugte. Die ältere Frau weinte, was ihr mit der Wunde große Schmerzen zu bereiten schien.
Jane und Caspar traten nach draußen, wo die Zukunftsmenschen ihren üblichen Beschäftigungen nachgingen. Es war wie eine andere Welt zu der leeren, dunklen Hütte. Sie suchten nach jemanden, der ihnen mit Dakuri helfen würde. Entgegen ihrer Worte hatte Jane keine Ahnung, wen sie dafür ansprechen mussten. Und so irrten sie einfach durch die verwinkelten Straßen, ängstlich und ohne zu wissen, wo ihr Platz in diesen fremden Ereignissen war.
Kinder spielten kreischend auf den Straßen, die beiden Schmiede hämmerten auf ihr Kupfer ein, eine Gruppe Frauen stritt sich lauthals an dem Brunnen. Das ganze Dorf quoll über vor Lebendigkeit, erkannte Caspar, und das machte ihn wütend. Er trat gegen kleine Steine auf dem Weg und stolperte einmal, weil er sich mit dem Schwung verschätzte.
Jane führte ihn aus dem Dorf heraus.
Sie deutete auf den Hügel: „Mein Vater ist gestorben. Bin dahin gegangen. Komm.“
Caspar ergriff ihre ausgestreckte Hand und ließ sich den Hügel hinauf führen. Bald verstummten die fernen Stimmen hinter ihnen.
Auf der Hügelkette war es still, bis auf den Wind, der über den teilweise nackten Stein strich und heulte wie eine Armada gefangener Geister. Caspar musste feststellen, dass Jane recht hatte. Es war still und friedlich hier, der perfekte Ort, um seine Gedanken endlich zur Ruhe kommen zu lassen.
Sie setzten sich auf einen großen Stein, der aus dem Boden ragte und sahen über die zerstörte Welt hinweg. Langsam wurde es Abend und eine neue, sternlose Nacht erwartete sie.
„Wie alt warst du, als dein Vater gestorben ist?“, fragte er Jane leise.
Sie zählte es erst an ihren kurzen Fingern ab: „Acht.“
„Acht“, wiederholte Caspar: „Das tut mir leid.“
Jane wirbelte ein wenig mit den Händen durch die Luft, als sie sich bemühte, einen komplizierteren Gedanken in Worte zu fassen: „Tod ist für uns … anders. Viele sterben. Viele sterben jung. Er ist normal.“
„Woran glaubt ihr?“, fragte Caspar, als ihm unvermittelt der Gedanke kam.
„Glauben?“, wiederholte Jane.
Caspar nickte: „Wir glauben, dass die Toten in den Himmel kommen. Also, ihr Körper bleibt zurück, aber ihr Inneres, die Seele, geht weiter. Glaubt ihr auch so etwas?“
Jane überlegte. Dann sagte sie langsam: „Wir glauben, dass Menschen etwas hinterlassen. Eine … hmmm … Erinnerung. Und Erinnerung bewacht uns. Bleibt immer hier.“
„Bewacht euch? Meinst du, wie ein Beschützer? Oder wie ein Polizist?“, fragte Caspar neugierig.
„Beschützer“, sagte Jane: „Polizist, der uns verteidigt. Freund. Wenn man still ist, soll man sie hören können. Sie reden zu uns. Helfen uns. Wollen, dass wir weiter machen.“
Sie schwiegen und Caspar lauschte auf den Wind. Im aufziehenden Abend kam es ihm nicht unwahrscheinlich vor, dass die Toten zu ihnen reden könnten. Er fürchtete sich ein bisschen, aber er glaubte Jane, wenn sie sagte, dass diese Wächter freundlich sein sollten.
„Sind es viele Beschützer?“, fragte er sie.
„Sehr viele“, sagte Jane. „Alle, die tot sind. Von jetzt und von früher. Sehr, sehr viele.“
„Eine Welt der Toten“, murmelte Caspar nachdenklich und spürte, wie der Wind an seiner Kleidung riss.
Jane schüttelte den Kopf: „Noch nicht. Totenwelt kommt. Irgendwann. Noch gibt es Lebende. Vielleicht nicht mehr lange.“
„Daran glaubt ihr?“, fragte Caspar ein wenig entsetzt.
„Wir wissen“, sagte Jane leise: „Ende kommt. Gibt nur noch wenig Menschen. Bald keine mehr. Deswegen brauchen wir Geister, um uns zu sagen, dass wir weiter müssen.“
Caspar sah Jane an. Die Zukunftsmenschen wussten also, dass es die Welt nicht mehr lange geben würde. Sie wussten, dass es keine Möglichkeit gab, wieder eine Zivilisation aufzubauen.
„Das hier ist Zeit-ohne-Hoffnung“, erklärte Jane: „Kommt sicher nach“, sie runzelte kurz die Stirn, um sich zu erinnern, „Post-Apokalypse. Nach Zeit-ohne-Hoffnung kommt Totenwelt.“
„Nach der Moderne kommt die Regression“, überlegte Caspar. Dakuri hatte ihnen in seinen Geschichtsstunden niemals beigebracht, was nach der Moderne noch kommen könnte, die in jeder Zeitleiste mit der Apokalypse endete. Sie hatten nur selten über die Zukunft gesprochen, und nun wusste Caspar, warum. Das Zeitalter der Regression wurde aus der Post-Apokalypse geboren, wenn alles von früher vergessen wurde und die Menschheit in ihre Kinderstube zurückkehrte.
Kurz, bevor es überhaupt kein Leben mehr geben würde.
„Zeit-ohne-Hoffnung, das trifft es sehr genau“, murmelte er.
Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ
Irgendwann tauchte eine einsame Gestalt aus dem Dorf auf, die sich den Hang hinauf arbeitete, bis Caspar und Jane Daria erkannten und ihr entgegen liefen. Caspar hatte ein mulmiges Gefühl im Magen und fürchtete sich vor den Neuigkeiten, die Daria bringen würde. Er fürchtete auch, dass Jane und er Ärger dafür bekommen würden, sich nicht wie versprochen um irgendetwas zu kümmern.
Daria drückte sie beide einen Moment an sich, bevor sie sagte: „Lydia will mit uns reden.“
Schon dieser Satz hatte etwas Endgültiges.
„Wie geht es ihr?“, fragte Caspar und hoffte gleichzeitig, die Antwort nicht zu erhalten.
Daria seufzte leicht: „Nicht gut. Liam hat für sie Schmerztabletten und andere Verbände gefunden, aber sie hat viel Blut verloren. Sie ist schwach.“
Sie folgten Daria hinunter ins Dorf, wo sich die Zukunftsmenschen in ihre Hütten zurückgezogen hatten. Inzwischen war der Raum, den Lydia bewohnte, leer. Dakuris Leichnam war fortgeschafft worden.
Liam saß, die Ellbogen auf den Knien, und den Kopf in die Hände gestützt, neben der blassen Frau, als die drei anderen in die dunkle Hütte traten.
Lydia versuchte sich an einem Lächeln und winkte sie näher. Aus dem Liegen griff sie nach Darias Hand und die Frauen hielten einander fest, mit der schweigenden Zuneigung von Kampfgefährten, die weder viele Worte noch große Gesten brauchten, um den anderen alles wissen zu lassen.
Lydias Atem ging pfeifend. Eine dünne Blutspur lief aus ihrem Mundwinkel und wurde von Liam mit einem Lappen abgewischt. Die Hütte roch nach Tod.
„Ich werde bald gehen müssen“, sagte Lydia leise.
„Sprich nicht so“, unterbrach Liam sie heiser.
„Mir bleibt nicht mehr viel Zeit“, sagte Lydia und heftete ihren Blick kurz auf Liams Gesicht.
„Zeit spielt keine Rolle“, flüsterte Caspars Vater wie ein störrisches Kind, aber Lydia ging nicht mehr auf ihn ein.
„Ich muss euch etwas sagen“, sie sprach langsam und offenbar unter großen Schmerzen. Ihre Stimme war rau und gequält.
„Die Blatta – sie sind organisiert. Sie sind … stark.“
„Was heißt das?“, fragte Liam beunruhigt und schüttelte dabei den Kopf: „Wir kennen die Blatta. Sie sind nur Tiere!“
„Nein!“, widersprach Lydia so heftig, dass ihr Körper erzitterte und sie stöhnte: „Je länger sie leben, desto gerissener werden sie. Sie sind wahnsinnig, aber sie … sind nicht dumm.“
Lydia machte eine Pause und schloss erschöpft die Augen, dann sah sie die Versammelten wieder an: „Sie haben den Schutz von Stonehenge gebrochen. Sie haben uns in eine Falle gelockt. Sie sind intelligent. Sie sind überall!“
Caspar warf einen beunruhigten Blick zu Daria und Liam.
„Bist du dir sicher?“, fragte die dunkelhäutige Frau Lydia. Lydia nickte und zog Daria näher zu sich: „Ihr müsst fliehen, solange ihr noch könnt.“
„Wir können dich nicht transportieren“, widersprach Liam: „Weder durch den Strom der Zeit, noch auf einer Trage.“
„Du hörst mir nicht zu, Sylvester“, sagte Lydia: „Ihr müsst fliehen. Nicht wir. Lasst mich zurück.“
„Niemals!“, rief Daria sofort. Auch Liam schüttelte den Kopf.
Lydias Blick wurde hart, erstaunlich kraftvoll für ihre Verfassung: „Geht. Wenn ihr bleibt, werden die Blatta auch euch töten.“
„Sie kommen nicht hierher“, beharrte Liam.
„Sie werden kommen“, sagte Lydia.
Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ
Sie standen vor der Hütte. Lydia schlief, Liam starrte finster in den Nachthimmel und Daria, Caspar und Jane warteten unschlüssig darauf, was er als nächstes tun konnte.
„Können wir nichts tun?“, fragte Caspar Daria: „Ihre Zeit zurückdrehen oder wie das war?“
„Nein“, antwortete Liam statt der jungen Frau mit finsterer Stimme: „Das kann nur der andere Schwarze Apollo, und das war Dakuri.“
Daria trat hinter Liam und legte ihm eine Hand auf die Schulter, massierte den Muskel dort.
„Wir müssen uns entscheiden.“
„Lydia hat im Fieber gesprochen“, sagte Liam hart: „Wir lassen sie nicht zurück!“
„Ein Blatta hat sie verletzt“, sprach Daria trotzdem weiter, „und Dakuri gezwungen, für die Flucht alle Kraft aufzubrauchen. Sie haben Lydia verletzt, und nicht Dakuri. Als – als hätten sie gewusst, dass sie sich ansonsten geheilt hätten!“
„Zufall!“, knurrte Liam und drehte sich mit blitzenden Augen herum: „Ein unglücklicher Zufall. Vielleicht weiß Lydia auch nicht, dass wir in der Zukunft sind. Hier sind wir immer vor Blatta sicher gewesen!“
Wie als Reaktion auf Liams heftige Worte ging ein Alarm los, das hohe, durchdringende Schrillen vom Zeitkern. Alle vier zuckten zusammen und sahen sich.
„Vielleicht nur ein Rudel Tinea irgendwann früher“, sagte Liam, doch da bemerkte Caspar die dunklen Gestalten, kleine, schwarze Schatten, die auf dem Rücken der Hügel um sie her erschienen.
„Blatta“, sagte er tonlos und deutete auf den Horizont.
„Sie sind hier“, flüsterte Daria entsetzt.
Liam stürmte in die Hütte zu Lydia: „Los! Wir springen!“
Er packte Caspars Hand, der bereits Janes Handgelenk festhielt.
„Daria“, sagte Liam, als sie zwar Jane berührte, aber nicht Lydia.
„Ihre Wunde“, sagte Daria und nickte zu Lydia: „Sie wird es nicht überleben.“
„Wir können sie nicht hierlassen“, zischte Liam durch zusammengebissene Zähne: „Sie wird überleben!“
Daria fasste Lydias Hand und Liam sprang.
Der Alarm verstummte. Goldenes Licht hüllte sie ein, etwas strich warm über Caspars Haut und ließ ihn spüren, wie stark er zuvor gefroren hatte.
Nur einen Augenblick später standen sie in hohem Gras, unter einem hellen, azurblauen Himmel, umgeben von Wiesen, so weit das Auge blickte, bis auf einen Tannenwald und ein fernes, blau erscheinendes Gebirge.
Die vier Papilionis sahen sich um, doch es war kein Anzeichen für Leben zu erkennen. Daria kniete sich neben Lydia und strich ihr die Haare aus der Stirn.
Dann schloss Daria mit einem lautlosen Seufzen die Augen.
Liam kniete sich neben sie: „Nein. Nein!“
Caspar presste die Zähne aufeinander. Er konnte den Blick nicht von Lydias farblosem Gesicht abwenden, von ihrer reglosen, zusammengesunkenen Gestalt.
Diesmal weinte er nicht. Eine eiskalte, wütende Faust schloss sich um sein Herz. Er war wütend auf die Blatta, wütend auf seine eigene Hilflosigkeit.
Liam und Daria knieten sich zu Lydia, weinend und verzweifelt. In Caspars Hals steckte ein dicker Kloß, der ihn am Atmen hinderte.
„Diese Bastarde!“, fluchte Liam und schlug in die Erde unter dem Gras: „ich werde ihnen eigenhändig ihre Hälse umdrehen!“
Daria sah auf. „Rache wird uns nichts bringen“, flüsterte sie leise.
Liam verzog das Gesicht. „Warum sollte sie auch?“, fragte er.
Die Sonne schien hell auf sie herunter. Der Tag war fröhlich und schön, so unpassend zu Lydias ausgezehrtem Körper, dem der Strom der Zeit die letzte Kraft entzogen hatte.
Ein Schmetterling flatterte herbei, ein kleiner, weißer Schmetterling mit schwarzen Punkten auf den Flügeln, die in durchsichtigem Grau endeten.
Ein Schwarzer Apollo, der für einen winzigen Moment auf den gefalteten Händen von Lydia landete, hoch flatterte und über ihre verschwitzte Stirn krabbelte, bevor er wieder davon flog.
Und sein leiser Flug hinterließ nur Schweigen und vier gebrochene Papilionis.