Die vier Papilionis sprangen in eine Zeit, die in Caspars Zeitleiste etwa 500 Jahre vor Christus gelegen hätte. Ihr Ziel war Island.
Caspar stolperte aus dem Strom der Zeit und begann sofort, zu frieren. Nach dem Karbon empfand er Island als noch kälter und stürmischer. Liam hatte sie nah an der Küste abgesetzt, auf einem bräunlichen Streifen Sand, der größtenteils von Wellen überspült wurde. Eisiges Wasser lief über Caspars Schuhe. Obwohl die grauen Schuhe der Papilionis wasserabweisend waren, drang ein wenig der Kälte hinein.
Die vier setzten ihre Masken ab und schoben sie sich auf die Köpfe, wo das Holz einen guten Schutz vor dem Regen bildete. Dann sahen sie sich um.
Auf dem Meer, an einem kleinen, flachen Holzsteg befestigt, trieben ein paar lange Schiffe. Es waren Wikingerschiffe mit Drachenmäulern und einem einzigen, großen, gestreiften Segel, vielen Ruderreihen und offenbar wenig Stauraum, geschweige denn Schutz vor dem Wetter. Bunt bemalte Schilde hingen an der Reling, dazwischen staken Speere. Die Schiffe waren farbenfroh, aber sie wirkten nicht so fröhlich, wie Caspar sie von Spielzeug und Kinderbüchern kannte. Sie wirkten eher bedrohlich, so, als könnten die Drachen oder Seeschlagen sich jederzeit auf sie stürzen.
Es waren bestimmt zwei Dutzend Schiffe, obwohl Caspar nicht nachzählte. Sie deuteten darauf hin, dass sich eine Siedlung in der Nähe befinden musste.
„Kannst du altgermanisch?“, fragte Daria an Liam gewandt, der sich die Düne hinauf kämpfte.
„Ein wenig“, gab Caspars Vater zurück, erreichte den Hang und streckte eine Hand aus, um Daria auf den mit Grasbüscheln bewachsenen Erdhügel zu helfen. Als Caspar sich hinauf quälte, kam ihm Jane zu Hilfe.
Island war ein weites und flaches Land. Dunkles, sehr langes Gras bog sich unter dem Sturm, der gerade über die Insel zog. Es regnete in vereinzelten, aber sehr schweren Tropfen. Caspar merkte erstaunt, dass er das Gras vermisst hatte. Im Karbon gab es keine Gräser. Die etwa knietiefe Wiese kam ihm trotz des schlechten Wetters wie ein Paradies vor.
Die vier wanderten durch den Regen. Sie brauchten jedoch nicht lange, um das Dach der ersten Holzhütte in der Ferne zu erkennen. An einer dünnen Reihe sturmgebeugter Bäume entlang folgten sie einem matschigen Erdweg.
Je näher sie dem Dorf kamen, desto deutlicher wurde ihnen klar, dass etwas nicht stimmte.
Es stieg zu viel Rauch auf, um von einer Kochstelle zu stammen. Viele Dächer waren eingestürzt. Es stand tatsächlich nur ein einziges Gebäude, das, das sie zuvor erspäht hatten. Es war ein Stall, der etwas abseits stand. Der Rest des Dorfes bestand aus schwelenden Ruinen.
Irritiert liefen Daria und Liam langsamer.
„Ich war vor drei Tagen noch hier!“, sagte Daria.
„Hast du hier Medizin gesucht?“, fragte Liam mit gerunzelter Stirn.
„Nein, die habe ich aus der Moderne. Ich wollte meine Spuren verwischen und habe ein paar Zwischenstationen gemacht“, sagte Daria und lief auf das Dorf zu.
„Halt die Kinder zurück“, rief sie Liam zu. Doch Caspar hatte bereits einen Blick auf die leblosen Körper im Sand zwischen den Kohlen geworfen.
„Bleibt hier“, schärfte Liam ihnen ein und folgte Daria.
Caspar und Jane blieben zurück. Sie warf ihm einen Blick zu: „Bleiben wir echt?“
Die Kleinere hatte die Leichen wohl noch nicht entdeckt und wunderte sich, warum Caspar nicht wie sonst darauf bestand, mitgenommen zu werden.
„Sie sind tot“, erklärte er Jane und sah, wie sie die braunen Augen aufriss.
Er humpelte auf den Stall zu: „Komm. Wir gucken, ob hier etwas ist.“
Er wollte nicht in das Dorf. Sein Rücken kribbelte und er stellte sich vor, wie die Mörder der Wikinger noch zwischen den Hütten herum schlichen. Damit sollten besser Liam und Daria fertig werden.
Jane griff nach seiner Hand. Ihre Handfläche war rau und schwitzig, aber Caspar erwiderte den sachten Druck, bevor er die Tür zum Stall aufstieß, die schief in den Angeln hing.
Sofort schlug ihnen der Geruch nach Tod entgegen. Caspar taumelte zurück. Aus dem Inneren des dunklen Stalles ertönte das laute Summen unzähliger Fliegen. Janes Griff zerquetschte seine Hand.
Er schluckte den Würgreiz hinunter. Das Licht, das durch die offene Tür fiel, beleuchtete die blutigen Körper von Schafen. Die weiße Wolle war rot verfärbt, die Augen starrten blicklos nach oben. Selbst die Tiere hatte man niedergemetzelt. Blut hatte den Boden getränkt. Im Dunkel summten die Fliegen wie ein einziges, lebendiges Wesen, dass sich von Fäulnis und Ungerechtigkeit ernährte.
Caspar wich von der Tür zurück. Da bemerkte er eine Bewegung im Schatten.
Nur einen Augenblick später sprang ihnen etwas aus der Dunkelheit entgegen. Im ersten Moment hielt Caspar es für einen Menschen, doch dann sah er das überproportional große linke Auge.
Jane quiekte und riss ihn hinter sich. Der Blatta stieß gegen sie. Jane schrie, als die Krallen über ihr Gesicht und die Schultern kratzten. Dann trat sie dem Wesen vor das Schienbein und stieß es zurück. Knurrend wie ein wildes Tier landete der Blatta auf allen Vieren und umkreiste sie ungeschickt hoppelnd. Jane zog Caspar hinter sich. Sie zitterte. Als Der Blatta sie erneut ansprang, stieß sie Caspar zur Seite, der unsanft auf dem Boden landete.
„Jane!“, schrie er, als sie von dem Blatta gegen die Wand des Stalls gedrückt wurde. Er tastete über den Boden und fand ein verbranntes Holzbrett, dass von einer der Hütten stammen musste. Er warf es ihr zu.
Jane fing das Brett mit einer Hand und schlug es auf den Kopf des Blatta. Er ließ sie sofort los und heulte auf. Das Holz zerbrach bei dem zweiten Schlag, den Jane gegen seinen Schädel führte. Sie packte ein Ende des zersplitterten Brettes mit beiden Händen, wie einen Knüppel, und schwang ihn gegen ihren Gegner. Der Blatta wich zurück, behielt Jane aber wachsam im Auge. Caspar konnte nur auf dem Rücken im Schlamm liegen, unfähig, ohne Hilfe aufzustehen. Der Blatta lauerte auf eine Lücke in Janes Verteidigung. Und er fand eine.
In einem unbedachten Moment schwang Jane den Knüppel zu weit nach außen. Der Blatta sprang sie an, Caspar sah, wie sich seine Krallen in Janes Seite bohrten. Er hörte sie schreien, aber ihr Gegner schleuderte das Mädchen mit übermenschlicher Kraft hinter den Stall.
„Jane!“, schrie Caspar gellend.
Doch jetzt drehte sich der Blatta zu ihm um. Caspars Herz setzte einen Schlag aus, um dann doppelt so schnell zu schlagen, als wollte es vor dem wilden. glubschäugigen Wesen, dem getrocknetes Blut am Mund klebte, davon rennen.
Die Angst gab ihm genug Kraft, um rückwärts zu robben, doch der Blatta folgte ihm knurrend. Er machte schnelle Sätze und hielt dann inne, betrachtete Caspar wie etwas sehr kurioses, als könnte er ihn nicht richtig einschätzen. Die Neugier des Wesen erkaufte Caspar wenige Sekunden Lebenszeit, denn sonst hätte der Blatta ihn mit einem Schlag töten können.
Endlich stießen Caspars Finger auf etwas Hartes. Er stoppte, um es aufzugreifen und fühlte einen langen Holzgriff in der Hand. Da sprang der Blatta bereits auf ihn, die Arme ausgestreckt. Mit einem Schrei packte Caspar den Gegenstand, hielt ihn vor die Brust und ließ sich in den Schlamm fallen. Er kniff die Augen zusammen und roch Blut und verdorbenes Fleisch, als der Blatta gegen ihn stieß. Doch statt des erwarteten Todesstreichs sackte nur dessen Gewicht auf Caspar.
Als er nach wenigen Atemzügen immer noch lebte, wälzte er den Blatta von sich herunter und robbte zur Seite.
Das Wesen rührte sich nicht. Die glasigen Augen folgten Caspar noch, die Arme und Finger zuckten, aber mehr als ein Röcheln drang nicht mehr über die dünnen Lippen.
Dann starb der Blatta.
„Caspar!“, rief eine Stimme. Caspar sah sich um und entdeckte Liam, der zwischen den Hütten aufgetaucht war und jetzt auf ihn zu rannte. Kurz, bevor sein Vater ihn erreichte, entdeckte Caspar den Holzgriff, den er in der Hand gehalten hatte. Es war der Griff einer zerbrochenen Schaufel oder von etwas ähnlichem gewesen. Als der Blatta sich auf ihn gestürzt hatte, war der Holzgriff in seinen Mund geraten und der Schwung des Angreifers hatte ihm das Holz tief ins Gehirn getrieben.
Starke Arme umfassten Caspar und hoben ihn hoch. Liam trug ihn schnellstens einige Schritte von dem Blatta fort, bevor auch Caspars Vater bemerkte, dass das Wesen tot war.
„Geht es dir gut?“, fragte er: „Hast du ihn getötet?“
„J-ja“, antwortete Caspar zittrig. Dann zuckte er zusammen: „Jane! Er hat sie verletzt.“
Daria war an Liams Seite aufgetaucht. Sie warf einen entsetzten Blick auf den Blatta, dann lief sie in die Richtung, in die Caspar sah, als er nach Jane schrie.
Einen bangen Moment hing Caspar wie ein kleines Kind in den Armen seines Vaters. Dann tauchte Daria auf, und hinter ihr humpelte eine verschmutzte Jane her. Blut lief über ihre Seite und sie stützte sich auf ihren Knüppel, aber sie grinste, als sie Caspar sah.
Seine Schultern sackten vor Erleichterung nach unten. Sie lebte.
Er zappelte im Griff seines Vaters, doch Liam setzte ihn nicht ab.Stattdessen trug er ihn mit einigen schnellen Schritten aus dem Dorf: „Was ist passiert, Caspar?“
„Der Blatta war im Stall“, berichtete Caspar und verrenkte sich den Hals, um über Liams Schulter nach Jane zu sehen. Sie folgte neben Daria, lehnte aber offenbar das Angebot der Frau ab, sie zu tragen.
Als um sie herum nur noch flaches Gras war, setzte Liam ihn ab. Statt Caspar jedoch laufen zu lassen, legte er beide Hände aus seine Schultern und musterte ihn kritisch: „Und du bist nicht verletzt.“
Caspar schüttelte schweigend den Kopf. Was war nur mit seinem Vater los?
Bevor er reagieren konnte, zog ihn Liam plötzlich in die Arme und drückte ihn an sich: „Ich hatte schon Angst, dass ich dich auch verlieren würde!“
Caspar war so geschockt, dass er zuerst überhaupt nicht reagierte. Dann klopfte er Liam unbeholfen auf den Rücken.
Ebenso plötzlich, wie er ihn umarmt hatte, schob Liam ihn wieder von sich. Das gewohnte, distanzierte Gesicht kehrte zurück auf Liams Miene.
„Du hast dich gut geschlagen, aber wenn ich dir das nächste Mal sage, dass du irgendwo wartest, wartest du und stürzt dich nicht in die nächste Gefahr, verstanden.“
„Ja“, sagte Caspar, der vollkommen überfordert war. Zum Glück kamen Daria und Jane nun an. Caspar war froh, sich auf das Mädchen konzentrieren zu können. Sie blutete aus zwei tiefen Kratzern am Rippenbogen und mehreren kleinen Schnitten im Gesicht. Aber sie grinste: „Du hast ihn besiegt, Caspar!“
Er grinste zurück und musste plötzlich lachen. Ja, er hatte seinen ersten Kampf gewonnen!
Daria schüttelte streng den Kopf: „Dass ihr mir nicht übermütig werdet, Kinder.“
Liam war ernst geworden: „Die Sache mit den Blatta ist schlimmer, als ich dachte. Wir sollten so bald wie möglich weiter.“
Daria nickte: „In England 1804 gibt es eine kleine Widerstandsgruppe“, sagte Daria: „Und die Zeit entspricht übrigens deiner Heimat.“
Sie sah Liam dabei an. Der mahlte mit dem Kiefer: „Gut. Gehen wir dorthin.“
Daria griff nach Janes Hand, Liam nach Caspars. Er griff wiederum seinerseits nach Jane.
Im nächsten Moment standen sie auf einer schmalen, verregneten Gasse aus Kopfsteinen.
Irgendwo begannen Glocken, sehr laut zu schellen. Im Nu öffneten sich hölzerne Fensterläden auf beiden Seiten der Straße. Licht fiel in schmalen Rechtecken auf das Kopfsteinpflaster, und mehrere Männer richteten Waffen auf sie. Caspar sah in die Mündungen mehrerer Revolver und Schrotflinten und schluckte.
Die Männer hielten irritiert inne. Eilig hoben die vier Papilionis die Hände. Liam begann, mit den misstrauischen Männern zu reden. Caspar hörte zu, verstand aber nur einige Sprachfetzen. Offenbar war dieses Englisch ein wenig anders als das, was er in der Schule gelernt hatte.
Trotzdem verstand er, dass Liam den Männern eiligst den Unterschied zwischen Blatta und Papilionis klar machte. Nach kurzen Verhandlungen zogen sich ein paar der Männer zurück, um sich zu besprechen, und noch etwas später wurde ihnen eine Tür geöffnet und sie durften in eines der Häuser treten.
Sie wurden durch unzählige Räume geführt. Gaslaternen und Kerzen beleuchteten Häuser, die man schnell zu Burgen und Barrikaden umgebaut hatte. Das Lager der Gruppe erstreckte sich über zwei Häuserreihen, zwischen denen die Straße verlief. Draußen hatte Caspar bereits einige provisorische Brücken gesehen, doch der Hauptdurchgang auf die andere Seite verlief durch einen Tunnel, der in den Stein unter der Straße gegraben worden war.
Man hatte viele Wände zerschlagen, um die Räume größer zu machen, die Fenster verbarrikadiert und auch die Keller zu einem großen Lager für Waffen und Lebensmittel umfunktioniert. Caspar zählte die Gesichter der Männer und Frauen hier nicht, doch es mochten 100 oder 150 sein, die sich in den Blocks verschanzten. Sie alle wirkten erschöpft und mutlos, mit den langen, grauen Gesichtern von Menschen, die Schreckliches gesehen hatten.Ihr Misstrauen gegenüber den Zeitreisenden war spürbar. Während er durch die Gänge humpelte und Treppen hinab hüpfte, hielt Caspar sich dicht hinter seinem Vater.
Sie wurden in ein luxuriös eingerichtetes Zimmer, in dem drei Männer in altmodischen Anzügen und mit Melonen auf dem Kopf saßen, Zigarren rauchten und offenbar über Plänen brüteten. Caspar kündigte sich und seine Gruppe ungewollt an, denn beim Eintreten in die rauchgeschwängerte Luft bekam er einen Hustenanfall. Die drei Männer drehten sich um und musterten die Ankömmlinge neugierig. Der Mann, der sie hergeführt hatte, stellte sie in knappen Worten als die „Time Travellers“ vor.
Nachdem ihre Bewacher abzogen und die Tür hinter ihnen geschlossen wurde – was die Luft noch dicker machte – wurden ihnen Stühle und Sessel angeboten. Caspars Vater begann, mit den Männern zu sprechen, während Daria, Jane und Caspar schwiegen. Bald beugte sich Liam mit den anderen dreien über die Stadtkarte auf einem kleinen Tisch und schob überfüllte Aschenbecher hin und her.
„Was machen sie?“, fragte Caspar an Daria gewandt.
„Wir brauchen mehr Informationen über die Angriffe der Blatta. Liam informiert sich.“
„Und dann?“, fragte Caspar weiter.
„Wir werden die Männer vielleicht unterstützen“, überlegte Daria: „Oder wir ziehen weiter. Wir müssen die Blatta schließlich nicht hierher locken.“
Caspar unterdrückte einen Seufzer. Wie sollten sie denn eine Invasion der Blatta stoppen? Zu viert?
Daria schien seine Gedanken zu erraten.
„Es gab schon früher solche Angriffe“, erklärte die Hisspanierin: „Die Blatta haben irgendwo eine Basis. Ein Nest, sagen wir dazu. Wir müssen es finden und zerstören. Sobald das Nest angegriffen wird, kommen alle Blatta dorthin. Mit ein paar geschickten Fallen können wir sie alle zerstören.“
Sie hielt inne und sah auf. Die Engländer hatten ihr Gespräch bemerkt und musterten die drei Papilionis jetzt neugierig. Caspar fragte sich urplötzlich, wie ihre Sprache wohl für die Menschen klang.
Er versuchte, sich in die Situation der Menschen hineinzuversetzen. Sie kämpften gegen seltsame Gegner, die ihre ganze Welt zerstört hatten. Plötzlich tauchten vier Menschen auf, die behaupteten, Zeitreisende zu sein. Sie würden sich kurz mit ihnen besprechen und dann weiter ziehen, offensichtlich Nomaden, die keine bekannte Sprache sprechen konnten.
Caspar senkte die Augen auf seine ungleichen Hände, die in seinem Schoß ruhten. Sie waren heimatlos. Sie würden ihr Leben lang gegen die Blatta und Tinea kämpfen, und am Ende sterben wie Dakuri und Lydia, ohne, dass Jemand wusste, was sie getan hatten.
Er spürte einen Kloß im Hals. Den Rest des Gespräches bekam er nicht mehr mit.
Sie aßen mit den verschanzten Kriegern zu Abend. Mehrere Wohnzimmer, deren Trennwände man durchschlagen hatten, dienten als Speisesaal. Die meisten Menschen saßen auf dem Boden, auch die drei Anzugträger, die die Anführer zu sein schienen.
Es gab Eintopf, in dem verschiedene Gemüsesorten, Bohnen und zähes Fleisch, das Caspar nicht einordnen konnte – und auch nicht wollte.
Die vier aßen schweigend. Die Menschen beobachteten sie, wann immer die Papilionis nicht hinsahen. Caspar hasste es, angestarrt zu werden. Deswegen aß er so schnell und so wenig wie möglich.
Statt bei den Menschen zu schlafen, beschlossen die Papilionis, gleich weiter zu ziehen. Liam redete noch eine Weile mit den Männern, mit denen er sich offenbar angefreundet hatte und gab ihnen Tipps. Dann sprangen die vier Papilionis vor den erstaunten Augen der Engländer in den Strom der Zeit.
„Das Nest muss irgendwo in der Vergangenheit sein“, erklärte Liam ihnen, während sie durch weitere Kopfsteinpflasterstraßen liefen, wenige Jahre vor dem Angriff. Hier waren die Straßen noch bevölkert. Männer in den gleichen Anzügen wie die Widerstandstruppe waren bereits auf den Straßen, obwohl es sehr früher Morgen war. Caspar wurde erneut angestarrt, aber generell wurden die vier Menschen in der untypischen, grauen Kleidung neugierig beäugt.
„Woher weißt du das?“, fragte Caspar.
„Die Menschen konnten uns einen Zeitpunkt nennen, ab dem der Angriff begann“, erklärte Liam: „Das bedeutet, die Blatta kamen für sie aus der Vergangenheit. Sie greifen niemals in zeitliche Nähe zum Nest an, um es zu schützen. Das hier ist die letzte Zeitspanne, in der es Menschen gibt. Also wird das Nest irgendwo hier verborgen sein.“
„Ihre Spione haben uns vermutlich bereits bemerkt“, erklärte Daria.
Caspar sah sich auf den beinahe menschenleeren Straßen um und fröstelte: „Warum greifen sei nicht an?“
„Sie wollen das Nest schützen“, sagte Daria.
„Was genau ist Nest?“, fragte Jane.
Liam suchte nach den richtigen Worten: „Es ist eine Art Ausbildungslager. Oder Gefängnis. Sie sammeln alle Tinea ein, die sie fangen können. Und verwandeln sie in Blatta.“
„Verwandeln?“, fragte Caspar spitz.
Liam nickte: „Folter, hauptsächlich.“
„Liam“, sagte Daria, um ihn zu unterbrechen.
Caspars Vater seufzte: „Es ist schrecklich. Jede Tinea wird mit der Zeit zur Blatta, aber man kann den Prozess beschleunigen. Sagen wir, es ist eine Gnade, wenn wir es abbrennen.“
Danach gab es keine weiteren Details mehr, und weder Caspar noch Jane fragten nach.
Liam blieb mitten auf der Straße stehen. Er drehte sich zu den drei um, die hinter ihm her trotteten.
„Vielleicht ist es das Beste, wenn ihr das Lager sucht“, schlug er Jane und Caspar vor.
Die beiden tauschten erstaunte Blicke: „Wir?“
Sogar Daria wirkte irritiert.
Liam lächelte ermutigend: „Es ist nicht schwer. Aber ihr müsst es ja lernen, oder nicht?“
Er schob Caspar und Jane sanft nach vorne.
Nebeneinander gingen sie über die Straße. Caspar sah seine eigene Unsicherheit in Janes Gesicht gespiegelt. Hinter sich hörte er, wie Daria Liam flüsternd fragte: „Was hast du vor?“
„Sie sind Papilionis“, gab Liam zurück: „Sie müssen es können.“
Caspar glaubte, Liams wahre Beweggründe zu verstehen. Und das, was er vermutete, machte ihm Angst. Er ging weiter, fühlte sich seltsam losgelöst, als würde er schweben – oder fallen.
Sie fanden das Lager schnell. Ein paar Straßen weiter spürte er plötzlich etwas, ein Ziehen im Magen, als würde er in den Strom der Zeit springen.
Er ging dem Gefühl nach, und bald öffnete sich die Straße vor ihnen zu einem Platz. Es waren jetzt mehr Menschen auf den Straßen unterwegs, dennoch bemerkte Caspar den Blatta, der fort humpelte, als die vier Papilionis auf den großen Platz traten.
Hinter dem Platz stand eine Kirche, die von Außen verfallen und dunkel aussah.
„Sie sind darin“, sagte Caspar.
Liam und Daria nickten zufrieden.
Doch sie griffen das Nest noch nicht an. Das erforderte genaueste Planung, wie Liam ihnen erzählte. Die Blatta hatten sie bereits bemerkt, doch sie zogen sich zurück. Gleiches taten die Papilionis, die sich einige Jahre in die Zukunft bewegten und dann die zu dieser Zeit verlassene Kirche untersuchten. Es war ein ruhiger Tag, die Straßen waren leer. Ab und zu vor eine Pferdekutsche vorbei, oder Frauen in langen Kleidern spazierten durch den Park.
Mitten unter den Menschen der fremden Zeit fielen die Papilionis natürlich auf, doch sie kümmerten sich nicht um die Blicke. Stattdessen erforschten sie den Grundriss der Kirche, geheime Winkel und besonders die Kellergewölbe. Liam ließ Caspar die Hälfte der Planung übernehmen und erklärte ihm nur, welche Art der Fallen sie nutzen konnten. Nachdem Caspar unbeholfen einen Schlachtplan für seine Hälfte des Gebäudes entworfen hatte, setzte sich Liam mit ihm zusammen.
Sie besprachen alles mögliche. Die Fluchtwege, die die Blatta nehmen würden. Die Fallen, die schnell und solche, die langsam arbeiteten, Fallen, die offensichtlich und versteckt waren, und natürlich, wie die Papilionis am Besten vermieden, selbst in den Fallen zu landen.
Am Abend schwirrte Caspar der Kopf und er war erleichtert, als sie endlich eine Pause machten. Daria war mit Jane losgezogen, um ihre Zutaten zu besorgen und hatte ebenfalls ein paar Waffen aus der Zukunft entwendet und zu den Widerstandskämpfern von 1804 gebracht. Bevor die vier endlich schlafen konnten, mussten sie Stolperfallen basteln. Jane lernte, Fangnetze zu knüpfen und Caspar, wie man eine Selbstschussanlage aufstellte und bediente. Sie waren todmüde, als sie sich endlich in einem kleinen Anbau der Kirche zum Schlafen legen konnten.
Bevor er die Augen schließen konnte, lag Caspar lange wach. Es war viel passiert. Er hatte seinen ersten Blatta getötet und sein Herz raste immer noch, wenn er daran zurückdachte.
Aber am meisten beunruhigte ihn Liams Verhalten. Er glaubte zu verstehen, was sein Vater sich dachte.
Seit Dakuri und Lydia tot waren, hatte Liam akzeptiert, dass Caspar und Jane keine Kinder mehr waren. Nicht nur, weil die Zeitreisen sie altern ließen, sondern auch, weil Liam etwas anderes verstanden hatte.
Die Zeiten hatten gewechselt. Die ehemaligen Schüler waren jetzt die Lehrer einer neuen Generation. Und wieder war viel Wissen verloren gegangen, das Dakuri und Lydia mit ins Grab genommen hatten, oder gemeinsam mit Dakuris Büchertasche verschollen war.
Caspar drehte sich auf der harten Matratze, um seinen Vater zu beobachten.
Er fühlte sich dem Mann näher als je zuvor, als er ihn verstand. Die Zeit der Schmetterlinge schien sich dem Ende zuzuneigen. Es gab zu wenige von ihnen, und sie wussten noch viel weniger.
Dies war ihr Herbst, und wenn Caspar und Jane nicht bald lernten, ihren Teil beizutragen, würde schnell ein kurzer Winter folgen.
Und danach: Nichts mehr.