Mitten in der Nacht – oder mitten im Schlaf, denn den Himmel hatte Caspar, seit er das Haus betreten hatte, nicht mehr gesehen – riss ihn das Schrillen eines Alarmes aus seinen Träumen. Benommen setzte er sich auf, fiel fast aus dem Bett, weil es schmaler war als seines zu Hause und brauchte schier ewig, um sich zu erinnern, wo er war. Da hatte Liam bereits sein Zimmer betreten und das Licht angezündet, dessen Schalter Caspar niemals ohne Hilfe gefunden hätte.
Mit der gesunden Hand rieb Caspar sich die Augen: „Was ist los?“
„Es gibt ein Problem“, wich sein Vater der echten Antwort aus: „Du brauchst nicht mitkommen.“
Caspar spürte einen Stich im Herzen, als sein Vater ihn so grob von allem ausschließen wollte, und das stachelte seine Wut an. Caspar stand auf: „Ich komme mit!“
Liam warf seinem Sohn nur einen müden Blick zu: „Kleidung ist im Schrank. Zieh dich an, und dann komm!“
Im Schrank fanden sich eintönig graue Kleidungsstücke. Sie glichen denen, die die vier Erwachsenen am Morgen im Stonehenge getragen hatte, nur waren sie auf Caspars Größe zurecht geschnitten. Seine alte Kleidung war noch dreckig, und außerdem war sich Caspar sicher, dass sein Vater Pulli und Jeans nicht befürworten würde. Caspar zog eine Hose und ein Hemd über, darüber eine Jacke, und fand, dass sie ihm gut passten. Ein wenig zu gut, dachte er, dafür, dass er erst gestern hier angekommen war – war es gestern gewesen?
Seine neue Kleidung zurecht zupfend humpelte Caspar aus dem Raum. Neben seiner Tür fand er noch graue Schuhe, irgendwo zwischen Turnschuhen und Wanderstiefeln, doch fremdartig geschnitten. Er zog die Socken an, die in den Schuhen lagen und streifte dann mit einiger Mühe die Schuhe über seine ungleichen Füße. Die Schuhe hatten sogar den leicht erhöhten Absatz, den jedes Paar seiner Schuhe haben musste, um die Fehlbildung seines linken Beines auszugleichen. Ihm fehlte jedoch die freundliche Hilfe seiner Ziehmutter, weshalb er sich mit der rechten Hand abmühte, irgendwie die Schleifen zu schließen.
Als er schließlich den Blick hob, sah er Jane, die ihn bei seinen Mühen schweigend beobachtete. Sie stand in ihrer eigenen Tür. Als Caspar aufstehen wollte, reichte sie ihm eine schwielige und raue Hand, die er ergriff. Das ersparte ihm die Demütigung, selbstständig aufzustehen.
Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ
Die ganze Zeit schrillte der Alarm, bis Caspars Trommelfelle schmerzten. Dakuri, Lydia, Liam und Daria erwarten die Kinder bereits in dem achteckigen Raum. Auch sie trugen graue Kleidung. Daria grinste ihnen freundlich zu, Lydia zeigte nur eine schwache Andeutung eines Lächelns. Dakuri und Liam schwiegen beide mit strengen Gesichtern.
Caspar fühlte sich unter den vielen Blicken unwohl. Fast sofort fühlte er sich an andere Situationen erinnert, den ersten Tag in einer fremden Klasse, oder als letzter Gast auf einer Party. Und alle starrten ihn an, ihn und seine verkrüppelten Glieder. Er senkte den Blick.
„Was ist los?“, fragte Jane dafür.
Dakuri trat vor: „Es gibt Schwierigkeiten mit Tinea. Tinea sind Zeitreisende wie wir, nur haben sie keine Macht über ihre Fähigkeiten. Sie sind verwirrt, verängstigt und werden deshalb oft gewalttätig. Wir müssen sie finden, und verhindern, dass sie den Strom der Zeit verletzten.“
„Ihr beide kommt mit, aber ihr haltet euch im Hintergrund!“, befahl Liam barsch.
Daria warf Caspars Vater einen strafenden Blick zu: „Es wird nur ein Routineauftrag, Liam!“
„Sie hat Recht, Sylvester!“, mischte sich auch Dakuri ein: „Die Kinder sind jetzt Papilionis. Sie müssen lernen, ihre Arbeit zu tun!“
„Nicht beim ersten Auftrag!“, fauchte Liam und schlug mit der Hand auf den Tisch in der Mitte des achteckigen Raumes.
Die anderen schwiegen, als wäre das letzte Wort damit gesprochen. Caspar ballte stumm die rechte Hand zur Faust. Warum traute sein Vater ihm nichts zu? Nur, weil seine linke Seite verkrüppelt war? War er deshalb vielleicht nur ein halber Mensch?
„Im Hintergrund halten, verstanden“, sagte Jane: „Sonst?“
„Redet mit so wenigen Menschen, wie möglich“, sagte Daria sanft: „Und bemüht euch auch, keine Gegenstände zu bewegen. Wir sollten wie Schatten sein, und wir sollten uns Mühe geben, keine Änderungen zu bewirken. Sonst kann das unabsehbare Folgen haben.“
Caspar und Jane nickten gemeinsam. Dann stellten sich die Papilionis auf, Caspar und Jane in die Mitte, darum nach Alter die Erwachsenen, die Frauen auf die eine, die Männer auf die andere Seite. Als wäre es ein geheimes Ritual.
„Schließt die Augen“, sagte Liam. Als Caspar das tat, schien die Welt zu verschwimmen. Er verlor den Boden unter den Füßen, und für einen Moment die Orientierung. Er fiel, dann stolperte er über unebenen Boden. Bevor er fiel, hielt ihn die Hand seines Vater aufrecht.
Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ
Sie standen knietief im Schnee. Die Luft war kalt und klar, und so dünn, dass Caspar in den ersten Momenten das Gefühl hatte, nicht atmen zu können. Dakuri, der einen großen Rucksack über den dürren Schultern getragen hatte, setzte diesen ab und holte sechs Masken aus einem der oberen Fächer. Die mit schlanken Linien verzierten, grauen Masken waren Tiergesichtern nachempfunden, und zwar auf eine Weise, die Caspar von afrikanischen Masken zu kennen glaubte. Caspar erhielt eine Maske, die an einen Affen erinnerte. Fragend sah er darauf, merkte, dass die Erwachsenen alle die ihren überzogen, und setzte seine eigene Maske auf.
Ein kleines Mundstück schob sich zwischen seine Lippen. Als Caspar einatmete, strömte neuer Sauerstoff in seine Lungen – und das Mundstück rasselte und surrte leise. Nervös blinzelte er durch die Augenhöhlen, die mit Glas verstärkt waren.
Die fünf anderen Tiergesichter sahen ihn an. Eine Gazelle für Jane, irgendein Vogel für Lydia, ein Löwe für Daria, ein Krokodil für Liam und eine Hyäne für Dakuri.
Caspar betastete die Maske ehrfürchtig.
„Es gab mal eine alternative Zeitleiste, in der Afrika zur Weltmacht aufgestanden ist. Wir haben so einige Spielereien von damals mitgenommen“, erklärte ihm Daria fröhlich.
„Wir haben später Zeit dafür“, unterbrach Liam unter der Krokodilsmaske: „Wo sind wir hier?“
„Wisst ihr das nicht?“, nuschelte Jane durch ihre Maske.
„Nein, wir wissen nie, wo wir landen“, erklärte Dakuri und schulterte seinen Rucksack.
Zu ihrem Glück war das Wetter ruhig. Es ging kein Wind. Auf dem Berg war es so friedlich, dass Caspar fast vergessen hätte, wie unsanft er geweckt worden war.
Doch so stapfte er missmutig durch den hohen Schnee, umständlicher als die anderen, und erinnerte sich an die besorgten Mienen der Erwachsenen.
„Wo finden wir diese … Tinea?“, fragte er an Daria unter ihrer Löwinnenmaske.
„Überhaupt nicht“, antwortete diese: „Sie finden uns!“
„Wisst ihr überhaupt irgendwas?“, beschwerte sich Jane, die noch hinter Caspar ging. Er fand ihren vorwurfsvollen Ton übertrieben, aber er musste zugeben, dass das Mädchen Recht hatte.
„Ihr wisst, was ihr tut, oder?“, fragte Caspar deshalb: „Wir sind nicht unvorbereitet los gesprungen, oder?“
„Die Tinea werden uns finden“, wiederholte Daria: „Das tun sie immer, sie werden von der Kraft angezogen, die wir zum Zeitreisen benutzen, wie Motten vom Licht. Ihr müsst euch daran gewöhnen, dass unsere Arbeit sehr unsicher ist. Und nun haltet euch bitte an das, was Liam gesagt hat, und haltet euch ein wenig im Hintergrund.“
Beleidigt ließ Caspar sich auf Höhe von Jane zurück fallen. Sie warf ihm einen Blick zu, den er aufgrund der Maske nicht deuten konnte.
Schon nach kürzester Zeit fror Caspar und zitterte erbärmlich. Die graue Kleidung schien zwar den schneidenden Wind und einen Teil der Kälte von ihm fern zu halten, doch eisig war es trotzdem. Auch die Erwachsenen rieben sich öfter die Hände oder verschränkten die Arme, nur Jane stapfte durch den Schnee, als spüre sie keine Kälte.
Nun, Caspar vermutete, dass sie aus der Eiszeit stammte.
Sie wanderten langsam auf eine Hügelkuppe zu. Hier war die Bergflanke flach und beinahe eben, sie konnten sich leicht fortbewegen. Dakuri hatte sich an die Spitze gesetzt und ließ sie erst anhalten, als sie auf dem Hügel standen. Zur einen Seite erhob sich der schneebedeckte Berggipfel, doch in jede andere Richtung konnten sie die Umgebung gut einsehen. Natürlich gab es Verstecke, Schneehügel, Felsspalten und vieles mehr. Dennoch gab es so gut wie keine Gelegenheit, dass sich die Tinea an sie heranschleichen konnten.
Zitternd schlang Caspar die Arme um sich. Sein Atem stieg als weiße Dampfwolke aus der Maske auf.
Sie warteten. Fast eine halbe Stunde verging, die längste und kälteste halbe Stunde in Caspars Leben. Während dieser Zeit schärfte ihm Liam immer wieder ein, sich ja nicht einzumischen, nicht zu schreien, nicht auf sich aufmerksam zu machen und bei dem geringsten Anzeichen von Gefahr die Flucht anzutreten.
Zuerst warf Daria Caspars Vater noch Blicke zu und versuchte, den Jungen zu ermutigen, schließlich schwieg auch sie und fror vor sich hin.
Nach der halben Stunde erschienen schließlich die Tinea.
Es waren drei, verängstigte und abgerissene Gestalten. Caspar erkannte die Kleidung auch aus der Ferne: „Piraten!“
Lydia zückte ein Fernrohr und betrachtete die Gestalten näher, die sich über die Schneeebene kämpften: „Ja, Piraten. Karibik. Vermutlich 16. Jahrhundert.“
„Die werden sich hier ja wohl fühlen“, sagte Liam und gab sich keine Mühe, seinen Hohn zu verbergen: „Ihr bleibt hier.“
Caspar und Jane duckten sich gehorsam in den Schnee. Als er die Hände in das nasse Weiß tauchte, spürte Caspar beinahe augenblicklich seine Finger nicht mehr.
Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ
Die Tinea wirkten verwirrt. Sie waren zerlumpt, dünn, mit hageren Gesichtern und wilden Bärten. Schnee hatte sich in ihren Haaren gefangen, offenbar waren sie schon länger hier.
Caspar hörte seinen Vater leise murmeln: „Haben wohl ihre Mannschaft verloren. Sieht nach Koch und zwei normalen Matrosen aus. Wir sollten nachsehen, ob nicht auch das Schiff hier ist.“
Dann waren die Erwachsenen außer Sicht. Lydia zückte einen Degen, der unauffällig an ihrer Seite gehangen hatte und zog ebenfalls eine Pistole aus einer Tasche ihrer Hose. Beides war reich verziert, und Caspar fragte sich, warum er es zuvor nicht bemerkt hatte.
Lydia hielt sich hinter den anderen und verbarg die Waffen, während sich die Papilioni den Tinea stellten.
Bevor Jemand etwas sagen konnte, stieß einer der Piraten ein heiseres, wildes Brüllen aus und stürzte nach vorne. Lydia sprang zwischen die anderen und bewegte sich blitzschnell, der Degen war nur ein kurzes Aufblitzen, dann taumelte der Pirat mit einer blutigen Wunde auf der Brust zurück. Doch er starb nicht.
Synchron zogen alle drei Tinea ihre Waffen. Caspar hielt den Atem an und versteckte das Gesicht im Schnee, als Schüsse krachten und Schreie ertönten.
Jane dagegen stieß ihn an: „Auf der Jagd immer wachsam sein!“
Widerwillig hob Caspar den Kopf, denn Jane hatte recht – er musste damit rechnen, dass die Tinea auch sie angreifen würden.
Zu seinem Erstaunen lebten die Erwachsenen noch und kämpften, ebenso kämpften allerdings auch die Piraten, ungeachtet ihrer Wunden. Inzwischen hatten alle Erwachsenen Waffen gezückt – Dakuri einen langen Holzstab, Daria einen grauen Regenschirm, den sie ähnlich wie ein Schwert führte und Liam eine Schrotflinte.
Schüsse krachen über die Bergseite, wilde Schreie drangen zu ihnen herüber. Die Papilionis wichen den Waffen ihrer Gegner mit fast übermenschlicher Schnelligkeit aus. Caspar hätte weder Dakuri noch irgendeinem anderen der Drei eine solche Geschwindigkeit zugetraut. Das Problem, so erkannte er schnell, war eine ganz einfache Tatsache. Die Tinea waren durch die Waffen nicht zu verletzen, oder falls sie verletzt waren, dann ließen sie sich nicht aufhalten. Den Papilionis würde ein einziger Treffer sicher gefährlich werden.
„Keine Normalen!“, zischte Jane neben ihm wütend, als sie offenbar die gleiche Tatsache erkannte.
„Nein, die sind nicht normal!“, antwortete Caspar und krallte die klammen Hände in den Schnee. Die Kälte biss in seine Haut. Schnee stob auf, als Lydia, Daria, Liam und Dakuri hindurch rollten. Die Piraten dagegen lachten aus vollem Hals.
Liam schoss einem der Piraten aus nächster Nähe in die Brust. Der Matrose stolperte nach hinten, wo Daria ihn mit dem Regenschirm in einen Würgegriff nahm. Der Pirat zappelte, aber die Frau schien überraschend stark zu sein. Liam lud seine Schrotflinte seelenruhig nach, während er auf die beiden Kämpfenden zu trat und schoss wieder. Und wieder.
„Dakuri!“, brüllte er so laut, dass sogar Caspar und Jane es hörten. Aber das konnte auch daran liegen, dass sich der Kampf mehr und mehr in ihre Richtung verlagerte.
Dakuri wandte sich von seinem Gegner ab. Jetzt blieb es an Lydia, den Koch und den zweiten Piraten gleichzeitig in Schach zu halten. In den wenigen Sekunden, in denen Dakuri zu Daria ging, und Liam seine Waffe neu lud und zu Lydia stürzte, war sie trotz ihrer Geschwindigkeit in die Hände des Kochs geraten, während der zweite Matrose versuchte, sie zu erstechen. Liam schoss den Matrosen direkt in den Kopf, was diesen nur zwei Schritte fort stolpern ließ, doch das reichte, dass Lydia die Arme des Kochs durchschnitt und sich befreite.
Dakuri schwang währenddessen den Stab und stieß ihn dann direkt in ein Aug des ersten Matrosen. Als das Blut aufspritzte, ließ Daria den Tinea los und der leblose Körper fiel auf dem Boden. Trotzdem hob die schwarzhaarige Frau einen Stiefel und trat zu, dass das Gesicht eine blutige Masse im Schnee wurde.
Caspar wandte den Blick ab, aber die Bilder hatten sich bereits in seine Netzhaut gebrannt. Weitere Kampfgeräusche drangen zu ihm herüber, immer lauter und näher. Ihm war schlecht und er kämpfte seinen ganz eigenen Kampf gegen die Übelkeit.
Als er endlich wieder aufsah, waren auch der Koch und der zweite Matrose nur noch rote Flecken im hellen Schnee. Die vier Papilionis wischten sich keuchend Blutspritzer aus den Gesichtern.
Dann ertönte neues Geschrei. Caspar sah auf, und da stürmte eine ganze Mannschaft den Berg herab, mit Säbeln rasselnd, vor Wut brüllend.
„Scheiße!“, hörte Caspar seinen Vater rufen. Die vier waren ihnen jetzt sehr nah.
Jane packte seinen Arm: „Hoch mit dir, los!“
Caspar ließ sich auf die Beine zerren und trat mit Jane eine stolpernde Flucht an. Er sah Liam der über die Schulter nach ihnen Ausschau gehalten hatte. Er machte eine scheuchende Handbewegung.
„Es sind zu viele!“, wehrte sich Caspar gegen Jane: „Wir müssen etwas tun!“
„Der Häuptling hat gesprochen!“, knurrte das Mädchen in sein Ohr: „Komm, los!“
Sie rannten seitlich den Berghang hinauf, während die Erwachsenen nach unten flüchteten. Zum Glück der beiden Kinder wurden sie nicht beachtet. Caspar stolperte vorwärts, konzentriert darauf bedacht, nicht zu stolpern.
„Wir müssen etwas tun!“, rief er wieder.
Jane hielt an. Jetzt bemerkte er, dass auch sie außer Atem war: „Zu große Herde!“, keuchte sie: „Keine Chance!“
Caspar fasste ihre Hand fester: „Ich komme aus dem Jahr 2011, und da helfen wir unseren Freunden!“
„Wie?“, fuhr Jane ihn an.
Caspars Blick wanderte den Berg hinauf. Im Schnee sah er einen Mast aufragen – ein Piratenschiff, das einfach so in den Bergen hing.
„Ich hab eine Idee!“, sagte er, von sich selbst überrascht.
Diesmal zog er Jane, obwohl in das Mädchen dennoch stützen musste, wenn er auf dem glatten Schnee ausrutschte. Es dauerte schier ewig, bis sie oben ankamen. Die ganze Zeit ertönten Schüsse. Ab und an sah Caspar nach unten und erwartete halb, die vier Erwachsenen in blutigen Lachen im Schnee zu sehen.
Die Papilionis schienen Glück zu haben. Doch sie befanden sich auf dem Rückzug, und sie konnten offensichtlich keinen der Tinea töten. Mehr als einmal sah Caspar eine Befreiung in letzter Sekunde. Das trieb ihn nur schneller den Berg hinauf, bis sie nach einer halben Ewigkeit das Schiff erreichten.
Es war ein beeindruckendes Holzschiff, doch der Bug war zersplittert wie nach einem Absturz. Es schwankte auf einer Klippe. Nur ein paar Balken hielten es davon ab, ins Tal zu rollen. Mehrere Seile hingen zu allen Seiten von dem Schiff.
„Wir müssen es zum Absturz bringen!“, erklärte Caspar atemlos.
Jane starrte ihn an, als sei er wahnsinnig: „Unmöglich! Wir sind zu klein!“
„Nein, nicht unmöglich!“, widersprach Caspar: „Kommst du da hoch?“
Er hielt Jane ein Seil hin, dass sie nickend ergriff. Wie ein kleines Äffchen kletterte sie auf das Schiff.
„Sei vorsichtig!“, zischte Caspar. Sie konnten nicht wissen, ob das Schiff wirklich leer war. Jane sah sich aufmerksam um, dann flüsterte sie: „Alles okay!“
„Okay!“, antwortete Caspar: „Du musst versuchen, Gewichte zu finden. Fässer, irgendwas. Roll alles nach vorne. Wenn du merkst, dass das Schiff kippt, dann komm sofort runter, ja?“
Jane nickte, dann verschwand ihre Gazellenmaske außer Sicht.
Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ
Caspar wartete schweigend und frierend. Sein Atem stieg auch durch die Maske als Wölkchen auf.
Es waren vielleicht ein paar Minuten vergangen, als er ein Kratzen hörte. Zuerst glaubte er, das Schiff würde knarzen. Dann merkte er, dass das Geräusch ganz in der Nähe erklang.
Er sprang auf und spürte einen scharfen Stich in seinen verkrüppelten Bein. Doch der Schmerz war vergessen, als er einen Piraten vor sich stehen sah. Einen Matrosen, den Säbel erhoben, der ihn böse anzischte.
Mit einem Schrei warf sich Caspar nach hinten und entging dem Angriff. Mit einem brüllen setzte ihm der Pirat nach und Caspar rollte durch den Schnee. Das Metall schnitt pfeifend durch die Luft. Caspar hatte keine Chance, sich aufzurappeln. Er rollte und rollte, bis er in den Schatten des schwankenden Schiffes eintauchte.
Als er die Wand berührte, sah er entsetzt zu dem Tinea auf, der ihm immer noch folgte. Wieder fuhr der Säbel nach unten.
„Caspar!“, rief Jane. Ein Seil fiel vor Caspars Nase auf den Boden. Ohne zu zögern umklammerte er den rauen Stoff. Ein scharfer Schmerz durchfuhr seine Schultern, als ein Ruck durch das Seil ging.
Dann hing Caspar plötzlich auf halber Höhe am Schiff.
„Jane?“, fragte er. Mit langsamen, mühevollen Zügen wurde an dem Seil gezogen. Stück für Stück wurde Caspar hoch gezogen. Er starrte in die Tiefe, wo der Pirat versuchte, ihn springend zu erreichen, wie ein tollwütiger Hund.
Dann erreichten seine Hände die Reling, und Caspar konnte sich an Bord ziehen. Jane lag auf der anderen Seite des Schiffes, das leicht geneigt war. Als sie Caspar sah, ließ sie das Seil los, rannte zu ihm hoch und half ihm an Deck.
Sie sahen nach unten, wo der Pirat mit dem Säbel auf das Schiff einschlug.
„Es gibt keine Gewichte mehr“, sagte Jane ihm.
Caspar sah auf den Piraten: „Dann habe ich eine sehr viel riskantere Idee.“
Sie rannten nach vorne zum Bug. Der Pirat folgte ihnen. Caspar stützte sich auf Janes Schulter. Seine ganze linke Seite tat weh, vom Schnee, vom Rollen, vom Rennen. Der Pirat schlug wie von Sinnen auf das Schiff ein. Es war klar, dass er keinen Hauch Intelligenz außer reiner Gewalt mehr besaß.
Deshalb schlug er auch die Stützbalken weg.
Caspar und Jane schrien auf, als ein Ruck durch das Schiff ging und sich der zerstörte Bug zum Tal neigte. Jane fasste die Reling, soweit diese noch stand, und Caspar fasste Janes Arm.
„Was jetzt?“, rief Jane ihm zu.
„So weit war ich noch nicht!“, gab Caspar zurück.
Dann krachte das Schiff erst nach vorne und zerschmetterte den Tinea, bevor es zu rutschen begann. Die beiden Kinder, die sich an den letzten Rest des honigfarbenden Holzes der Reling klammerten, kreischten, als ihnen der Fahrtwind ins Gesicht schlug.
Das Piratenschiff knarrte bedrohlich, als das Holz ächzend über den Schnee glitt. Dazu gesellte sich ein Rumpeln, das Caspar durch Mark und Bein ging.
Als er sich umdrehte, bemerkte er eine weiße Wolke, wie eine riesige Welle, die dem Schiff folgte.
„Lawine!“, brüllte er entsetzt, worauf sich auch Jane umdrehte.
„Oh, bei allen Göttern!“, fluchte das Mädchen.
Der Schnee, der über die Bergflanke rollte, riss das Schiff nur noch schneller mit sich. Caspar sah, wie die vier Papilionis aus der Bahn der Lawine zu flüchten versuchten – wenigstens lebten sie noch – und wie die Tinea ihnen sehr viel langsamer folgten.
Sie würden auf jeden Fall die Tinea vernichten, doch wenn sie Pech hatten, dann auch sich selbst und die Erwachsenen.
Caspar duckte sich hinter Jane. Eigentlich müssten sie abspringen. Aber das wäre Selbstmord, der Schnee lag viel zu tief unter ihnen und der Lawine könnten sie nicht entgehen.
Das Schiff traf auf einen verborgenen Schneehügel und machte einen Satz in die Luft. Caspars Füße hoben vom Boden ab, er verlor den Halt an Janes Arm. Im nächsten Moment rollte er schon über die vereisten Planken des Schiffes und versuchte verzweifelt, sich irgendwo festzuhalten.
Zu seinem Glück rollte er nicht vorne zum zersplitterten Bug, eine Reise, die ihn in den Abgrund vor dem rollenden Schiff gestürzt hätte. Er knallte in die Reling und war geistesgegenwärtig genug, um einen der Holzstreben zu packen.
Als er den Kopf zum Himmel hob, bot sich ihm ein äußerst seltsamer Anblick. Daria, Lydia, Dakuri und Liam schwebten über dem Schiff, offenbar alle an Darias grauem Regenschirm, der seltsamerweise sehr viel größer aussah – schon fast wie ein Sonnenschirm. Noch während Caspar darauf starrte, sprangen Liam und Dakuri auf das Deck.
Sein Vater kam sofort zu ihm und hob ihn ohne großes Federlesen auf seine Arme. Der Mann schwankte auf dem bebenden Deck, als er zurück zu den Frauen wankte. Dakuri zog in der Zwischenzeit Jane vom Mast weg, wo sich das Mädchen versteckt hatte. Offenbar war auch sie von dem Stoß, der durch das Schiff gegangen war, von der Reling gerissen worden.
Bevor die drei Gruppen wieder zusammen finden konnte, ging ein weiterer Ruck durch das Schiff. Diesmal splitterte Holz, und zwar laut. Liam wirbelte herum und Caspar sah, wie sich der Bug in einer Wolke aus Holzsplitter und Schnee auflöste. Die Wolke raste auf ihn zu, als Liam sich umdrehte und seinen Sohn vor den spitzen Geschossen abschirmte.
Ein scharfer, stechender Schmerz ging durch Caspars Bauch. Zuerst glaubte er, er wäre getroffen.
Dann wurde ihm klar, dass Liam in den Strom der Zeit sprang.
Auf Jane, Dakuri, Lydia oder Daria konnte er keinen Blick mehr erhaschen.