Ein lautes Rumpeln riss Caspar aus dem Schlaf. Mit weit aufgerissenen Augen sah er sich um und suchte nach der Quelle des Lärms. In dem Zwielicht konnte er nicht viel erkennen. Monster. Geisterhafte Gestalten. Grausame Dämonen, die kamen, ihn zu holen.
Erst langsam wurde ihm klar, dass er in dem verfallenen Hotel lag. Die Möbel waren mit Tüchern abgedeckt, Kronleuchter hingen von der Decke und alte Kleiderständer verbargen sich unter Spinnweben.
Das waren keine Monster. Aber trotzdem hielt Caspar den Atem an. Was hatte den Lärm hervorgerufen?
„Ent- Entschuldigung“, ertönte eine leise Stimme. Caspar stieß die Luft zischend aus: „Jane!“
Jetzt konnte er das Mädchen auch sehen, oder eher ihren unförmigen Schatten auf dem Gang, den er durch die klaffende Öffnung, wo die Zimmertür fehlte, einsehen konnte.
Das Mädchen sah sich unwohl um: „Ich … ich muss mal.“
Caspar quälte sich leise stöhnend aus dem Bett: „Warte – du musst den Gang runter, und dann links!“, erklärte er ihr und formten den Weg mit den Händen. Jane sah ihn an, nickte und war dann verschwunden.
Caspar blieb alleine in seinem nach Staub riechenden Zimmer zurück, die nackten Füße bereits auf den kalten Holzboden gesetzt und unschlüssig, was er nun tun sollte.
Eine absurde Angst ergriff von ihm Besitz, dass etwas unter dem Bett lauern und im nächsten Moment seine Zehen verschlingen würde. Obwohl er sich einredete, keine Angst zu haben, zog er die Füße auf die Matratze. So viel Verrücktes war in letzter Zeit geschehen, da würde er lieber kein Risiko eingehen.
Jetzt, wo er einmal wach war, wollte er nicht wieder einschlafen. Er hatte das Gefühl, sein ganzes Leben sei aus den Fugen geraten. Innerhalb eines Zeitraumes, der nur wenige Tage umfassen konnte. Gleichzeitig waren Jahrhunderte vergangen und er nicht einmal geboren. Das Ganze war sehr verwirrend.
Als Jane auf dem Rückweg von der Toilette an seinem Raum vorbei kam, blieb sie stehen und spähte in das Zimmer: „Schläfst du nicht?“
„Ich kann nicht“, erwiderte Caspar ehrlich.
Jane kam leise in den Raum getapst: „Hast du Angst?“
„Ich? Niemals!“, behauptete Caspar.
„Ich auch nicht“, sagte Jane sofort.
„Dann ist ja gut“, sagte Caspar.
Jane nickte: „Ja. Gut.“
Es schloss sich ein kurzes Schweigen an. Dann meinte Caspar: „Äh – willst du vielleicht was spielen?“
„Spielen?“, fragte Jane: „Was?“
Caspar hätte jetzt gerne ein Kartenset hervorgezaubert, oder ein Handy, oder am liebsten noch zwei Laptops für eine kleine Lan-Party. Es war nur sehr fraglich, dass es zur Zeit überhaupt W-Lan gab.
Caspar schaltete das Licht an: „Kennst du Ich-sehe-was-was-du-nicht-siehst?“
Jane schüttelte den Kopf, den gleichen dümmlichen Gesichtsausdruck wie sonst darauf, den Kiefer leicht vorgeschoben und die Lippe herabhängend, während sie die Stirn runzelte.
„Also, das geht so ...“, fing Caspar an, zu erklären.
Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ
„Ich sehe was, was du nicht siehst – und das ist … braun!“, rief Jane gerade überglücklich, als Dakuri auf dem Flur erschien und stirnrunzelnd in das Zimmer sah. Caspar blickte entmutigt über die ganzen braunen, angelaufenen Sofas, über das Hold des Bodens, der Wände und der Decke und der Möbel, über die braunen Schlafdecken und Kissen. Selbst Janes Fingernägel mochten gemeint sein.
„Der Fensterrahmen“, sagte Dakuri und humpelte in den Raum.
Jane blieb der Mund offen stehen: „Woher …?“
Der alte Mann lächelte und offenbarte die Lücken zwischen seinen Zähnen: „Ich verstehe mich auf den ein oder anderen Trick.“
Da ihn sowohl Jane als auch Caspar verständnislos ansahen, setzte der Alte hinzu: „Dein Blick hat dich verraten, Jane. Du hast zum Fenster gesehen. Du bist generell ein Mensch, der den Himmel liebt.“
Caspar hätte sich dafür ohrfeigen können, dass er nicht selbst darauf gekommen war. Jedenfalls auf den ersten Teil des Tricks: „Ein Mensch, der den Himmel liebt?“, wiederholte er verwirrt.
Dakuri deutete auf Jane: „Sie sieht gerne den Vögeln nach. Nicht wahr, Jane?“
Das Mädchen nickte schweigend.
„Pass nur auf, dass du nicht zu lange in die Sonne siehst und erblindest“, waren Dakuris Worte, bevor der ältere Papilionis sich abwandte und aus dem Zimmer schlurfte. Im Türrahmen blieb er stehen: „Jetzt erinnere ich mich, wovon ihr Frühaufsteher mich abgelenkt hattet! Lydia macht uns Frühstück. In einer halben Stunde könnt ihr kommen!“
Caspar stieß Jane bereits den Ellbogen in die Seite: „Sag noch eine Sache, los!“
Er war begierig, sein neu erworbenes Wissen einzusetzen.
Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ
Der Geruch nach warmem Essen lockte sie schon viel früher aus ihrem Zimmer. Sie mussten eine morsche Treppe hinab klettern, wobei Jane Caspar hilfreich einen kräftigen Arm als Stütze anbot. In der großen Küche des Hotels wirkte der Platz, den Lydia einnahm, beinahe bescheiden. Dennoch nutze sie fast alle Töpfe, die noch zur Verfügung standen, während diverse Feuer brannten. Liam stand mit sauertöpfischer Miene und einem Messer neben ihr und schnitt Gemüse klein. Den freundschaftlichen Debatten um die Qualität der Möhren nach zu urteilen, hatte Daria die Sachen irgendwo gefunden. In einem Garten. Der zu einem bewohnten Haus gehörte.
Caspar, der nach Brötchen und Marmelade Ausschau hielt, fragte: „Was wird das?“
„Hmm, habe ich mir noch nicht überlegt!“, erwiderte Lydia fröhlich, die mehrere Stücke Fleisch briet: „Ah, wie wäre es mit Misoshiro, Würstchen und dazu meine große Spezialität: Ganauri?“
„Was ist Ganauri?“, fragte Caspar.
„Was ist dieses Misoshiru-Dings?“, fragte Jane.
„Misoshiru ist eine japanische Gemüsesuppe, ihr ungebildeten Raupen!“, meinte Daria, die im Eingang zur Küche erschien: „Und Ganauri – fragt besser nicht!“
„Ist das auch Japanisch?“, fragte Caspar.
Daria schüttelte den Kopf und warf Lydia einen Blick zu, den Caspar nicht deuteten konnte: „Nein. Ganauri … stammt aus einer alternativen Zeitleiste.“
Und etwas an diesen Worten sagte Caspar, dass er nicht weiter zu fragen habe.
Wenigstens fand er heraus, was Ganauri war. Dünne Streifen von Hähnchenfleisch wurden erst unter kleinen Apfelstückchen begraben und dann mit einer zähen, klebrigen Soße aus gekochten Tomaten übergossen. Als Krönung wurde das Ganze verwässert. Eigentlich gehöre noch Schokolade dazu, verriet Lydia verschmitzt, aber Caspar hätte sowieso nicht probieren wollen. Er schlürfte eine Tasse Gemüsebrühe – Misoshiru fand er zu kompliziert zum Aussprechen – und versuchte, sich nicht von Janes grausamer Rache an einem unschuldigen Würstchen den Appetit verderben zu lassen. Er fühlte sich immer noch völlig fremd an diesem Ort. Erst recht, da er ja unabsichtlich die ganze Welt verändert hatte.
„Papa?“, fragte er leise und Liam drehte ihm das Gesicht zu.
„Wann ändern wir die Zeit zurück?“
Ungemütliches Schweigen antwortete ihm. In Caspars Magen bildete sich ein enger Knoten und er setzte seine heiße Suppe ab. Sein Hals war plötzlich sehr trocken.
„Caspar … die Zeit lässt sich nicht so leicht zurück ändern“, fing Liam an und stockte dann.
„Es geht nicht“, viel Lydia ihm mit harter Stimme ins Wort: „Die Vergangenheit ist für immer verloren. Solche Gesetze gelten für normale Menschen, und sie gelten auch für Papilionis, wenn auch in anderen Maßen.“
Caspar räusperte sich: „Dann … habe ich …“
„Die komplette Welt für immer geändert, ja“, sagte Lydia und ein harter Ausdruck legte sich über ihre roten Augen. Sie musste ein Albino sein, fiel Caspar auf, als er sich irgendwie von dem Schock ablenken wollte, die Welt komplett verändert zu haben. Unumkehrbar. Er spürte einen dicken Kloß im Hals. Und seine Augen brannten. Aber jetzt durfte er nicht weinen!
Er stand auf und räumte seinen Löffel und die erst halb leere Schale Suppe fort. In der Küche spürte er, wie heiße Tränen in seine Augen traten. Was hatte er getan? Waren jetzt all seine Freunde fort? Alle, die er gekannt hatte? Seine Pflegeeltern auch? Was war mit der schönen Cheerleaderin Jana, die er immer bewundert hatte? Mit Paul, der so gut in Mario Kart war?
Gab es Mario Kart überhaupt noch? Und Cheerleader?
Er schluckte die Tränen herunter. Vermutlich hatte sein Vater recht. Er gehörte nicht hierher. In diese Welt, die von der Zeit losgelöst war. Er gehörte in die Schule, oder in sein Zimmer, mit einem Buch vor der Nase! Er wollte von Abenteuern lesen und sie nicht erleben.
Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ
Später saßen die Erwachsenen über diverse Bücher gebeugt und studierten Geschichte. Die Bücher waren größtenteils in Latein, weshalb Caspar gelangweilt auf einem Stuhl hockte und mit den ungleichen Füßen baumelte. Jane, die sowieso nicht lesen konnte, malte mit dem Finger Muster auf das Holz des Tisches.
„Was waren eigentlich dieser Piraten?“, fragte Caspar in die Stille hinein.
Daria hob den Kopf: „Die Tinea, meinst du?“
Sie warf einen Blick auf die anderen und winkte den Kindern dann: „Ich erkläre es euch draußen.“
Caspar hüpfte vom Stuhl, wobei ein stechender Schmerz durch seinen geschwächten Knöchel zuckte. Er humpelte und Jane schlurfte hinter Daria her.
Die dunkelhäutige Frau ließ die Tür sacht ins Schloss fallen, um keinen Lärm zu verursachen. Dann verließen sie den Esssaal und gingen stattdessen in einen unfertigen Aufenthaltsraum. Durch die leeren Fensteröffnungen waren Blätter in den Raum geweht worden. Auf einem verstaubten Sofa nahmen sie Platz. Caspar musste niesen.
„Tinea bedeutet Motten“, fing Daria an: „Es ist Latein. Wir haben ihnen diesen Namen gegeben, weil sie eine dunkle Form der Schmetterlinge sind. Sie sind außerhalb der Zeit – wie wir – aber ihr Geist ist in dunkle Nacht gefallen und sie flattern nur stumpfsinnig zum Licht.“
„Zum Licht?“, echote Caspar.
„Das Licht, das der Strom der Zeit ausstrahlt. Wenn wir durch die Zeit reisen, nehmen die Tinea das wahr. Sie spüren die Energie oder die Schwingungen, jedenfalls tauchen sie immer wenig später auf.“
„Können sie auch durch die Zeit reisen?“, fragte Caspar. Daria schüttelte den Kopf: „Sie sind zu dumm dafür. Egal, wer sie früher mal waren, das vergessen sie durch den Schock der Zeitreise. Nur Papilionis sind dafür geeignet, diese Wechsel zu vollziehen. Wir … denken anders, glaube ich.“
Caspar seufzte: „Und sie sind unsterblich, ja?“
„Sie sind wie Wiedergänger – Zombies, wenn du so willst. Aber es gibt auch noch die Blatta.“
„Blatta?“
„Das bedeutet ebenfalls Motte. Die Blatta sind aber beherrschter. Sie haben ein paar Tricks gelernt – sie können durch die Zeit reisen und sie können Lebenskraft abziehen.“
„Wie das?“, fragte Jane nervös.
„Ich weiß nicht, wie es funktioniert. Ich hatte glücklicherweise noch keine Begegnung mit ihnen. Aber Liam und -“, Daria stockte kurz: „Naja, und deine Mutter, Caspar. Sag ihm nicht, dass ich dir das erzählt habe, und frag ihn bloß nicht danach!“
„Was – aber – was ist passiert?“, platze Caspar heraus.
„Es ist nicht meine Entscheidung, dir das zu sagen. Liam wird er dir erzählen. Aber du musst warten, bis er dafür bereit ist. Jedenfalls, wenn Tinea Zombies sind, sind die Blatta Vampire. Sie sind stark und schnell, intelligent genug für Hinterhalte, und ihre Berührung entzieht jedem Menschen die Lebenskraft.“
Caspar schüttelte sich: „Sind die häufig?“
„Sie sind sehr selten. Sie entstehen, wenn Tinea zufällig lernen, den Strom der Zeit so zu nutzen wie wir. Aber das passiert so gut wie nie.“
„Also das sind unsere Gegner?“, fragte Caspar.
„Genau. Wir müssen dafür sorgen, dass sie kein Chaos anrichten.“
Caspar schluckte, als er daran dachte, dass er selbst das größte Chaos angerichtet hatte. Aber daran konnte er jetzt nichts mehr ändern.
„Was sind eure Waffen?“, fragte Jane und deutete dann auf Darias graue Kleidung: „Wo sind eure Waffen?“
Daria lachte: „Oh, das ist ein kleiner Trick – seht her!“
Sie strich über die graue Kleidung, und plötzlich löste sich ein gebogener Griff daraus. Dann hielt sie den Regenschirm in der Hand, scheinbar aus dem Nichts.
„Wie?“, fragte Caspar nur.
„Das ist Mikrofaser“, erklärte Daria, ohne irgendwas zu erklären: „Der Schirm ist flexibel, solange ich nicht diesen Knopf drücke.“
Auf Knopfdruck sackte der Regenschirm in sich zusammen wie eines diese Holzmännchen, die nur durch ein gespanntes Gummiband gehalten wurden, welches sich mit einem Druck entspannen ließ.
„Und in dieses Form passt er sich perfekt an die Kleidung an. Statische Elektrizität“, fuhr Daria fort und demonstrierte, wie der Schirm sich über ihr Bein und an ihre Seite schmiegte. Jetzt, wo Caspar wusste, wo der Schirm war, konnte er ganz schwach die Umrisse erkennen.
„Wow“, sagte er: „Geht das mit allen Waffen?“
„Man muss sie speziell anfertigen“, verneinte Daria und zog den Schirm wieder heraus: „Lydia kann sowas bauen. Guckt mal: Mir hat sie ein Messer und eine Gewehr in den Schirm gebaut.“
Sie zeigte ihnen den Abzug, der Lauf war der Griff und vorne in der Spitze würde die Kugel austreten. Gleichzeitig gab es eine dickere Stelle am Schirm, wo das Messer verborgen war.
„Und der Schirm kann sogar einer Explosion standhalten“, prahlte Daria und klopfte gegen die grauen Häute zwischen den Metallstreben.
„Wow“, wiederholte Caspar.
Jane kicherte: „Du bist ein Hund!“
„Bin ich nicht!“, protestierte Caspar: „Das heißt `cool´.“
Jane schüttelte nur gut gelaunt den Kopf. Vermutlich sagte Caspars Übersetzung ihr nichts. Aber die Mikrofasern waren sowieso interessanter: „Was haben die anderen für Waffen?“
Daria grinste: „Dakuri hat einen langen Holzstab, aber der hat eine verborgene Metallspitze und kann außerdem Haken ausfahren wie ein Entermesser. Liam hat eine schnöde Schrotflinte, dafür aber noch zwei Colt – Pistolen. Und Lydia hat einen Degen. Der hat es echt in sich, weil er drei Klingen hat, die umeinander kreisen.“
„Woher weiß sie, wie man sowas baut?“, fragte Caspar erstaunt.
Daria verzog das Gesicht: „Das kann ich euch auch nicht sagen. Da müsst ihr Lydia fragen, oder warten, bis sie es erzählt.“
„Das sind ziemlich viele Geheimnisse“, grollte Jane leise.
Daria nickte: „Papilionis führen kein schönes Leben. Da sammeln sich manchmal Geheimnisse an. Oder eben Dinge, über die man besser nicht spricht.“
Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ
Das Abendessen wurde schweigend in dem dunklen Hotel eingenommen. Es gab diesmal Hasen, und Caspar zupfte lustlos an dem bisschen Fleisch vor sich. Er hatte keinen Appetit. Lieber würde er nach Hause. Aber das existierte nun wohl nicht mehr.
Er fragte sich, ob es Jane ähnlich ging. Und wen wohl Daria, Liam, Lydia und Dakuri zurückgelassen hatten.
Es war kalt und düster, da es weder Öllampen noch Strom gab. Und Caspar fragte sich, ob das von nun an sein Leben sein würde.
Das wollte er nicht.