Stöhnend schob Caspar den Stapel Bücher und Hausaufgaben von sich: „Mir ist langweilig!“
Jane, die, die Zunge im Mundwinkel, mühsam geschrieben hatte, sah auf.
„Lydia hat gesagt -“
„Ich weiß, was Lydia gesagt hat“, meinte Caspar und verzog das Gesicht zu einer Grimasse: „Aber ich kann doch nicht die ganze Zeit Vokabeln pauken, wenn wir in einer Burg sind! Einer echten Burg, Jane!“
Sie setzte den Stift ab und blickte kritisch auf ihre unordentliche und ungeschickte Schrift. Es war nun eine Woche vergangen, seit die Papilionis die Burg übernommen hatten. Dakuri saß irgendwo in einer alten Bibliothek und las die Bücher dort, Lydia, Liam und Daria waren eigentlich ständig unterwegs, um bestimmte Orte oder Ereignisse, von denen Dakuri gelesen hatte, zu überprüfen. Manchmal saß Lydia auch bei dem alten Mann und übersetzte die komplizierteren Texte, denn ihre Fremdsprachenfähigkeiten waren viel besser als die aller anderen.
Nur Caspar und Jane hatten nichts zu tun, außer an den Bergen von Hausaufgaben zu arbeiten, die ihnen von den Erwachsenen gegeben wurden. Sie mussten einige Texte für Dakuri durcharbeiten und die wichtigsten Ereignisse herausschreiben, sowie ihre Vermutungen nennen, wie das alles zusammen hing. Sie hatten einen anstrengenden Trainingsplan von Lydia erhalten und mindestens Tausend Vokabellisten von Lydia, dazu Liams Aufzeichnungen über die Papilionis und die Theorie davon, wie man durch den Strom der Zeit reiste.
Es war natürlich irgendwo spannend. Sie mussten eine komplette Zeitleiste neu entdecken und sich auf den Kampf gegen Tinea und Blatta vorbereiten. Doch die Theorie war trocken, und am siebten Tag, den sie in einen kleinen Raum gesperrt verbrachten, hatte Caspar keine Lust mehr.
Er stand auf und humpelte zur Tür, um sie aufzureißen. Sie waren nicht eingeschlossen gewesen, aber trotzdem kam er sich wie ein Gefangener vor, der endlich ausbrach. Schon auf dem Gang schien die Luft frischer und verheißungsvoller zu sein.
„Warte“, rief Jane und folgte ihm.
Caspar war dankbar dafür, dass sie ihn begleitete. Die Burg war groß und unübersichtlich. Obwohl er sich freute, endlich aus dem Lernen auszubrechen, war er doch nicht so dumm, anzunehmen, dass ihm nichts zustoßen konnte.
Zu zweit schlichen sie an den Zimmern der Erwachsenen vorbei, für den Fall, dass jemand dort war, und dann eine enge und steile Wendeltreppe mit winzigen Stufen hinauf, immer eine Hand an der kalten Steinwand, die kein Geländer besaß.
Caspar taten die Füße schnell weh, aber er ging immer weiter. Er wollte keine Schwäche zeigen, und außerdem wollte er von den Zinnen der Burg nach unten sehen, auf die stürmische See und in den aufgewühlten Himmel hinaus.
Sie stiegen immer höher. Der Wind heulte um den Turm herum. Sie kamen an dem Flur vorbei, an dem die Bibliothek lag. Gerade, als sie in den Gang spähten, schlurfte Dakuri aus seiner Kammer. Mit klopfenden Herzen versteckten sich die Kinder im Treppenaufstieg und hofften, dass Dakuri nicht plante, nach unten zu gehen, um ihre Fortschritte zu überprüfen – denn dann würde er sie finden.
Doch Dakuri ging nur zu einem Fenster und sah mit leisem Seufzen hinaus, strich sich ein paarmal über den langen, weißen Bart, und ging wieder in das Zimmer zurück.
Verstohlen huschten Caspar und Jane weiter.
Es war eine Wohltat, endlich den Wind auf dem Gesicht zu spüren, den freien, ungezähmten Wind, der über der Burg tobte und nicht sein Vetter, der in den Gängen der Burg sein Unwesen trieb, hereingelassen von den fensterlosen Schießscharten und den Lücken im Stein.
Hier oben toste der Sturm, Wolken rollten donnernd über den Himmel, drängten sich aneinander und entließen Blitze wie die Viehherde des Teufels. Caspar trat auf den nassen Stein oben auf den Zinnen hinaus und breitete lachend die Arme aus. Jane folgte ihm vorsichtiger. Sie mochte weder Gewitter noch Regen, aber sie ließ sich auch nicht abhängen. Trotz seines verkürzten und schwachen Fußes lief Caspar los. Er tollte über den Platz, auf dem sich das Wasser Bald zwei Finger hoch sammelte, fing die Regentropfen mit der Zunge und schrie, um den Donner zu übertönen.
Jane rief ihn zu sich: „Die Blitze, Caspar!“
„Keine Sorge“, er deutete auf die hohen Türme, die die Burg und den Platz, auf dem sie sich hier befanden, weit überragten: „Sie werden dort zuerst einschlagen. Wir sind hier sicher, vertrau mir.“
Jane schien nicht völlig überzeugt. Das Gewitter wurde immer stärker. Schließlich trafen die ersten Hagelkörner auf Caspars ungeschützte Arme und sie retteten sich wieder in den Schutz des Treppenaufganges.
Caspar lachte. Kaltes Wasser lief ihm über das Gesicht, er zitterte ein wenig, aber er fühlte sich lebendig.
„In einer Burg gibt es immer auch Geheimgänge!“, rief er Jane zu. Der Donner draußen war auch in den Gängen noch ohrenbetäubend.
„Geheimgänge? Sollten wir nicht besser zurück?“, fragte Jane und zwirbelte nervös eine verfilzte Haarsträhne.
Caspar schüttelte den Kopf. Seine nassen Haare klatschten ihm auf die Stirn und verteilten kleine Wassertröpfchen in der Enge des Treppenaufstieges. Er kletterte die ersten Stufen hinunter und betastete die Wand: „Noch nicht.“
So nervös Jane auch war, die Aussicht auf weitere Hausaufgaben war wohl doch nicht so verlockend, dass sie zurückkehren wollte.
Caspar humpelte Stufe um Stufe nach unten, und endlich fand er einen Wandteppich, hinter dem er nur leeren Raum statt einer Wand erfühlte.
„Hier!“, rief er und tauchte unter dem schweren Vorhang hindurch.
Er stand in einer muffigen Dunkelheit, die nach Staub roch. Als Jane den Wandteppich anhob, fiel schwaches Licht in den Raum. Ein dramatischer Blitz beleuchtete die Eimer, Wischlappen und Tücher einer kleinen Abstellkammer.
Caspar verzog das Gesicht: „Egal, weiter!“
Sie wollten nicht wieder nach unten zurück. Als sie wieder bei dem Durchgang waren, wo die Treppe zu dem Gang mit der Bibliothek führte, flüsterte Caspar: „Wir schleichen uns auf die andere Seite, ja?“
Jane starrte ihn entgeistert an: „Dakuri könnte uns erwischen!“
„Wir sind einfach leise.“
Jane zögerte, dann nickte sie aber mit einem ergebenen Seufzen.
Sie schlichen über den düsteren, von gelegentlichen Blitzen flackernd erhellten Flur. Caspar warf einen kurzen Blick in das hell erleuchtete Zimmer, wo Dakuri über einigen Büchern brütete. Der alte Mann sah aus, als sei er vollkommen in seine Arbeit vertieft. Caspar legte an Jane gewandt einen Finger auf die Lippen und humpelte an der Tür vorbei. Sie folgte ihm. Es erklang kein wütender Schrei des alten Mannes, also huschten sie weiter.
Es gingen mehrere Zimmer von dem Flur ab. Caspar starrte durch die Türen, doch hinter den meisten lagen lange Reihen von Bücherregalen oder Lesezimmer mit Sesseln und Teppichen.
Keines der Zimmer interessierte ihn. Er folgte dem fernen Stampfen, dass ihm schon bei seinem ersten Besuch hier aufgefallen war. Über dem Donner konnte er die Geräusche der fernen Maschinen kaum hören. Aber je weiter er den Gang entlang humpelte, desto lauter wurde das Schnaufen und Dröhnen.
Bis sie endlich vor einer dicken Holztür standen, die mit mehreren Riegeln verschlossen war. Caspar warf einen Blick auf Jane, die zustimmend nickte.
Dann zog er den ersten Metallriegen zurück, denn zweiten, den dritten, vierten und den fünften. Schon ein wenig keuchend legte der beide Hände um den eisernen Griff und zog mit aller Kraft.
Die Tür bewegte sich ein winziges Stück, dann klemmte sie. Mit einem unterdrückten Stöhnen zerrte Caspar weiter, bis Jane ihn zur Seite dränge. Sie packte die Klinke, als wolle sie sie erwürgen. Die Muskeln auf ihren Armen spannten sich, als sie mit aller Kraft zog.
Ganz langsam glitt die Tür auf, bis der Spalt breit genug war, um die beiden Kinder hindurch zu lassen. Der Lärm war lauter als der Donner. Caspar konnte nur hoffen, dass Dakuri nichts bemerken würde. Er huschte in den warmen Raum dahinter, gefolgt von Jane, die die Tür wieder zu zog.
Der Maschinenraum – genau das war es – war warm, die Luft trocken. Der Donner wurde vollständig von den stampfenden Geräten übertönt, bis man glauben konnte, eine andere Welt betreten zu haben, einen dröhnenden Dschungeln nach dem kalten, kanadischen Sturm draußen.
Die Dunkelheit wurde von unzähligen Lichtern und Anzeigen erhellt. Die Maschinen waren riesig, wie der Antrieb eines großen Schiffes vielleicht oder der Innere einer großen Fabrik. Die unermüdlich stampfenden Füße waren fünf mal so groß wie Caspar. Mit staunend geöffnetem Mund schlichen die Kinder zwischen den Giganten herum.
„Was betreiben die hier bloß?“, fragte Caspar, aber seine Frage erreichte Jane nicht mehr. Das Mädchen aus der Steinzeit verlor sich völlig in dem Anblick der fremdartigen Wesen, die in dem gewaltigen Raum ihre Arbeit verrichteten.
Endlich bemerkte Caspar den schwachen Geruch nach Korn und folgte ihm weiter durch die Reihen der Maschinen. Er erhielt einen kurzen Blick auf ein Laufband in der Tiefe unter ihm. Die großen Maschinen stampfen darauf. Gelbliche Reste von Pflanzen glitten dort träge vorbei.
Am Ende diese Laufbandes fand Caspar eine gewaltige Vorratskammer, etwa zur Hälfte angefüllt mit goldenem Korn, unter einer Nebeldecke aus goldenem Staub. Der Geruch kitzelte in seiner Nase und ließ ihn nießen.
„Wow!“; sagte er. Das war fast so gut wie ein Geheimgang. Eine mittelalterliche – oder frühmoderne? – Fabrik. Hatten die Erwachsenen sie noch nicht gefunden? Oder hatten sie Caspar und Jane diesen Ort etwa verschwiegen? Warum nur?
Auf der Suche nach der Energiequelle für diesen Ort fand Caspar eine Tür, die ihn auf einem schmalen Balkon führte. Unter ihm drehten sich fünf große Wasserräder in der wilden See unter ihm. Die hochgetürmten Wellen trieben die Räder an, in die ein kleineres Kolosseum gepasst hätte.
Caspar verschlug der Anblick die Sprache. Das hatten wirklich Menschen gebaut?
„Wie?“, hauchte er ehrfürchtig. Einen Moment lang begann er ehrlich, an Götter zu glauben.
Dann besann er sich. Menschen hatten auch Pyramiden und gewaltige Türme gebaut. Das alles beruhte auf Physik, das hatte er in der Schule gelernt.
Er sah sich nach Jane um, die irgendwo im Inneren zurückgeblieben war.
Es blitze, und wie ein Blitz fuhr auch der Schreck durch Caspar. Wann genau hatte er Jane zuletzt gesehen? Seit sie den Maschinenraum betreten hatten, war sie hinter ihm zurückgeblieben.
Sein Herz raste und wie als Antwort auf seine Furcht hörte er über dem prasselnden Regen einen markerschütternden Schrei.
„Jane!“, brüllte er und rannte los, so schnell seine ungleichen Füße ihn nur trugen. Er hetzte ins Innere, preschte an den Maschinen vorbei und suchte in dem Halbdunkel nach Janes geduckter Gestalt.
Er fand sie am Ende des langgezogenen Raumes, kurz vor der Kornkammer. Sie war irgendwie in di Maschine geraten – Neugier, vermutete Caspar – und hing jetzt mit schreckensbleichem Gesicht in einer Lücke der massiven Metallstruktur, die wieder und wieder auf das leere Laufband unter ihnen stampfte.
„Jane!“, keuchte Caspar, als er sie erreichte. Ihr Gesicht war zu einer Maske des Terrors verzerrt.
„Wie bist du dahin gekommen?“, fragte er. Ein Sprung von zwei Metern trennte den Zaun von dem Stampfer, und während dieser zwei Meter ging es steil in die Tiefe.
„Hilfe!“, quiekte Jane über das Dröhnen.
Caspar unterdrückte einen Fluch, der ihm schon auf der Lippe lag. Wie sollte er das panische Mädchen nur in Sicherheit bekommen? Es gab nur einen Weg.
„Jane, du musst mir jetzt vertrauen“, schrie er über den Lärm der Maschinen hinweg und streckte die rechte Hand aus, während er sich weit über die Absperrung lehnte: „Spring!“
Jane starrte ihn an, als sei er wahnsinnig geworden. Sie biss sich auf die Lippe und schüttelte heftig den Kopf.
„Na los, spring!“, schrie Caspar und lehnte sich gefährlich weit vor.
Jane klammerte sich an das bockende Metall unter ihr.
„Du musst doch auch hin gesprungen sein!“, rief Caspar ihr zu: „Komm einfach wieder zurück!“
Er merkte, dass er bettelte. Er hatte furchtbare Angst um sie. Jetzt sah er auch, dass Blut über ihr Bein lief. An einer scharfen Kante hatte sie sich die Hose und die Haut aufgerissen. Caspar mochte den Anblick von Blut nicht. Ihm wurde schlecht, aber er streckte weiter die Hand aus: „Los, Jane! Spring!“
Sie sah ihn an. Ihre dunkelbraunen Augen erinnerten an ein Reh, wenn schon nicht der Rest ihrer Erscheinung. Langsam stand sie auf und bemühte sich, auf dem Maschinenarm das Gleichgewicht zu halten. Caspar streckte die Hand aus und wünschte sich, er könnte sie einfach packen und in Sicherheit zerren. Er sah, wie sie schwankte und wild mit den Armen ruderte. Sein Herz machte einen Satz, als würde er dort oben stehen.
„Jane, los!“; brüllte er.
Sie sprang. Doch im Abspringen rutschte sie mit den Füßen aus und glitt in die Tiefe. Ihre Hand verfehlte Caspars um beinahe einen halben Meter. Er sah in ihre weit aufgerissenen Augen, als sie auf das Laufband unter ihm stürzte. Benommen lag sie da und wurde weiter transportiert. Schon erhob sich der Fuß über ihr.
„Jane!“, schrie Caspar mit aller Kraft, die in seinen Lungen steckte.
Der Fuß prallte donnernd auf das Laufband, mit der Macht von Lawinen, die ins Tal stürzten.
Caspar konnte nur mit aufgerissenem Mund in die Tiefe starren.
Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ
„Hier bist du! Ich habe euch überall gesucht. Wo ist Jane? Caspar? Caspar!“
Doch ohne den aufgetauchten Dakuri zu beachten, humpelte Caspar zur Kornkammer. Eine Tür führte auf einer wackelige Treppe, und die führte in die Tiefe des Lagerraumes. Die Luft war pappig und trocken. Caspars Atem rasselte in seiner Brust, während er über die Körner eilte, dorthin, wo sich ein kleiner Berg am Ende des Laufbandes erhob.
Ein dunklerer Klumpen war diesen Berg hinab gerollt und lag nun in einem Nest aus Körnern, die der Stürzende mitgerissen hatte. Caspar rannte zu Jane.
Sie war bewusstlos, aber ihr Körper war nicht flach, wie er erwartet hätte. Sie atmete, jedoch nur ganz flach.
„Nein. Nein!“, flüsterte er leise. Blut lief in das goldene Korn, färbte es bräunlich. Jane war dem Stampfer entkommen, doch der Sturz von dem hohen Laufband auf nur einen geringen Haufen Korn hatte sie verletzt. Ganz zu schweigen von der Beinwunde, die schon vorher da gewesen war, und den Verletzungen von dem Sturz auf das Laufband. Als Caspar es nicht geschafft hatte, sie zu fangen.
Er rüttelte an Janes Schultern.
„Mach dich Augen auf, bitte!“, rief er ihr zu. Doch Jane rührte sich nicht und zeigte auch keine andere Reaktion.
Überrascht spürte Caspar eine Hand auf der Schulter. Dakuri war ihm gefolgt.
„Du musst handeln, rasch“, sagte der Alte und sein Griff um Caspars Schultern war fest wie ein Schraubstock.
„W-wa?“
„Du kannst sie retten, doch nur, wenn du dich beeilst“, zischte Dakuri: „Du musst ihre Zeit zurückdrehen!“
„Wie?“, platze es aus Caspar hervor. Er war verwirrt. Gab es noch Hoffnung für Jane? Aber was konnte er schon tun? Er war ein Nichts, ein Niemand!“
Dakuri beugte sich über ihn und sprach schnell: „Weißt du, wie du in den Strom der Zeit trittst?“
„Ich – theoretisch schon“, sagte Caspar, der erst vor wenigen Tagen alle Aufzeichnungen zu dem Thema verschlungen hatte.
„Berühre sie und dann tritt in den Strom der Zeit. Konzentriere dich ganz auf Jane. Dann musst du so viele Herzschläge rückwärts gehen, wie es braucht, um ihren Körper zu heilen.“
Caspar starrte den alten Mann mit offenem Mund an. Er hatte kaum die Hälfte von dem, was Dakuri ihm gesagt hatte, bewusst aufgenommen. Trotzdem fragte er nicht mehr nach. Er fasste Janes Hand mit der gesunden Rechten und schloss die Augen.
„Sieh das Licht, sieh das Licht“, murmelte er leise vor sich hin und kniff die Augen fest zusammen.
Dann sah er das Licht.
Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ
Im Strom der Zeit war es hell und still. Caspar schwebte vor sich hin, orientierungslos, nur erfüllt von dem goldenen Leuchten, das an Honig erinnerte. Es war wunderbar. Diesmal spürte er kein Ziehen im Bauch, denn Niemand zog ihn von diesem friedlichen Ort fort. Er hätte einschlafen können und für alle Zeiten weiter treiben, aber etwas nagte an seinem Bewusstsein.
Er merkte, dass er eine Hand umklammerte. Und dann merkte er, dass ein Mädchen an der Hand dran hing.
Jane hatte die Augen erschöpft einen Spalt geöffnet und sah ihn an. Sie trieb wie er durch das leuchtende Nichts.
„Ich bin so müde“, flüsterte sie.
Caspar drückte ihre Hand fester. Er erinnerte sich an Dakuris Worte.
„Herzschläge zurück.“
Er musste entgegen des Uhrzeigersinnes laufen. Jeder Schritt war ein Herzschlag. Caspar ging und zog Jane hinter sich her, obwohl seine Füße keinen Boden berührten. Er schwamm eher.
Nichts änderte sich. Er könnte genauso gut über ein Laufband rennen, immer weiter und weiter strampelnd, ohne von der Stelle zu kommen.
Denn die Zeit verging ja. Er musste schneller sein! Caspar strengte sich an. Und endlich funktionierte es.
Mit jedem Schritt wurde Janes Griff kräftiger. Er warf einen Blick zurück und sah, dass ein Teil der Wunden begann, sich zu schließen.
Irgendwann blieb nur noch die Wunde in ihrem Bein. Und auch da ging Caspar noch weiter, bis diese geschlossen war. Jane sah ihn an. Er hielt inne und sah zurück.
„Du hast mich gerettet!“
An diesem Ort wirkte ihre raue Stimme irgendwie nicht unpassend. Und genau in diesem Moment flog etwas vorbei, ein kleines, goldenes Insekt.
Ein Schmetterling. Für einen Moment tanzte er zwischen ihren Blicken, flatterte schneller als ein Gedanke um ihre Köpfe. Caspar konnte keine Einzelheiten erkennen, da war der Schmetterling schon wieder verschwunden.
Jane zog an seinem Arm: „Gehen wir.“
Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ
Bevor er sich in den Sessel ihnen gegenüber fallen ließ, schloss Liam die Tür hinter sich ab. Caspar und Jane hockten auf dem Boden, umringt von Notizen, Büchern und ihren Strafaufgaben, die sie abschließen mussten, bevor ihr Stubenarrest beendet werden konnte.
Liam ließ sich schwerfällig fallen. Ein wenig Staub wirbelte auf, obwohl Caspar und Jane das große Zimmer jeden Morgen sauber machen mussten.
„Heute erzähle ich euch etwas über die besondere Bindung der beiden Papilionis in einem Team“, erklärte Liam und sah vom Einem zum Anderen.
Caspar und Jane schwiegen. Sie waren viel zu müde von einem langen Tag des Lernens. Und ihre Aufgaben schienen nicht weniger werden zu wollen.
„Wie ihr wisst, tauchen Papilionis immer im Team auf“, erklärte Liam, „Und zwar im Sommer oder im Winter. Jedes Team wird irgendwann von einem Schmetterling erwählt. Es ist immer ein Paar der gleichen Gattung und sie werden euch euer Leben lang begleiten. Aber, wie ihr vor einigen Tagen festgestellt habt, als ihr auf Erkundungstour gegangen seid“, ein strenger Blick für sie beide, „die Schmetterlinge sind noch tiefer verbunden. Eure Schicksale sind verknüpft. Ihr merkt es, wenn der Andere in Gefahr ist und, was am Wichtigsten ist, ein Schmetterling kann die Uhr seines Teamkollegen zurückdrehen, um ihm das Leben zu retten. Das funktioniert nur, wenn ihr beide im gleichen Team seid, und auch nur, solange der andere noch lebt. Ihr dreht für den Körper die Zeit zurück, und die Verletzungen heilen. Das kostet, wie ihr ebenfalls gemerkt hat, Lebenszeit.“
Caspar kratze sich unwohl an seinem ersten Bart, den er jetzt regelmäßig trimmen musste. Ihr Aufenthalt im Storm der Zeit hatte sie äußerlich um etwa ein Jahr altern lassen. Dabei war es nur um eine halbe Stunde Zeit gegangen, die sie zurückgedreht hatten.
„Es kostet viel mehr Zeit als eine normale Reise im Strom der Zeit“, sagte Liam und lehnte sich ein Stück zurück: „Man kann das genauestens berechnen. Holt bitte Stift und Papier heraus.“
Aber wenigstens lebten sie noch, dachte Caspar, während er sich auf dem Boden liegend Notizen machte. Wenigstens lebten sie noch.